“Wir brauchen Utopien in der Politik”

Als Pira­ten-Abge­ord­ne­ter ver­such­te Oli­ver Bay­er den fahr­schein­frei­en ÖPNV vor­an­zu­brin­gen. Kei­ne leich­te Auf­ga­be. Zumal ihm in den Gre­mi­en fast nur Autofahrer*innen begegneten. Ein Interview geführt von Lukas Hermsmeier.
Nahverkehr kostenlos
Aus dem 4. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?

Sie saßen von 2012 bis 2017 für die Pira­ten im Land­tag von Nord­rhein-West­fa­len und haben in die­ser Zeit ver­sucht, das ÖPNV-Sys­tem zu revo­lu­tio­nie­ren. Wie­so ist das The­ma Nah­ver­kehr für Ihre Par­tei eigent­lich so zentral?

Es passt gut ins gro­ße Gan­ze, es passt zur unse­rer Phi­lo­so­phie. Wenn sich Gesell­schaft durch Tech­no­lo­gi­en ver­än­dert, sollt es ja dar­um gehen, dass alle von die­sen Tech­no­lo­gi­en pro­fi­tie­ren. Es geht uns nicht um die indi­vi­du­el­le Frei­heit nur von Leu­ten, die Geld haben. 

Die Pira­ten spra­chen zu Beginn von ​„kos­ten­lo­sem Nah­ver­kehr“, irgend­wann dann von ​„fahr­schein­frei­em Nah­ver­kehr“. Wes­halb die­se Korrektur?

Bei der For­de­rung nach kos­ten­lo­sem Nah­ver­kehr hört man immer zuerst: Wer soll das bezah­len? Und tat­säch­lich muss es ja auch jemand bezah­len. Also sind wir dazu über­ge­gan­gen, von fahr­schein­frei­em Nah­ver­kehr zu spre­chen. Um zu zei­gen, dass es zwar etwas kos­tet, aber anders funk­tio­niert und man kei­ne blö­den Tickets mehr braucht.

Wie wird der fahr­schein­freie Nah­ver­kehr nach Ihrem Modell denn finanziert?

Wir wol­len eine Umla­ge­fi­nan­zie­rung. Das heißt: Jeder zahlt. Es wür­de wie eine Gebühr funk­tio­nie­ren, ähn­lich wie die Müll­ge­bühr. Nach unse­ren Rech­nun­gen könn­ten es in Nord­rhein-West­fa­len 30 Euro pro Per­son und Monat sein. Kin­der und Men­schen, die wenig Geld haben, wären von die­ser Gebühr aller­dings befreit. Woher das Geld kommt? Alle, die davon pro­fi­tie­ren, kann man auch zur Kas­se beten. Als sich Ikea in einem Köl­ner Gewer­be­ge­biet nie­der­ge­las­sen hat, hat das Unter­neh­men die Ver­län­ge­rung einer Stra­ßen­bahn dort­hin mit­fi­nan­ziert. Wenn irgend­wo ein neu­es Wohn­ge­biet erschlos­sen wird, wer­den bis­lang Abga­ben für den Stra­ßen­bau fäl­lig. War­um nicht auch für den ÖPNV? 

Was wären die Vor­tei­le eines fahr­schein­frei­en Systems?

Es wäre nach­hal­ti­ger und gerech­ter. Glei­che Bedin­gun­gen für alle Men­schen. Auf der einen Sei­te hät­te jeder die Frei­heit, sei­nen Ver­kehrs­trä­ger zu wäh­len, Auto oder eben ÖPNV. Und auf der ande­ren Sei­te könn­ten sich Men­schen, die auf den Nah­ver­kehr ange­wie­sen sind, es sich auch leis­ten. Die meis­ten, die schwarz fah­ren, machen das aus einer Not her­aus. Sie kön­nen sich Mobi­li­tät sonst näm­lich gar nicht erlau­ben. Das Ange­bot wäre außer­dem attrak­ti­ver, weil die Kapa­zi­tä­ten aus­ge­baut wür­den. Und ein­fa­cher. Kei­ne Ein­stiegs­hür­den, kein Tarif­wirr­warr. Wer dem exis­tie­ren­den Ticket­sys­tem wei­te­re Tickets hin­zu­fügt, wie es die Grü­nen in NRW gefor­dert haben, macht es nur noch komplizierter. 

„Die Poli­tik denkt autozentriert“ 

Glau­ben Sie, dass ein Groß­teil der Bevöl­ke­rung die­se radi­ka­len Ver­än­de­run­gen will? Oder ist es das bestehen­de Sys­tem – man bezahlt für sein Ticket – zu sehr in den Köp­fen verankert?

Es ist ein streit­ba­res The­ma, das steht fest. Und es gibt immer mas­si­ve Geg­ner. Leu­te machen schlech­te Erfah­run­gen und trau­en dem ÖPNV dann grund­sätz­lich nicht. Außer­dem gibt es die Fra­ge nach der Finan­zie­rung. Ich zah­le doch nicht für etwas, das ich nicht benut­ze, den­ken man­che. Dann ver­su­che ich es mit dem Gegen­ar­gu­ment: Leu­te, die kein Auto fah­ren, zah­len ja auch für die Stra­ßen. Die­ses Gegen­ar­gu­ment wird mei­ner Erfah­rung nach jedoch sehr sel­ten ange­nom­men. Die Mehr­heit aller­dings, das haben wir über Stu­di­en und Umfra­gen her­aus­ge­fun­den, befür­wor­tet ein Modell des fahr­schein­frei­en Ver­kehrs. Als ich ein­mal im Radio zum The­ma sprach, hat­te ich mir schon die gan­zen Argu­men­te, um Auto­fah­rer zu über­zeu­gen, zurecht­ge­legt. Es rie­fen aber nur Befür­wor­ter und Schwarz­fah­rer an. 

Am Anfang stand da die­se Visi­on in Ihrem Wahl­pro­gramm. Dann ging es um den Ver­such der poli­ti­schen Umset­zung. Auf was für Wider­stän­de sind Sie gestoßen? 

Die gan­ze Poli­tik und die meis­ten Ent­schei­der auf allen Ebe­nen den­ken auto­zen­triert. In den Gre­mi­en, die über den ÖPNV ent­schei­den, sit­zen aus­schließ­lich Auto­fah­rer. Man stel­le sich vor, im VW-Manage­ment säßen nur Fahr­rad­fah­rer! Dazu kom­men die Lob­by­ver­ei­ne, Logis­tik- und Wirt­schafts­ver­bän­de. Ein gro­ßes Pro­blem im Inter­es­sens­kreis­lauf ist auch das stän­di­ge Ver­schie­ben der Ver­ant­wor­tung. Die Stadt sagt, es fehl­ten gesetz­li­che Grund­la­gen des Lan­des. Im Land­tag heißt es, es feh­le die Nach­fra­ge aus den Städ­ten. Aber selbst die Ver­ant­wort­li­chen in den Ver­kehrs­un­ter­neh­men iden­ti­fi­zie­ren sich nicht mit ihrem Produkt. 

Kön­nen Sie ein Bei­spiel nennen?

Wir haben ein­mal den Betriebs­hof eines Ver­kehrs­un­ter­neh­mens besucht. Der Mar­ke­ting­chef hat uns lang und breit erklärt, wel­che Maß­nah­men den ÖPNV attrak­ti­ver machen sol­len. Nach dem Besuch stan­den wir an der Bus­hal­te­stel­le, um zurück nach Düs­sel­dorf zu fah­ren. An uns vor­bei fuhr der Mar­ke­ting­chef in sei­nem Audi A8.

Und die Autoindustrie? 

Die Auto­in­dus­trie hat ihre Für­spre­cher in der Poli­tik, die sie von sich aus ver­tei­di­gen. Wobei die Gesprä­che mit den Ver­tre­tern der Auto­mo­bil­in­dus­trie eher zu denen gehör­ten, die Mut mach­ten. Da ging es dar­um, dass auto­no­mes Fah­ren vor allem im Sin­ne einer Ver­stär­kung des ÖPNV geför­dert wer­den sol­le und dar­um, dass neue Tech­no­lo­gi­en schnel­ler eta­bliert wer­den und in der Regel auch bezahl­bar wer­den, wenn sie gesetz­li­che Pflicht werden.

“Ein büro­kra­ti­sches Monstrum“

Wie haben ande­re Par­tei­en auf Ihre For­de­rung reagiert? Wur­den Sie damit über­haupt ernst genommen? 

Ob wir ernst genom­men wur­den, ist die eine Fra­ge. Ich glau­be: ja! Aber die ande­ren Par­tei­en haben trotz­dem ver­sucht, uns ins Lächer­li­che zu zie­hen. Es wur­den vie­le Wit­ze gemacht. Letzt­lich war es eine dank­ba­re Mög­lich­keit, uns feh­len­den Rea­lis­mus vorzuwerfen. 

Ende 2014 wur­de eine Enquete­kom­mis­si­on gebil­det. Mit wel­chem Ziel? 

Wir haben ver­sucht, ein The­ma zu fin­den, dass alle Par­tei­en als kon­struk­tiv emp­fin­den. Sonst wären wir womög­lich geblockt wor­den. Also haben wir eine Kom­mis­si­on zur Finan­zie­rung des ÖPNV gebil­det. Das Finan­zie­rungs­sys­tem des ÖPNV ist ein büro­kra­ti­sches Mons­trum, an dem vie­le Inter­es­sen hän­gen. Ganz grund­sätz­lich soll­te also erar­bei­tet wer­den, wel­che Alter­na­ti­ven es gibt. 

Im Janu­ar 2017 wur­den die Ergeb­nis­se vorgestellt. 

In der Hand­lungs­emp­feh­lung stand, dass der ÖPNV gestärkt und attrak­ti­ver wer­den muss, aus­ge­baut wer­den soll, gera­de im länd­li­chen Raum. Wir waren uns auch einig, dass neue Tech­no­lo­gi­en geför­dert und Finan­zie­rungs­al­ter­na­ti­ven in Betracht gezo­gen wer­den soll­ten. Auch die Tarif­struk­tur soll ver­ein­facht werden. 

Es ist also vage geblie­ben. Hat der Abschluss­be­richt der Kom­mis­si­on irgend­wel­che Fol­gen gehabt?

Dadurch, dass es 2017 zu einem Regie­rungs­wech­sel von Rot-Grün zu Schwarz-Gelb kam, wur­de auch die Arbeit der Enquete­kom­mis­si­on nicht mehr wirk­lich berück­sich­tigt. Immer­hin muss die Lan­des­re­gie­rung wei­ter­hin berich­ten, wie sie beim The­ma ÖPNV-Finan­zie­rung vor­geht. Und der Ver­kehrs­ver­bund Rhein-Ruhr unter­sucht den fahr­schein­frei­en Nah­ver­kehr. Wel­che Fol­gen unse­re Arbeit im Gro­ßen hat, kann man aber nur schwer sagen. Wir sehen, dass vie­le Städ­te neue Model­le aus­pro­bie­ren, und zwar in ganz Deutsch­land. Aschaf­fen­burg, Bie­le­feld, Ulm. 

Die Debat­te hat sich also geöffnet?

Das auf jeden Fall. Wobei da natür­lich meh­re­re Aspek­te zusam­men­kom­men. Die gan­ze Dis­kus­si­on um die Betrugs­fäl­le beim Die­sel hat auch ihren Anteil. Die Pro­ble­ma­tik der Luft­qua­li­tät wird wei­ter The­ma sein. In Zukunft wird es Model­le geben, nach denen man in den Innen­städ­ten kos­ten­los Bus und Bahn fah­ren kann. Es wird sich, wenn es gut läuft, suk­zes­si­ve aus­brei­ten. Dazu muss vor allem die Infra­struk­tur aus­ge­baut werden. 

Ein neu­es ÖPNV-Kon­zept für den länd­li­chen Raum

Fahr­schein­frei­er Nah­ver­kehr scheint bis­lang vor allem ein The­ma der Städ­te zu sein. Was ist mit den länd­li­chen Regionen? 

Mei­ner Mei­nung nach lohnt sich ein neu­es Sys­tem gera­de dort! Weil im länd­li­chen Raum Inves­ti­tio­nen ja am drin­gends­ten sind und Ver­bin­dun­gen attrak­ti­ver gemacht wer­den müs­sen. Auch auf dem Dorf gib es Leu­te, die nicht mit dem Auto unter­wegs sind. Die war­ten heu­te den hal­ben Tag, bis der Bus kommt. Hier könn­ten sich auch auto­no­me Fahr­zeu­ge anbie­ten. Aller­dings nicht für den Indi­vi­du­al­ver­kehr, son­dern in Form von Shut­tlen. Als Zubrin­ger zu Bus­sen und Bahnen. 

Sieht Ihre maxi­ma­le Uto­pie so aus, dass alle Bah­nen und Bus­se in Deutsch­land fahr­schein­frei sind?

Mei­ne Uto­pie ist es, dass jeder Nah­ver­kehr, ob in Stutt­gart oder Ham­burg, fahr­schein­frei funk­tio­niert. Wobei ich den Fern­ver­kehr raus­las­sen wür­de. Es gibt aller­dings Ver­tre­ter, die den Fern­ver­kehr in ihre Visi­on einschließen. 

Was wären denn Schrit­te auf dem Weg dorthin?

Wir sehen das Auto bis­lang als alter­na­tiv­los. Und wir brau­chen Erfah­run­gen, dass der ÖPNV gut funk­tio­niert. Das geht nur durch Inves­ti­tio­nen. Ein gutes Bei­spiel ist außer­dem das Semes­ter­ti­cket in NRW. Wenn Stu­den­ten von Anfang an ler­nen, den ÖPNV nut­zen, ist das Gold wert für die Gesell­schaft, weil die­se Stu­den­ten erst­mal gar nicht die Erfah­rung machen, dass ein Auto not­wen­dig ist. In den letz­ten Jah­ren hat sich auch die Park­platz­si­tua­ti­on an Uni­ver­si­tä­ten ver­än­dert. Die Flä­chen wer­den mitt­ler­wei­le bebaut, weil Stu­den­ten nicht mehr mit dem Auto kommen.

Die Pira­ten waren 2012 in Umfra­gen dritt­stärks­te Kraft in Deutsch­land. Mitt­ler­wei­le sind sie unter einem Pro­zent. Die Par­tei war von Anfang an eine Par­tei der Uto­pi­en. Sind sie auch dar­an gescheitert?

Wir sind eher dar­an geschei­tert, dass wir die Uto­pi­en nicht ver­kau­fen konn­ten. Es lag also eher an unse­rer Ver­mark­tungs­stra­te­gie. Viel­leicht hät­ten wir noch muti­ger sein sol­len, uns weni­ger in Details verlieren. 

Fehlt es in der Poli­tik grund­sätz­lich an radi­ka­len Visionen?

Es wäre schlecht, wenn wir stän­dig neue Visio­nen ent­wer­fen und dann Kehrt­wen­den hin­le­gen. Aber ja, ich glau­be, wir brau­chen Uto­pi­en in der Poli­tik, vor allem weit­sich­ti­ge, die traut sich nie­mand mehr. Weil zu Uto­pi­en auch immer Ent­täu­schung gehört, man tritt Leu­ten auf die Füße. Bis­lang erle­ben wir Wan­del oft nur nach Kata­stro­phen. Wer erklä­ren muss, war­um lang­fris­ti­ge Poli­tik nötig ist, obwohl sie im Hier und Jetzt von Nach­teil sein mag, hat meist schon verloren. 


Interview

Oli­ver Bay­er ist seit 2009 Mit­glied der Pira­ten und saß für die Par­tei von 2012 bis 2017 im nord­rhein-west­fä­li­schen Land­tag. Dort lei­te­te er u.a. die Enquete­kom­mis­si­on zur Finan­zie­rung, Inno­va­ti­on und Nut­zung des Öffent­li­chen Personenverkehrs. 

Was wäre, wenn…

… öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?

Im 4. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Personenverkehr. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.

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