Aus dem 4. Teil der was wäre wenn-Reihe:
Was wäre, wenn öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?
Die Mobilität der Zukunft wird nicht nur von technischem Wandel geprägt, sondern auch von den getroffenen und unterlassenen Entscheidungen der Gegenwart beeinflusst. So mögen die Planung und der Bau von Infrastruktur mehrere Jahre dauern, die Nutzungsdauer und die daraus resultierende Wirkung ist jedoch auf mehrere Jahrzehnte angelegt. Es lohnt sich also, hinter heutige Strukturen zu blicken und dabei aktuelle Trends und Entwicklungen nicht aus dem Blick zu verlieren. Das Doppelinterview mit Prof. Heiner Monheim, deutscher Verkehrswissenschaftler und Geograph, und dem Zukunftsforscher Lars Thomsen, Gründer des Think Tanks Future Matters, soll beides leisten – eine Beschreibung der Gegenwart, aber auch ein Blick in die Zukunft der Mobilität. Eine Diskussion über die Perspektiven des öffentlichen Verkehrs in Deutschland, die Innovationskraft der Mobilitätsbranche, den oft vergessen Fußverkehr und den Wettbewerb zwischen Städten und Regionen um die höchste Lebensqualität.
Wie würden Sie den derzeitigen Zustand des öffentlichen Verkehrs bewerten?
Heiner Monheim: In Deutschland ist das deprimierend. Es wird zwar sehr viel Geld ausgegeben, aber der Verkehrsmarkt wird damit nur sehr unzureichend erreicht. Und wir haben nach wie vor eine Zweiteilung des Landes. Einmal in urbane Räume, wo ein mittelprächtiges Niveau von öffentlichem Verkehr erreicht wird und in ländliche Räume, wo der öffentliche Verkehr nur eine Restfunktion hat. So gesehen bleibt der öffentliche Verkehr in Deutschland weit unter seinen Möglichkeiten, das zeigt auch der internationale Vergleich. Wir haben eine unzureichende Systemqualität sowohl im Fernverkehr als auch im Nahverkehr. Es gibt andere Länder in Europa, wo alles sehr viel besser aufgestellt ist.
Lars Thomsen: Ich wohne und lebe ja in der Schweiz. Da sieht es tatsächlich ein bisschen besser aus. Die Nutzerzahlen und die Qualität des öffentlichen Verkehrs sind in der Schweiz wesentlich höher. Das hat mit der Qualität zu tun, das heißt Pünktlichkeit. Ich würde nie auf die Idee kommen, mit dem Auto von Zürich nach Bern zu fahren, weil die Bahn schneller ist. Sie ist pünktlich und ich stehe nicht im Stau. Wenn die Qualität des Produktes eine höhere Qualität bietet als die Alternative, dann werden Menschen das höherwertige Produkt wählen.
H. Monheim: Es gab gelegentlich systematische Angebotsvergleiche zwischen Deutschland und der Schweiz. Im ländlichen Raum in der Schweiz ist die Angebotsdichte ausgedrückt in Multiplikation der Zahl der Haltestellen mit der Taktfrequenz der Fahrten sechsmal größer als in Deutschland. Im urbanen Raum ist das Schweizer Angebot viermal größer als in Deutschland. Das zeigt erst einmal, dass eine gute Qualität und ein dichtes Angebot am Markt auch die adäquate Nachfrage findet. Das sieht man am besten am General-Abo. ÖPNV auf Vorrat für ein ganzes Jahr kauft man sich nur, wenn man dem System vertraut und weiß, das System bedient meine Wünsche adäquat.
„Fossile Automobilität ist bisher nicht adäquat bepreist.“
Könnte uns auch in Deutschland ein Bürgerticket, eine Nahverkehrsabgabe oder ein kostenloser ÖPNV helfen, den ÖPNV attraktiver zu machen?
H. Monheim: Es geht zunächst nicht um den Nulltarif, sondern um möglichst einfache Tarife und Flatrate-Logiken. Ich habe 1992 das Semesterticket in Nordrhein-Westfalen eingeführt. Das hat den Verkehrsmarkt bei den Studierenden massiv in Bewegung gebracht. Die Motorisierungsquote ist rasch von 40 Prozent auf 10 Prozent heruntergegangen, weil die ganzen Studenten gesagt haben, was brauche ich noch ein Auto, wenn ich mit dem öffentlichen Verkehr zu einem Flatrate-Preis fahren kann? Es geht darum, dass es sehr einfach sein muss und dass es Mobilität auf Vorrat ist. Statt mit Einzelfahrscheinen oder Wochenkarten zu hantieren, lege ich regelmäßig eine Art Bekenntnis zum öffentlichen Verkehr ab und kriege dafür eine Art General-Abo nach Schweizer Vorbild, aber nicht zu einem Prohibitivpreis.
Wie könnten wir so ein Bekenntnis zum ÖPNV organisieren?
H. Monheim: Es gibt eine wichtige Entscheidung: Soll das der klassische Nulltarif sein? Ich zahle nichts, ein jeder steigt einfach ein und jeder Bundesbürger darf alles benutzen? Komplett umsonst bringt zwei Probleme: Psychologisch entsteht der Eindruck eines Ramschprodukts und ökonomisch führt es zur Finanzierungsfrage. Die möchte ich aber noch einmal umdrehen, weil es auch damit zu tun hat, wie teuer Autofahren ist. Ich bin ein leidenschaftlicher Anhänger einer intelligenten Maut. Fossile Automobilität ist bisher nicht adäquat bepreist. Die Kraftstoffsteuer deckt die Kosten für die Infrastruktur und die Infrastrukturbenutzung bei Weitem nicht. Hätten wir jetzt intelligente Steuerungssysteme, könnten wir nach einer gewissen marktwirtschaftlichen Logik den Autoverkehr bepreisen: Jeder Kilometer, den ich fahre, kostet. Wir hätten gleichzeitig eine völlig neue Tarifpolitik im öffentlichen Verkehr, sodass sich die Gewichte zwischen diesen beiden Verkehrsarten ganz schnell wieder zugunsten des öffentlichen Verkehrs verschieben würden, weil der wesentlich günstiger ist. Wir müssen hier eine viel breitere Reformdebatte führen, aber am Ende muss rauskommen: Es muss wesentlich preiswerter werden, es muss wesentlich einfacher werden und der Zeitkarten-Nutzer muss der Normalfall werden.
L. Thomsen: Ich sehe das eher aus einer Nutzersicht. In Sachen Nulltarif bin ich auch der Meinung, dass Leistung etwas kosten muss, sonst ist sie nichts wert. Ich würde es besser finden, die Qualität des Produktes zu verbessern als den Preis stark zu senken. Öffentlicher Verkehr soll aber immer ein Anreiz enthalten, dass man damit günstiger unterwegs ist als mit wesentlich mehr Ressourcen verbrauchenden Alternativen. Ob das nun Energieressourcen, Platzressourcen oder Emissionsressourcen sind. Da ist noch einiges zu tun. Aus der Perspektive des Zukunftsforschers muss ich aber noch einmal darauf hinweisen, dass wir vor einem Umbruch stehen wie wir öffentlichen Verkehr, seine Rolle und auch die Erwartungen der Konsumenten an individuelle Mobilität zukünftig bewerten. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir lernen müssen, wann der öffentliche Verkehr fährt und hoffen, dass er pünktlich ist und so weiter. Es gab in der Vergangenheit eigentlich nur ein paar überschaubare Innovationen, insbesondere wenn man das mit anderen Branchen vergleicht. Wir stehen immer noch an einem Gleis und warten auf einen Zug wie vor hundert Jahren. Vielleicht haben wir heute eine digitale Anzeige dazu.
H. Monheim: Wenn der Takt gut ist wie In der Schweiz, dann warten wir natürlich nicht so lange. Gleiches gilt für Japan oder China, wo alle fünf Minuten etwas fährt. Das liegt nicht grundsätzlich am öffentlichen Verkehr, der kann das sehr viel besser, sondern das liegt an seinen Rahmenbedingungen. Er wird in Deutschland kaputtgespart und bietet daher eben nicht das, was man braucht, um das Publikum restlos zu überzeugen.
„Der öffentliche Verkehr hat auch eine soziale Funktion“
Welche Entwicklungsrichtung erwarten Sie, Herr Thomsen?
L. Thomsen: Worauf ich hinaus möchte, ist die Frage wie werden sich die Alternativen zum öffentlichen Verkehr in den nächsten Jahren entwickeln? Wird sich ein Konsument nach wie vor nach einem Fremdtakt richten und — ich will es jetzt mal sehr stark zuspitzen — zur richtigen Zeit das Haus verlassen, zu Fuß durch den Regen gehen, sich an eine Haltestelle stellen, warten bis das Verkehrsmittel da ist, dann 17 Mal an Punkten anhalten, wo man eigentlich gar nicht anhalten möchte, an der richtigen Haltestelle aussteigen und dann noch mal 300 Meter durch den Regen gehen, um dann irgendwann anzukommen? Wie wird sich der Konsument verhalten, wenn wir tatsächlich autonome Fahrzeuge haben, die auf Knopfdruck einen von der Tür abholen, dorthin bringen wo er möchte und der Preis nicht höher ist?
H. Monheim: Ich finde das zu klischeehaft. Ich glaube, dass der öffentliche Verkehr, da wo er gut ist, sehr kundennah ist. Dort laufen weniger als hundert Meter zur nächsten Haltestelle. Da sind die Dorfbusse, die Landbusse, die Stadtbusse. Wenn man will, geht das. Ich glaube, dass der Autismus in der Mobilität, immer nur Einzelpersonen im Blick zu haben, nicht unbedingt zielführend ist. Ich habe überhaupt nichts gegen eine Differenzierung und Individualisierung. Wenn der Mensch allein unterwegs sein will, soll er das tun. Aber der Mensch ist ein soziales Wesen und der öffentliche Verkehr hat nicht nur Transportfunktion, sondern auch eine soziale Funktion, eine Begegnungsfunktion. Das ist eine Bühne, auf der sich ganz viel abspielt. Und die Flächeneffizienzfrage ist eine ganz zentrale. Wenn wir nach dem Modell der total individualisierten Mobilität verfahren, dann haben wir Millionen und Abermillionen von Fahrzeugen, die unterwegs sind. Die brauchen Platz beim Rumstehen und beim Fahren und stehen im Stau. Die große Flächeneffizienz des Fußverkehrs, Radverkehrs und öffentlichen Verkehrs ist für mich ein ganz zentraler Punkt, weil wir dann in der Lage sind, kompakte Städte nach dem Leitbild der europäischen Stadt zu haben. Wenn wir nur individualisierte Mobilität mit Einzelfahrzeugen machen, haben wir weiter eine zersiedelte Welt. Dann verbrauchen wir endlos Flächen und haben nicht das, was wir gerne wiederhätten: Kompakte Städte mit engen Straßen, mit Gassen, mit belebten Plätzen, das geht dann alles nicht.
L. Thomsen: Der öffentliche Verkehr wird aber so oder so durch private Angebote und auch durch automatisierte individuelle Angebote in den nächsten Jahren enorm unter Zugzwang und unter Druck kommen. Es gibt keine beständigen Trends. Man kann nicht sagen, dass eine Technologie, die einmal da ist, auch die nächsten fünfzig oder hundert Jahre das Nonplusultra sein wird.
H. Monheim: Ich bin überhaupt nicht gegen neue Entwicklungen wie Ridesharing, Carsharing, autonomes Fahren. Der große Unterschied ist, dass wir in Deutschland ganz stark im öffentlichen Verkehr von Rationalisierern dominiert werden, die immer größere Fahrzeuge einsetzen möchten. Am besten packst du 600 Leute in ein Fahrzeug und dann kommt eine halbe Stunde lang nichts mehr. In der Schweiz ist z.B. der Fahrzeugtyp Minibus und Midibusse extrem weit verbreitet, weil das ÖPNV-Angebot an die jeweiligen Raum- und Siedlungsstrukturen angepasst wird. Das haben wir in Deutschland nicht. Das sind Fehlorientierungen auf der Managementebene und die haben dazu geführt, dass wir sehr erfolglos im öffentlichen Verkehr sind. Das Angebot ist einfach zu wenig differenziert.
„Es gibt einen Grund dafür, dass der Stau da ist.“
Gäbe es Konzepte und Möglichkeiten, wie man diese Flächenbedienung wiederherstellen kann?
L. Thomsen: Ich sehe in absehbarer Zukunft ein großes Potenzial von autonomen Fahrzeugen in dem Bereich.
H. Monheim: Zustimmung!
L. Thomsen: Wir sehen ja bereits heute erste Pilotprojekte. Die Formen, wie diese Fahrzeuge nachher aussehen werden, wird sehr unterschiedlich sein. Die große Frage, die sich mir stellt, ist, werden die Betreiber automatisierter Shuttledienste private Anbieter sein oder werden die öffentlichen Verkehrsbetriebe die Betreiber sein? Wenn wir den reinen Betriebskostenpreis eines solchen Shuttles verdreifachen, sprechen wir von Kosten für einen Kilometer von 30 Cent. Der Preis für einen zehn Kilometer Transport von Tür zu Tür läge bei drei Euro. Dafür kriegt man häufig nicht mal ein Busticket. Was ich ausdrücken möchte: Es ist unglaublich wichtig, dass wir diese Technologien sehr genau beobachten und uns gesellschaftlich entscheiden, wie wir mit denen umgehen. Ich würde sagen, gerade für den schlecht erschlossenen ländlichen Raum ergeben sich enorme Potenziale.
H. Monheim: Da sind wir uns im Prinzip einig. Das ist der kleinteilige Verkehr auf Strecken, wo am Tag vielleicht 200 Leute fahren. Unser Land ist aber trotzdem voll von Stau. Da stehen nicht 20 Autos herum, sondern Hunderttausende und Millionen Autos. Wir haben ein Massenproblem. Man muss sich ja nur morgens bei der Kindertagesstätte den Stau im Wendehammer angucken. Da fahren heute 200 Mütter ihre Kinder hin. Das wird nicht besser, wenn die mit 200 autonomen Autos dahinfahren. Am Ende ist das ja immer eine Frage nach einem effizienteren System. Und die Effizienz ist eben auch eine Flächeneffizienzfrage.
Wird öffentlicher Verkehr in Deutschland in naher Zukunft anders aussehen als heute?
H. Monheim: Ich bin sehr skeptisch, was die Innovationsfähigkeit der deutschen Industrie und des deutschen öffentlichen Verkehrs angeht. Am Beispiel der Elektromobilität kann man das ja sehr schön deutlich machen. Wir tüfteln da immer noch rum und schaffen es nicht, kritische Mengen bei Pkws hinzukriegen und beim ÖPNV ist das einfach eine Lachnummer. In China werden in einer mittleren Großstadt 2000 Elektrobusse von jetzt auf gleich eingesetzt und in Deutschland sind großstädtische Verkehrsunternehmen ganz stolz, wenn die ersten zehn Elektrobusse angeschafft sind. Wir haben eine Technologieverweigerung, weil es ganz lange eine innere Verweigerungshaltung gegenüber der Elektromobilität gab und ich fürchte, das wird beim autonomen Fahren ähnlich sein. Im Prinzip sehen die Akteure immer noch gar nicht ein, warum es denn überhaupt wichtig ist, in Zukunft den öffentlichen Verkehr zu haben. Sie sind über 40 Jahre verdorben vom Spardiktat und das hat dazu geführt, dass sie den öffentlichen Verkehr immer nur noch als Restangebot und nie als die Nummer eins in der Mobilität sehen wie es vor 100 Jahren einmal war. Damals hat er auch Gewinne gemacht.
L. Thomsen: Damals gab es auch keine Alternativen.
H. Monheim: In meiner Welt gibt es keine Autos mehr. Das Auto ist ein Auslaufmodell, weil es einfach nicht flächeneffizient organisiert werden kann.
L. Thomsen: Schaffen Sie es ab gegen den Willen der Bevölkerung oder mit dem Willen der Bevölkerung?
H. Monheim: Mit dem Willen der Bevölkerung. Es gibt eine große Sehnsucht nach schönen Städten, nach guten Plätzen, nach urbanem Leben und vor allem auch nach Sicherheit und nach sicherem Bewegen. Gucken Sie in den ADFC-Fahrradklimatest, in dem die Leute alle sagen “Lasst mich endlich wieder Fahrrad fahren. Ich will endlich sicher auf der Straße sein.“
L. Thomsen: Ich glaube nicht an diesen Konsens und dass das machbar ist. Jedenfalls nicht in unserer Lebenszeit. Das ist ein sehr idealistisches Bild von der Bequemlichkeit von Menschen. Fast alle Innovationen, die die Menschheit in der Vergangenheit gemacht hat, dienten einem einfachen Zweck: unser Leben einfacher, schöner, komfortabler, sicherer zu machen. Das heißt, Technologie hat sich immer dann durchgesetzt, wenn sie nicht etwas schlechter machte oder bzw. unser Leben verkompliziert hat, sondern vereinfacht hat.
H. Monheim: Aber das Auto hat sie schlechter gemacht! Wir stehen permanent im Stau.
L. Thomsen: Ich gebe Ihnen ja Recht auf der rationalen Ebene. Es gibt aber einen Grund dafür, dass der Stau da ist. Es scheint für viele Leute komfortabler zu sein, im Stau zu stehen als sich in die Bahn zu setzen.
Über Landeplätze auf Bahnhöfen
Könnte sich denn nicht das Verhalten der Verkehrsnutzer*innen aus Motiven des sozialen Fortschritts verändern?
L. Thomsen: Ich bin nicht so idealistisch unterwegs, dass ich sage, der Mensch ist ein Vernunftwesen. Es gibt eine große Bandbreite von individuellen Präferenzen auch beim Reisen. Der eine fährt gerne Fahrrad, der andere geht gerne zu Fuß, der dritte fährt gerne Auto. Natürlich gibt es über die Zeit Verschiebungen. Ich bin nur der Meinung, dass der Mensch ein gewisses Gen dafür hat, bequem zu sein. Wenn es eine Lösung gibt, die mich bequemer von A nach B bringt, ist er im Zweifelsfall sogar bereit, mehr Geld dafür auszugeben.
H. Monheim: Der Mensch ist ein Bewegungstier. Und deswegen ist es eine Illusion zu glauben, dass diese totale Unbeweglichkeit, die wir im Moment in unserer autistischen Mobilitätsgesellschaft haben, zukunftsfähig ist. Menschen gehen ins Fitnessstudio, fahren Fahrrad, gehen wandern. Es gibt eine Lust an Bewegung und es ist ganz entscheidend, ob aus dieser Lust etwas verkehrspolitisch Relevantes wird. Ob wir mit dem öffentlichen Raum anders umgehen oder ob wir weiter zulassen, dass der von 160 Millionen Stellplätzen in Deutschland blockiert ist, sodass es keine Bewegung gibt, weil überall Autos herumstehen.
L. Thomsen: Es geht doch vielmehr um die Frage, wie komfortabel oder schnell wir an unser Ziel kommen. Schauen wir doch noch einmal auf das Thema Innovationen. Es dreht sich um die Offenheit dafür wie wir mit neuer Technologie, die einfach da sein wird, umgehen. Beispiel: Die Schweizerischen Bundesbahnen SBB führen im Moment Gespräche mit Lilium Jet. Lilium baut eine kleine Passagierdrohne, die in circa fünf Jahren in der Lage sein wird, senkrecht zu starten und zu landen und Menschen 300 Kilometer weit zu befördern. Die SBB diskutieren darüber, ob sie Landeplätze auf ihren großen Bahnhöfen einrichten, damit die Reisenden einfach vom Zug in eine Drohne umsteigen können und jeden Punkt in der Schweiz ohne Stau erreichen können.
H. Monheim: Aber das ist doch utopisch. Millionen Schweizer in der Luft.
L. Thomsen: Nein, jeder hat doch heute die Möglichkeit zu entscheiden, ob er vom Bahnhof aus zu Fuß geht, mit dem Fahrrad, mit der Tram, mit einem Bus oder dem Taxi fährt. Jetzt kommt eine weitere Möglichkeit dazu.
H. Monheim: Aber diese Möglichkeit ist illusorisch, wenn sie die Flächen betrachten. Der Luftraum ja nicht unbegrenzt. Ich kann mir in einer Stadt hundert Drohnen noch vorstellen, aber keine 100.000 beispielsweise über Berlin. Wir müssen uns, wie so oft, fragen: Was ist der limitierende Faktor? Der limitierende Faktor ist immer und immer wieder der Raum, in dem diese verschiedenen konkurrierenden Ansprüche aufeinander treffen.
L. Thomsen: Wir haben über 40 Projekte in den letzten fünf Jahren gemacht, die sich genau mit diesem Themen beschäftigen. Diese autonomen Drohnen nehmen wesentlich weniger Verkehrsfläche ein, weil sie einen viel höheren Nutzungsgrad haben.
H. Monheim: Wir wollen Verkehrsprobleme lösen. In Deutschland unternehmen Menschen 2,7 Fahrten am Tag. Wie viele von diesen 82 Millionen Menschen mal 2,7 Fahrten sollen denn bitte mit Drohnen stattfinden?
L. Thomsen: Ein Hundertstel? Ich weiß das nicht, das wird die Zukunft zeigen. Nur eine generelle Sperrung gegen diese Technologie bringt nichts.
„Das werden unsere Kinder als verrückt betrachten.“
Fliegen ist energieintensiv. Um Klimaschutzziele im Verkehr erreichen zu können, müssen wir den Energieeinsatz im Verkehr sehr stark reduzieren, damit es einfacher ist auf regenerative Energiequellen umzusteigen. Müssen wir uns nicht vielleicht beschränken? Ein Flugtaxi wäre technisch möglich, wir würden es auch bezahlen, aber wir nutzen es doch nicht aus einem Verantwortungsgefühl heraus?
L. Thomsen: Regenerative Energie wird in ungefähr 800 Wochen die dominante Energieerzeugungsform für alle drei Sektoren weltweit sein. Wir haben mehr als genügend Potenzial, um die gesamte Energieversorgung auf der ganzen Welt auf regenerativen Ressourcen umzustellen. Große Energieversorger und Netzbetreiber gehen davon aus, dass wir 2035 in Europa eine Quote von erneuerbaren Energien von 250 Prozent des Bedarfs haben. Und der Energieverbrauch einer elektrischen Drohne wie Lilium ist niedrig. Die fliegt mit 85 Kilowattstunden 300 Kilometer weit. Das ist ungefähr so viel wie ein Elektroauto verbraucht. Es gibt also keine Beschränkung, die wir technisch oder energietechnisch haben. Das reden wir uns nur ein. Die Zukunft wird zeigen, wie stark Menschen noch der Versuchung erliegen, ihre Mobilität möglichst komfortabel und einfach zu gestalten. Einen Mobilitätsautismus sehe ich überhaupt nicht, sie können ihre Entscheidungen ja frei und vielfältig treffen.
H. Monheim: Sie sind aber an die Beschränkungen und Beschränktheit heutiger Realität gebunden. Und auch wie sich unsere Gesellschaft organisiert spielt eine ganz große Rolle. Im Alltag ist der Mensch nicht als singuläres Individuum unterwegs. Das ist ja nun der Grund, warum wir alle diese Verkehrsprobleme haben. Millionen und Abermillionen reihen sich täglich in den Stau ein, weil ihr Leben so organisiert ist, dass es zu sehr großen Strömen von A nach B kommt. Wir haben auch noch nicht viel über den Fuß- und Fahrradverkehr gesprochen, obwohl auch das eine Zukunft hat und die Marginalisierung dieser beiden Verkehrsarten in der Vergangenheit einfach ein Riesenfehler war. Die Qualität des öffentlichen Raumes ist ganz entscheidend dafür wie sich der Mensch im öffentlichen Raum verhält und es gibt eine große Sehnsucht nach Schönheit und nach gut gestalteten Außenräumen.
L. Thomsen: Da gebe ich Ihnen recht. Und es ist sogar noch mehr als das. Ich glaube, dass die großen Metropolregionen und Städte zunehmend in einen Wettbewerb untereinander um die beste Lebensqualität kommen. Wir haben den demografischen Wandel, wir haben eine Konkurrenz um Gewerbeansiedlungen und Fachkräfte. Es ist ein großer Unterschied, ob ich in einer Stadt die Vögel zwitschern höre oder ob ich enormen Stress wegen Lärm und anderen Emissionen habe.
H. Monheim: Aber wenn mein Vorgarten voller Autos oder Drohnen ist, die da abgestellt werden, dann habe ich dort kein Grün. Diesen Platz für Grün und öffentliche Räume können wir nur zurückerobern, wenn wir viel weniger Blech haben. Egal ob es vierrädriges Blech ist oder eine Drohne. Das ist alles Müll, der da rumsteht. Und wenn wir unsere Landschaft vermüllen, dann werden wir nicht mehr froh und glücklich. Das fängt die Gesellschaft allmählich an zu kapieren. Ein Porsche ist zwar schöner Müll, aber er ist Müll.
L. Thomsen: Ich glaube einfach nicht, dass wir eine homogene Gesellschaft haben. Genauso wie das ganz individuelle Lebenskonzepte gibt, wird es auch sehr individuelle Mobilitätskonzepte geben.
H. Monheim: Da bin ich bei Ihnen. Der eine geht langsam, der andere schneller. Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Wenn sie vor ihrer Haustüre treten, wie viele abgestellte Autos sehen Sie dann?
L. Thomsen: Schwierige Frage. Ich wohne in einem Haus mit mehreren Parteien. In der Garage stehen insgesamt acht Autos.
H. Monheim: Unterirdisch oder oberirdisch?
L. Thomsen: Unterirdisch.
H. Monheim: Sehen Sie, ein Großteil unserer Stadt hat das nicht. Weder die Innenstädte noch die Gründerzeitviertel haben Tiefgaragen. Also stehen die Autos dort alle auf dem Gehweg rum.
L. Thomsen: Ja, das ist verrückt. Das werden unsere Kinder als verrückt betrachten. Allein die Tatsache, dass man ein Auto kaufen, betreiben, versichern, mit Winter- und Sommerreifen ausstatten und dann jeden Tag auf Parkplatzsuche gehen muss. Das wird sich sicherlich ändern. Heute haben wir aber viele Menschen, für die individuelle Mobilität derzeit — trotz aller Widrigkeiten — nicht anders möglich ist. Sobald es eine Alternative wie automatisierte Fahrdienste gibt, wird es den individuellen Verkehr in den Städten weltweit enorm verändern.
H. Monheim: Da bin ich absolut bei Ihnen.
L. Thomsen: Der öffentliche Verkehr hat damit eine Herausforderung. Sobald es eine derartige Alternative gibt, wird sich jeder die Frage stellen, welche von den beiden Alternativen er nehmen möchte. Was ist günstiger, was ist komfortabler? Darum sage ich: Wir müssen den öffentlichen Verkehr enorm stärken, er braucht Geld, um diese Innovation mitmachen zu können.
“Die individuelle Innovationsbereitschaft ist sehr hoch.”
Was wären die verkehrspolitischen Weichenstellungen um dort hinzukommen?
H. Monheim: Die entscheidende Grundfrage im Verkehr ist immer, wofür gibt es wie viel Geld. Für den Fußverkehr müssen Sie lange suchen. Für Radschnellwege stehen jährlich 25 Millionen Euro bereit — ein Kilometer kostet im günstigsten Fall eine Million Euro. Wir brauchen davon 7.000 Kilometer. Im Jahr 2300 wird wahrscheinlich ein erstes Netz von Wegen wirklich realisiert sein. Das ist ein Witz. Logischerweise bedeutet doch Verkehrswende, wir hören auf ein wahnsinniges Geld in unsere Autostraßeninfrastruktur zu stecken. Wir geben im Moment massenhaft Geld für den sechsspurigen Ausbau von Autobahnen aus — was soll der Blödsinn? Wir wollen weniger Autos. Also brauchen wir doch eine Vollbremsung, was das bisherige Ausgabeverhalten der öffentlichen Haushalte für Verkehr angeht. Aber das ist eine Tabudiskussion mit dem Totschlagargument der Automobilindustrie. Die Innovationsbereitschaft dieses Hightech-Landes Deutschland ist im Mobilitätsbereich extrem gering. Die einzigen, die kreativ sind, sind vereinzelte Kommunen. Aber auch dort ist es immer noch eher die Ausnahme als die Regel.
L. Thomsen: Kann ich nur zustimmen. In Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten ein politisches Ungleichgewicht zwischen der Förderung der Autoindustrie als Leitindustrie mit den dortigen Arbeitsplätzen und dem öffentlichen Verkehr erzeugt worden. Man muss in komplexen Systemen denken können, um ein System aus Gesellschaft, Mobilität, Stadtentwicklung, Entwicklung des ländlichen Raumes in einen Kontext zu bringen, der wirklich funktioniert. Das ist hier in der Schweiz deutlich besser gelungen — sei es bei Förderung oder Innovation.
Wird die Welt der Mobilität in Zukunft eine bessere sein, sich nicht wirklich wandeln oder am Ende sogar schlechter, weil wir es nicht schaffen die übergeordneten Herausforderungen zu lösen?
L. Thomsen: Ich bin der Meinung, dass das Bessere des Guten Feind ist. Innovation ist tatsächlich ein Treiber, der Menschen anspornt, sich auf die Suche zu begeben, wie sie zum Beispiel ihre Mobilitätsbedürfnisse am besten bestreiten können. Ich glaube, es wäre gut einen Wettbewerb unter den Städten oder den Regionen um die besten Konzepte zu bekommen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir in den nächsten Jahren eine Reihe von Innovationen in der ganzen Welt sehen werden. Neue Konzepte aus Singapur, China oder Indien, die sich relativ schnell verbreiten werden. Wir leben nun mal in der globalisierten Welt. Ich hoffe, dass wir dann auch in der Lage sind, zu lernen und gute Konzepte von andernorts bei uns zu integrieren. Insofern bin ich schon eher auf der positiven Seite. Ich glaube nicht, dass unsere Mobilität in den nächsten Jahren unbedingt schlechter wird. Die Frage ist nur, ob Deutschland sich an die Spitze setzen kann oder ob wir die Nachzügler sind. Vielleicht sollte man einfach mehr Mut fordern, auch Dinge auszuprobieren.
H. Monheim: Das wäre schön. Unser Problem ist nicht die individuelle Innovationsbereitschaft, die ist sehr groß. Unser Problem ist, dass der Mobilitätsbereich ganz viel von öffentlichen Entscheidungen abhängt. Ich kann mir selber den Radweg nicht kaufen. Deswegen hängen wir in der ganzen Mobilitätspolitik entscheidend von der Innovationsfähigkeit der öffentlichen Systeme und in gewisser Weise auch der Wirtschaft ab. Wir hängen in der Mobilität entscheidend von rechtlichen Rahmenbedingungen und infrastrukturellen Randbedingungen ab, die die öffentliche Hand zu regeln hat. Und da ist meine Hoffnung doch sehr viel kleiner.
Interview
Heiner Monheim ist seit 2011 emeritierter Professor für angewandte Geographie, Raumentwicklung und Landesplanung. Seine Schwerpunkte sind Städtebau und Mobilität, insbesondere Fuß‑, Rad- und öffentlicher Verkehr. Er ist Mitbegründer des raumkom-Instituts für Raumentwicklung und Kommunikation.
Lars Thomsen ist ein weltweit gefragter Trend- und Zukunftsforscher. Er ist Gründer und Chief Futurist des Schweizer Think Tanks future matters, der Unternehmen, Institutionen und regierungsnahe Stellen berät. Seine Kerngebiete sind Energie, Mobilität und Smart Networks.
Was wäre, wenn…
… öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?
Im 4. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Personenverkehr. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alternativen für die Gesellschaft sichtbar zu machen und potenzielle Lösungen ins Zentrum zu rücken.
Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.
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