Nutzen als das neue Besitzen

Die Mobi­li­tät befin­det sich im Umbruch, so viel ist sicher. Doch obwohl tech­nisch vie­les für das Ende des Pri­vat­au­tos spricht, braucht ein ech­ter Pfad­wech­sel poli­ti­schen Willen. Ein Text von Weert Canzler.
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Aus dem 4. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?

Schau­en wir ein­mal auf den Auto­ver­kehr in unse­ren Brei­ten: Das pri­va­te Auto hat vor allem in gro­ßen Städ­ten sei­ne lan­ge unhin­ter­frag­te Vor­macht­stel­lung ein­ge­büßt. Es ist Opfer sei­nes eige­nen Erfol­ges gewor­den. Park­platz­su­che sowie Staus und sto­cken­der Ver­kehr ver­mie­sen die Auto­nut­zung. Der Öffent­li­che Ver­kehr, Taxen und nicht zuletzt das Fahr­rad wer­den zu attrak­ti­ven Alter­na­ti­ven. Der moder­ne Groß­städ­ter ist zuneh­mend fle­xi­bel, mit wech­seln­den Ver­kehrs­mit­teln – oder wie es die Mobi­li­täts­for­schung nennt: mul­ti­modal – unterwegs. 

Gleich­zei­tig ist es aus Grün­den des Kli­ma­schut­zes nötig, den Ver­kehr zu dekar­bo­ni­sie­ren. Doch will man den knap­pen Raum in den Städ­ten nicht den Autos über­las­sen und will man die Auf­ent­halts­qua­li­tät gera­de in der wach­sen­den Stadt ver­bes­sern, bedarf es der umfas­sen­de­ren Ver­kehrs­wen­de. Nach Lage der Din­ge bedeu­tet das zum einen ein Umstei­gen auf kli­ma­freund­li­che Ver­kehrs­mit­tel, also auf das Zufuß­ge­hen, das Rad­fah­ren und auf die ver­stärk­te Nut­zung von Bus­sen und Bah­nen. Zum ande­ren geht es künf­tig dort, wo wir moto­ri­siert unter­wegs sind, nur noch elek­trisch vor­an, auf der Grund­la­ge erneu­er­ba­rer Ener­gi­en. Schließ­lich bedeu­tet die Ver­kehrs­wen­de eine Abkehr vom Pri­vat­au­to und eine effi­zi­en­te Nut­zung von Fahr­zeu­gen über Sharing­an­ge­bo­te – sei es Car­sha­ring, das Tei­len von Fahr­zeu­gen, oder auch Ridesha­ring, das Tei­len von Fahr­ten in Fahrgemeinschaften. 

Das Zau­ber­wort, in dem all dies zusam­men­läuft, lau­tet: inter­mo­da­le Mobi­li­tät. Das klingt sehr abs­trakt, büro­kra­tisch, blut­leer. Und doch ver­birgt sich dahin­ter ein revo­lu­tio­nä­res Prin­zip, näm­lich alle mög­li­chen Ver­kehrs­an­ge­bo­te mit­ein­an­der zu kom­bi­nie­ren – je nach Zweck und Ver­füg­bar­keit. Das heißt zugleich, dass uns die genutz­ten Ver­kehrs­mit­tel in aller Regel nicht gehö­ren. Wir nut­zen sie, statt sie zu besitzen.

„Nut­zen statt Besit­zen“- völ­lig normal?

Die höchs­ten Hür­den für die Rea­li­sie­rung inter­mo­da­ler Mobi­li­täts­kon­zep­te sind weni­ger tech­ni­scher und wirt­schaft­li­cher als viel­mehr kul­tu­rel­ler Art. Es sieht so aus, als dass das kol­lek­ti­ve Auto­tei­len aus der Nische kom­men kann. Als sozia­le Pra­xis in der Umwelt­be­we­gung ent­stan­den, hat es mitt­ler­wei­le vie­le Kin­der­krank­hei­ten über­wun­den und ein – mehr oder weni­ger – pro­fes­sio­nel­les Niveau erreicht. Das sta­tio­nä­re Car­sha­ring in Form der klas­si­schen Miet­au­tos wur­de um ein fle­xi­bles Kurz­zeit­ver­miet­ge­schäft ergänzt, das längst die über­schau­ba­re Welt der Stadt­teil­grup­pen oder idea­lis­tisch moti­vier­ten, orga­ni­sier­ten Auto­tei­le­rin­nen ver­las­sen hat. Mitt­ler­wei­le wird auch das Ride-Sharing, also das gemein­sa­me Fah­ren und damit eine effi­zi­en­te Nut­zung vor­han­de­ner Sitz­plät­ze, gera­de für jun­ge Städ­ter zuneh­mend attraktiv. 

Doch sind die Nut­ze­rin­nen und Nut­zer tat­säch­lich bereit für eine neue inter­mo­da­le Mobi­li­tät? Schließ­lich galt das pri­va­te Auto lan­ge Zeit als Inbe­griff des moder­nen Lebens und als Aus­druck für Wohl­stand und sozia­len Auf­stieg. Es gab vie­le Hin­wei­se auf eine star­ke emo­tio­na­le Affi­ni­tät zum Auto. Unse­re ​„Lie­be zum Auto­mo­bil“, so ein spre­chen­der Buch­ti­tel von Wolf­gang Sachs von 1974, zeig­te sich gera­de in Deutsch­land in viel­fäl­ti­gen kul­tu­rel­len Prak­ti­ken. Man erin­ne­re sich an das ritu­el­le Auto­wa­schen am Sams­tag­nach­mit­tag. Sie fand eine umfas­sen­de media­le Reprä­sen­ta­ti­on und die Auto­in­dus­trie wur­de zu einer star­ken öko­no­mi­schen und poli­ti­schen Macht. 

Die Mas­sen­mo­to­ri­sie­rung in Deutsch­land kam gegen­über den USA zwar ver­spä­tet, sie wur­de jedoch seit Mit­te der 1950er Jah­re poli­tisch mas­siv geför­dert. Für die bun­des­deut­sche Mit­tel­schichts­ge­sell­schaft war sie wesent­li­cher Bestand­teil eines Modells vom ​„gelin­gen­den Leben“. Der Kon­sens dar­über war breit, er umfass­te alle Par­tei­en und reich­te von den Wirt­schafts­ver­bän­den über die Gewerk­schaf­ten bis zu den Mas­sen­me­di­en. Eine auto­skep­ti­sche oder gar ‑feind­li­che Stim­mung gab es nicht. Erst mit den Belas­tun­gen für die Umwelt und für die unter einem über­bor­den­den Auto­ver­kehr lei­den­den Bal­lungs­räu­me begann der brei­te Kon­sens zu brö­ckeln. Den­noch stie­gen – und stei­gen – die Zulas­sungs­zah­len. Grund­sätz­lich bie­tet das pri­va­te Auto ein Maß an ​„Eigen­raum und Eigen­zeit“, wie es der Ver­kehrs­so­zio­lo­ge Andre­as Knie for­mu­liert, das gera­de in indi­vi­dua­li­sier­ten Gesell­schaf­ten wie der unse­ren hoch geschätzt wur­de und wird.

Doch unter­gräbt die Voll­mo­to­ri­sie­rung alle Exklu­si­vi­täts­ver­spre­chen. Laut Kraft­fahrt­bun­des­amt roll­ten zum 1. Janu­ar 2019 rund 47 Mio. Pkw über deut­sche Stra­ßen. Wegen der hohen Auto­ver­füg­bar­keit ist der Reiz des Beson­de­ren abhan­den­ge­kom­men. Das pri­va­te Auto als Pres­ti­ge­ob­jekt hat außer­dem längst Kon­kur­renz erhal­ten. Bei den jun­gen Städ­tern haben das neu­es­te Smart­pho­ne und die ange­sag­te Städ­te­rei­se längst ein min­des­tens so hohes Pres­ti­ge­po­ten­zi­al wie ein eige­nes Auto. Auch bei den Ein­stel­lun­gen zeigt sich immer mehr, dass eine För­de­rung der stadt- und umwelt­freund­li­chen Ver­kehrs­ar­ten und umge­kehrt auch Beschrän­kun­gen für den pri­va­ten Auto­ver­kehr zuneh­mend Unter­stüt­zung finden.

Nach dem Kipppunkt

Ein Aus­bruch der geteil­ten und elek­tri­fi­zier­ten Mobi­li­tät aus der Nische käme jedoch einem revo­lu­tio­nä­ren Pfad­wech­sel im Auto­mo­bil­bau und einer Abkehr vom Prin­zip des Uni­ver­salau­tos als ein Gefährt für alle Even­tua­li­tä­ten mit dem Ver­bren­nungs­mo­tor als sei­nem tech­ni­schen Kern gleich. Erschwe­rend kommt hin­zu, dass das Mus­ter der suk­zes­si­ven Leis­tungs­er­hö­hung, das in der Ent­wick­lung der Auto­mo­del­le seit Jahr­zehn­ten durch­schlägt, offen­bar in die ​„men­ta­len Infra­struk­tu­ren“, den Gewohn­hei­ten und Erwar­tun­gen sowohl der Ent­wick­ler als auch der Nut­zer von Autos ein­ge­schrie­ben ist.

Für das mul­ti- und inter­mo­da­le E‑Mo­bi­li­ty-Kon­zept spre­chen den­noch ganz prag­ma­ti­sche Grün­de und Vie­les ist tech­nik­ge­trie­ben. Zwar ist die Umset­zung höchst ambi­tio­niert. Unter­schied­li­che Orga­ni­sa­ti­ons­kul­tu­ren müs­sen eng zusam­men­ar­bei­ten. Trä­ger­kon­stel­la­tio­nen sind nötig, für die es kei­ne Vor­bil­der gibt. Der Para­dig­men­wech­sel berührt nicht zuletzt auch die Wert­schöp­fung in der Auto­mo­bil­bran­che. Für die Auto­her­stel­ler ver­la­gert sich die Wert­schöp­fung von der Pro­duk­ti­on von Auto­mo­bi­len und ihrer Finan­zie­rung hin zu umfas­sen­den Mobi­li­täts­dienst­leis­tun­gen und die­se Ver­än­de­run­gen betref­fen letzt­lich den Iden­ti­täts­kern der Branche.

Es ste­hen dem aber eine Viel­zahl von Vor­tei­len gegen­über. E‑Fahrzeuge las­sen sich im Flot­ten­be­trieb ein­fach und zuver­läs­sig war­ten und ver­wal­ten. Die Bat­te­ri­en der E‑Mobile lie­ßen sich zudem als Spei­cher für über­schüs­si­gen rege­ne­ra­ti­ven Strom nut­zen. Dazu kommt die Digi­ta­li­sie­rung, die ja vor dem Ver­kehr nicht halt­macht. Das über Apps ver­mit­tel­te Tei­len von Fahr­zeu­gen und auch von Fahr­ten war noch nie so ein­fach. Die per­sön­li­che Digi­ta­li­sie­rung ist in den jün­ge­ren Genera­tio­nen fast total, der All­tag wird umfas­send digi­tal gema­nagt, auch der Ver­kehr. Zumin­dest dort, wo es nicht nur das Pri­vat­au­to gibt, son­dern wo sich tat­säch­lich ver­schie­de­ne Ange­bo­te aus­wäh­len und kom­bi­nie­ren lassen.

Kein Selbst­läu­fer

Auch wenn man es kaum glau­ben mag: Die Bedin­gun­gen sind zumin­dest in den Städ­ten im Prin­zip gege­ben, dass ein Kipp­punkt erreicht wird. Der Abschied vom pri­va­ten Auto ist mög­lich. Für die­sen Fall stün­de nicht nur das Ver­kehrs­ver­hal­ten selbst vor einem Umbruch. Das pri­va­te Auto zu nut­zen, wür­de zum Min­der­hei­ten­phä­no­men. Das wür­de bedeu­ten, dass es schnell ​„uncool“ wäre, auf das ​„eige­ne Auto“ zu set­zen. Gleich­zei­tig brä­che die Legi­ti­ma­ti­on weg, das rie­si­ge Stra­ßen­netz und die gigan­ti­schen Park­flä­chen vor­zu­hal­ten. Der Rück­bau von Auto­stra­ßen und Park­plät­zen wür­de zum ver­kehrs­po­li­ti­schen Stan­dard­pro­gramm für die Kom­mu­nen und der Bund wür­de einen ​„Bun­des­stra­ßen­um­wid­mungs­wett­be­werb“ star­ten. Nicht nur das: Ein Wett­lauf wür­de star­ten, mög­lichst schnell das Image der ​„auto­ge­rech­ten Stadt“ loszuwerden. 

Auf dem Land sähe die Sache anders aus. Dort wür­de wohl nur der Ver­bren­nungs­mo­tor geäch­tet, mit dem man in kei­ne Stadt mehr hin­ein­kommt, selbst wenn man noch so vie­le Mit­fahr­ge­le­gen­hei­ten anbie­tet. Das Pri­vat­au­to selbst wäre wohl zunächst nicht in aku­ter Gefahr. Dafür bräch­te es wohl erst auto­nom fah­ren­de Robo­ta­xis, die aber- wenn über­haupt – erst in Jahr­zehn­ten kommen. 

Die Kipp­punkt-Meta­pher trügt jedoch: Eine Ver­kehrs­wen­de und der Abschied vom pri­va­ten Auto sind kei­ne Selbst­läu­fer. Auch das Prin­zip ​„Nut­zen statt Besit­zen“ setzt sich nicht des­halb durch, weil es tech­nisch leich­ter denn je umsetz­bar und öko­no­misch vor­teil­haft ist. Alter­na­ti­ve Fahr­zeug- und Antriebs­kon­zep­te und erst recht inter­mo­da­le Mobi­li­täts­an­ge­bo­te wer­den in städ­ti­schen Räu­men zukünf­tig nur dann eine wich­ti­ge Rol­le spie­len, wenn die Bedin­gun­gen dafür geschaf­fen werden. 

Dazu gehö­ren attrak­ti­ve Pro­duk­te auf der einen und Restrik­tio­nen für den kon­ven­tio­nel­len pri­va­ten Auto­ver­kehr auf der ande­ren Sei­te. Ohne Beschrän­kun­gen für den pri­va­ten Auto­ver­kehr geht es nicht, die Bereit­schaft dafür ist umso höher, des­to bes­ser die Alter­na­ti­ven sind. Eines ist aber auch klar: wer­den die Vor­tei­le einer inter­mo­da­len Ver­kehrs­wirk­lich­keit mit viel weni­ger Autos auf den Stra­ßen und Park­flä­chen und mit viel mehr Platz für das Rad, das Zufuß­ge­hen und für spie­len­de Kin­der – und Erwach­se­ne – offen­sicht­lich, will die­sen Fort­schritt nie­mand mehr mis­sen. Der Erfolg för­dert den Erfolg, doch den Erfolg muss man wollen.


Autor*in

Dr. Weert Canz­ler arbei­tet am Wis­sen­schafts­zen­trum Ber­lin für Sozi­al­for­schung (WZB) und lei­tet dort die ​„Pro­jekt­grup­pe Mobi­li­tät“. Er forscht zu den The­men Inno­va­tions- und Technologie‑, sowie zur Ener­gie­po­li­tik. Zuletzt erschien von ihm ​„Erlo­sche­ne Lie­be? Das Auto in der Ver­kehrs­wen­de“ (tran­script). [Foto: D. Ausserhofer]

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