Gegen den Stau

Weni­ger Autos, ent­spann­te­re Metro­po­len, ein biss­chen bes­se­re Luft. Wis­sen­schaft­ler haben berech­net, wie sich Deutsch­land durch einen ÖPNV zum Null­ta­rif ver­än­dern wür­de — und müsste. Ein Beitrag von Martin Randelhoff.
Stau kostenlos nahverkehr
Aus dem 4. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?

In der est­ni­schen Haupt­stadt Tal­linn gibt es ihn, im fran­zö­si­schen Dün­kir­chen eben­falls: kos­ten­frei­en öffent­li­chen Per­so­nen­nah­ver­kehr (ÖPNV). Auch in Deutsch­land wer­den der­ar­ti­ge Model­le immer wie­der vor­ge­schla­gen und dis­ku­tiert, zuletzt ver­stärkt ange­sichts der Kli­ma­wan­del-Debat­ten. Sel­ten jedoch zie­len die Vor­schlä­ge dar­auf, neue Rege­lun­gen für das gan­ze Land oder sogar einen gan­zen Kon­ti­nent zu finden. 

Wis­sen­schaft­ler des Deut­schen Zen­trums für Luft- und Raum­fahrt (DLR) haben nun mit­hil­fe eines deutsch­land­wei­ten, jedoch jeweils auf regio­na­le Wege beschränk­ten Ver­kehrs­mo­dells die Wir­kung eines Null­ta­rifs unter­sucht. Wie ver­än­dert sich Ver­kehr in Städ­ten, wenn Fahr­ten bis zu einer Län­ge von 100 Kilo­me­tern nichts mehr kosten? 

Eine Preis­sen­kung hät­te zusätz­li­che Nach­fra­ge zur Fol­ge, die Kapa­zi­tä­ten im ÖPNV müss­ten daher mas­siv aus­ge­baut wer­den. In eini­gen Regio­nen Deutsch­lands wür­den die Qua­li­tät des öffent­li­chen Nah­ver­kehrs ohne Aus­bau auf­grund der höhe­ren Aus­las­tung stark sin­ken und zahl­rei­che Pro­ble­me auf­tre­ten. Bus­se und Bah­nen wären ins­be­son­de­re in den Mor­gen­stun­den über­füllt, wei­te­re U‑Bahnen und Züge könn­ten nur nach teu­ren Stre­cken­aus­bau­ten ein­ge­setzt wer­den, da auch die Stre­cken­ka­pa­zi­tät an ihr Limit gera­ten wür­de. Im Rah­men der Model­lie­rung wur­de daher davon aus­ge­gan­gen, dass die Kapa­zi­tä­ten der­art erwei­tert wer­den, dass in etwa die glei­che gefühl­te Ange­bots­qua­li­tät wie heu­te erreicht wird. Der zen­tra­le Unter­schied in dem Modell ist, dass die Fahr­ten nichts mehr kosten.

Mehr ÖPNV, weni­ger Autos

Die Model­lie­rung ergab, dass der Anteil des ÖPNV am gesam­ten Ver­kehrs­auf­kom­men von der­zeit 9 Pro­zent auf 14 Pro­zent stei­gen wür­de. Dies ent­spricht zusätz­li­chen 5,5 Mil­li­ar­den Fahr­ten, die inner­halb eines Jah­res mit Bus­sen, Zügen und Stra­ßen­bah­nen unter­nom­men wür­den, ein stei­ler Anstieg von 66 Pro­zent. Das wür­de zugleich eine deut­li­che Ent­las­tung des Stra­ßen­ver­kehrs bedeu­ten. Etwa zwei Drit­tel der 5,5 Mil­li­ar­den Fahr­ten wären ansons­ten mit dem Pkw unter­nom­men wor­den, das rest­li­che Drit­tel zu Fuß gegan­gen oder mit dem Fahr­rad gefah­ren wor­den. Dabei kon­zen­triert sich die Unter­su­chung auf die Ver­tei­lung der gege­be­nen Fahr­ten. Ob durch die Kos­ten­frei­heit grund­sätz­lich mehr Ver­kehr ent­stün­de, die Men­schen also Wege machen, die sie sich der­zeit spa­ren, wur­de nicht untersucht.

Die durch­schnitt­li­che Fahrt­län­ge wüch­se um 14 Pro­zent, da ins­be­son­de­re län­ge­re Pkw-Fahr­ten nun mit dem güns­ti­ge­ren, da kos­ten­frei­en öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln unter­nom­men wür­den. Um die Wir­kung eines Null­ta­rifs auf den Per­so­nen­ver­kehr bis 100 Kilo­me­ter Distanz bewer­ten zu kön­nen, betrach­tet man die soge­nann­te Ver­kehrs­leis­tung. Die­se wird in Per­so­nen­ki­lo­me­tern aus­ge­drückt, also der Fra­ge, wie vie­le Men­schen inner­halb eines Jah­res wie vie­le Kilo­me­ter ins­ge­samt bzw. mit den ein­zel­nen Ver­kehrs­ar­ten zurück­le­gen. Hier­bei sind Per­so­nen­ki­lo­me­ter nicht mit Fahr­zeug­ki­lo­me­tern gleich­zu­set­zen. Ob eine Per­son 100 Kilo­me­ter zurück­legt, 100 Per­so­nen einen Kilo­me­ter oder 17 Per­so­nen je 5,9 Kilo­me­ter, am Ende gehen jeweils 100 Per­so­nen­ki­lo­me­ter in die Sta­tis­tik ein. Durch einen Null­ta­rif stie­ge die Ver­kehrs­leis­tung im Per­so­nen­ver­kehr um acht Pro­zent auf 802 Mil­li­ar­den Per­so­nen­ki­lo­me­ter. Die Ursa­che für die­sen Anstieg liegt ins­be­son­de­re in den zusätz­li­chen 5,5 Mil­li­ar­den Fahr­ten, die mit Bus und Bahn gefah­ren wür­den, und ande­ren Zie­len, die erreicht wer­den wol­len. Ins­ge­samt wür­de sich die Beför­de­rungs­leis­tung des ÖPNV nahe­zu ver­dop­peln. Sie steigt um 89 Pro­zent von 115 Mil­li­ar­den auf 217 Mil­li­ar­den Personenkilometer. 

Öko­lo­gisch weni­ger effektiv

Durch die Ver­la­ge­rung vom Pkw auf den ÖPNV wer­den pro Jahr etwa 30 Mil­li­ar­den Kilo­me­ter weni­ger mit Pkw gefah­ren. Die­se Reduk­ti­on ver­teilt sich jedoch nicht gleich­mä­ßig auf alle Tei­le Deutsch­lands, son­dern vor allem auf die Städ­te und Regio­nen mit einer hohen Bevöl­ke­rungs­dich­te. In deut­schen Groß­städ­ten wür­den durch die Ein­füh­rung eines Null­ta­rifs etwa 10 Mil­li­ar­den Fahr­zeug­ki­lo­me­ter weni­ger gefah­ren wer­den. Ein Drit­tel des ein­ge­spar­ten Auto­ver­kehrs wür­de sich also in den Bal­lungs­räu­men erge­ben. In den von Fahr­ver­bo­ten bedroh­ten Groß­städ­ten ent­sprä­che das einem Rück­gang des loka­len Pkw-Ver­kehrs um 9 Pro­zent. Beim loka­len Stra­ßen­ver­kehr, der zudem auch den Güter­ver­kehr umfasst, wären es sechs Pro­zent weniger. 

Die Wis­sen­schaft­ler des DLR kom­men daher zu dem Ergeb­nis, dass die Ein­füh­rung eines Null­ta­rifs eine posi­ti­ve Wir­kung auf den Stadt­ver­kehr und in gerin­ge­rem Maße auch auf die Emis­si­ons­be­las­tung der Bevöl­ke­rung hät­te, dies jedoch mit einem sehr hohen Finanz­be­darf und einem sub­stan­ti­el­len Aus­bau des ÖPNV ein­her­ge­hen müss­te. Ins­be­son­de­re im Kon­text der Dis­kus­si­on um sau­be­re Luft und die Ein­hal­tung der Grenz­wer­te kon­sta­tie­ren sie, dass die mode­ra­te Reduk­ti­on der Fahr­leis­tung des Pkw-Ver­kehrs eher gerin­ge Rück­gän­ge der städ­ti­schen NO2-Emis­sio­nen erwar­ten lässt, also jener Stick­stoff­wer­te, die im Zuge der Die­sel­af­fä­re rege dis­ku­tiert wurden. 

Über das Modell hinaus

Dass die Emis­si­ons­ein­spa­rung hin­ter den Ver­schie­bun­gen in der Wahl der Ver­kehrs­mit­tel zurück­bleibt, hängt unter ande­rem damit zusam­men, dass in einem Auto meh­re­re Per­so­nen unter­wegs sein kön­nen. So spart der Umstieg von fünf Per­so­nen von Pkw auf ÖPNV zwar fünf per­sön­li­che Fahr­ten ein, jedoch nur eine Fahrt des Wagens, wenn die­se Per­so­nen sich eben die­se Fahrt geteilt hät­ten. Laut einer in die­sem Früh­jahr erschie­nen Stu­die des Bun­des­ver­kehrs­mi­nis­te­ri­ums befin­den sich im Schnitt 1,5 Per­so­nen in einem Auto. Ent­spre­chend wei­chen die auf die Per­so­nen und auf die beweg­ten Gefähr­te bezo­ge­nen Zah­len von­ein­an­der ab.

Schwer zu kal­ku­lie­ren und damit in dem Modell unbe­rück­sich­tigt blei­ben aller­dings auch die sich anschlie­ßen­den Effek­te. Wird der gerin­ge­re Auto­ver­kehr das Rad­fah­ren attrak­ti­ver machen und damit zu einer wei­te­ren Ver­schie­bung zwi­schen den Mobi­li­täts­trä­gern füh­ren? Wie ver­schie­ben sich die poli­ti­schen Hand­lungs­be­din­gun­gen, wenn die Bedeu­tung von Autos in Groß­städ­ten abnimmt? Dar­über hin­aus rech­net das Modell tat­säch­lich nur Stre­cken bis 100 Kilo­me­ter. An einer Anpas­sung für bun­des­wei­te Stre­cken arbei­tet das Team noch. Doch zeigt bereits die vor­lie­gen­de Stu­die, dass ein Null­ta­rif zur Ver­bes­se­rung der Luft­qua­li­tät nur ein Bei­trag unter ver­schie­de­nen Maß­nah­men sein kann. Unge­mes­sen bleibt frei­lich, was der Rück­gang des Indi­vi­du­al­ver­kehrs dar­über hin­aus bedeu­tet, wenn Mobi­li­tät ein öffent­li­ches Gut ist, dass jeder und jedem zur Ver­fü­gung steht und vor­mals für den Ver­kehrs blo­ckier­te Flä­chen frei wer­den, die Räu­me für neue Ide­en öffnen. 


Autor*in

Mar­tin Ran­del­hoff ist Her­aus­ge­ber des Blogs Zukunft Mobi­li­tät. Stu­di­um der Raum­pla­nung an der TU Dort­mund, sowie der Ver­kehrs­wirt­schaft an der TU Dres­den. Sei­ne beson­de­res Inter­es­se gilt inno­va­ti­ven Kon­zep­ten zur zukunfts­fä­hi­gen Lösung der Her­aus­for­de­run­gen in den Berei­chen urba­ne Mobi­li­tät, Ver­kehr im länd­li­chen Raum, Wir­kung auto­no­mer Fahr­zeug­sys­te­me und nach­hal­ti­ger Verkehrskonzepte. 

Was wäre, wenn…

… öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?

Im 4. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Personenverkehr. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

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