Aus dem 4. Teil der was wäre wenn-Reihe:
Was wäre, wenn öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?
Sie saßen von 2012 bis 2017 für die Piraten im Landtag von Nordrhein-Westfalen und haben in dieser Zeit versucht, das ÖPNV-System zu revolutionieren. Wieso ist das Thema Nahverkehr für Ihre Partei eigentlich so zentral?
Es passt gut ins große Ganze, es passt zur unserer Philosophie. Wenn sich Gesellschaft durch Technologien verändert, sollt es ja darum gehen, dass alle von diesen Technologien profitieren. Es geht uns nicht um die individuelle Freiheit nur von Leuten, die Geld haben.
Die Piraten sprachen zu Beginn von „kostenlosem Nahverkehr“, irgendwann dann von „fahrscheinfreiem Nahverkehr“. Weshalb diese Korrektur?
Bei der Forderung nach kostenlosem Nahverkehr hört man immer zuerst: Wer soll das bezahlen? Und tatsächlich muss es ja auch jemand bezahlen. Also sind wir dazu übergegangen, von fahrscheinfreiem Nahverkehr zu sprechen. Um zu zeigen, dass es zwar etwas kostet, aber anders funktioniert und man keine blöden Tickets mehr braucht.
Wie wird der fahrscheinfreie Nahverkehr nach Ihrem Modell denn finanziert?
Wir wollen eine Umlagefinanzierung. Das heißt: Jeder zahlt. Es würde wie eine Gebühr funktionieren, ähnlich wie die Müllgebühr. Nach unseren Rechnungen könnten es in Nordrhein-Westfalen 30 Euro pro Person und Monat sein. Kinder und Menschen, die wenig Geld haben, wären von dieser Gebühr allerdings befreit. Woher das Geld kommt? Alle, die davon profitieren, kann man auch zur Kasse beten. Als sich Ikea in einem Kölner Gewerbegebiet niedergelassen hat, hat das Unternehmen die Verlängerung einer Straßenbahn dorthin mitfinanziert. Wenn irgendwo ein neues Wohngebiet erschlossen wird, werden bislang Abgaben für den Straßenbau fällig. Warum nicht auch für den ÖPNV?
Was wären die Vorteile eines fahrscheinfreien Systems?
Es wäre nachhaltiger und gerechter. Gleiche Bedingungen für alle Menschen. Auf der einen Seite hätte jeder die Freiheit, seinen Verkehrsträger zu wählen, Auto oder eben ÖPNV. Und auf der anderen Seite könnten sich Menschen, die auf den Nahverkehr angewiesen sind, es sich auch leisten. Die meisten, die schwarz fahren, machen das aus einer Not heraus. Sie können sich Mobilität sonst nämlich gar nicht erlauben. Das Angebot wäre außerdem attraktiver, weil die Kapazitäten ausgebaut würden. Und einfacher. Keine Einstiegshürden, kein Tarifwirrwarr. Wer dem existierenden Ticketsystem weitere Tickets hinzufügt, wie es die Grünen in NRW gefordert haben, macht es nur noch komplizierter.
„Die Politik denkt autozentriert“
Glauben Sie, dass ein Großteil der Bevölkerung diese radikalen Veränderungen will? Oder ist es das bestehende System – man bezahlt für sein Ticket – zu sehr in den Köpfen verankert?
Es ist ein streitbares Thema, das steht fest. Und es gibt immer massive Gegner. Leute machen schlechte Erfahrungen und trauen dem ÖPNV dann grundsätzlich nicht. Außerdem gibt es die Frage nach der Finanzierung. Ich zahle doch nicht für etwas, das ich nicht benutze, denken manche. Dann versuche ich es mit dem Gegenargument: Leute, die kein Auto fahren, zahlen ja auch für die Straßen. Dieses Gegenargument wird meiner Erfahrung nach jedoch sehr selten angenommen. Die Mehrheit allerdings, das haben wir über Studien und Umfragen herausgefunden, befürwortet ein Modell des fahrscheinfreien Verkehrs. Als ich einmal im Radio zum Thema sprach, hatte ich mir schon die ganzen Argumente, um Autofahrer zu überzeugen, zurechtgelegt. Es riefen aber nur Befürworter und Schwarzfahrer an.
Am Anfang stand da diese Vision in Ihrem Wahlprogramm. Dann ging es um den Versuch der politischen Umsetzung. Auf was für Widerstände sind Sie gestoßen?
Die ganze Politik und die meisten Entscheider auf allen Ebenen denken autozentriert. In den Gremien, die über den ÖPNV entscheiden, sitzen ausschließlich Autofahrer. Man stelle sich vor, im VW-Management säßen nur Fahrradfahrer! Dazu kommen die Lobbyvereine, Logistik- und Wirtschaftsverbände. Ein großes Problem im Interessenskreislauf ist auch das ständige Verschieben der Verantwortung. Die Stadt sagt, es fehlten gesetzliche Grundlagen des Landes. Im Landtag heißt es, es fehle die Nachfrage aus den Städten. Aber selbst die Verantwortlichen in den Verkehrsunternehmen identifizieren sich nicht mit ihrem Produkt.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wir haben einmal den Betriebshof eines Verkehrsunternehmens besucht. Der Marketingchef hat uns lang und breit erklärt, welche Maßnahmen den ÖPNV attraktiver machen sollen. Nach dem Besuch standen wir an der Bushaltestelle, um zurück nach Düsseldorf zu fahren. An uns vorbei fuhr der Marketingchef in seinem Audi A8.
Und die Autoindustrie?
Die Autoindustrie hat ihre Fürsprecher in der Politik, die sie von sich aus verteidigen. Wobei die Gespräche mit den Vertretern der Automobilindustrie eher zu denen gehörten, die Mut machten. Da ging es darum, dass autonomes Fahren vor allem im Sinne einer Verstärkung des ÖPNV gefördert werden solle und darum, dass neue Technologien schneller etabliert werden und in der Regel auch bezahlbar werden, wenn sie gesetzliche Pflicht werden.
“Ein bürokratisches Monstrum“
Wie haben andere Parteien auf Ihre Forderung reagiert? Wurden Sie damit überhaupt ernst genommen?
Ob wir ernst genommen wurden, ist die eine Frage. Ich glaube: ja! Aber die anderen Parteien haben trotzdem versucht, uns ins Lächerliche zu ziehen. Es wurden viele Witze gemacht. Letztlich war es eine dankbare Möglichkeit, uns fehlenden Realismus vorzuwerfen.
Ende 2014 wurde eine Enquetekommission gebildet. Mit welchem Ziel?
Wir haben versucht, ein Thema zu finden, dass alle Parteien als konstruktiv empfinden. Sonst wären wir womöglich geblockt worden. Also haben wir eine Kommission zur Finanzierung des ÖPNV gebildet. Das Finanzierungssystem des ÖPNV ist ein bürokratisches Monstrum, an dem viele Interessen hängen. Ganz grundsätzlich sollte also erarbeitet werden, welche Alternativen es gibt.
Im Januar 2017 wurden die Ergebnisse vorgestellt.
In der Handlungsempfehlung stand, dass der ÖPNV gestärkt und attraktiver werden muss, ausgebaut werden soll, gerade im ländlichen Raum. Wir waren uns auch einig, dass neue Technologien gefördert und Finanzierungsalternativen in Betracht gezogen werden sollten. Auch die Tarifstruktur soll vereinfacht werden.
Es ist also vage geblieben. Hat der Abschlussbericht der Kommission irgendwelche Folgen gehabt?
Dadurch, dass es 2017 zu einem Regierungswechsel von Rot-Grün zu Schwarz-Gelb kam, wurde auch die Arbeit der Enquetekommission nicht mehr wirklich berücksichtigt. Immerhin muss die Landesregierung weiterhin berichten, wie sie beim Thema ÖPNV-Finanzierung vorgeht. Und der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr untersucht den fahrscheinfreien Nahverkehr. Welche Folgen unsere Arbeit im Großen hat, kann man aber nur schwer sagen. Wir sehen, dass viele Städte neue Modelle ausprobieren, und zwar in ganz Deutschland. Aschaffenburg, Bielefeld, Ulm.
Die Debatte hat sich also geöffnet?
Das auf jeden Fall. Wobei da natürlich mehrere Aspekte zusammenkommen. Die ganze Diskussion um die Betrugsfälle beim Diesel hat auch ihren Anteil. Die Problematik der Luftqualität wird weiter Thema sein. In Zukunft wird es Modelle geben, nach denen man in den Innenstädten kostenlos Bus und Bahn fahren kann. Es wird sich, wenn es gut läuft, sukzessive ausbreiten. Dazu muss vor allem die Infrastruktur ausgebaut werden.
Ein neues ÖPNV-Konzept für den ländlichen Raum
Fahrscheinfreier Nahverkehr scheint bislang vor allem ein Thema der Städte zu sein. Was ist mit den ländlichen Regionen?
Meiner Meinung nach lohnt sich ein neues System gerade dort! Weil im ländlichen Raum Investitionen ja am dringendsten sind und Verbindungen attraktiver gemacht werden müssen. Auch auf dem Dorf gib es Leute, die nicht mit dem Auto unterwegs sind. Die warten heute den halben Tag, bis der Bus kommt. Hier könnten sich auch autonome Fahrzeuge anbieten. Allerdings nicht für den Individualverkehr, sondern in Form von Shuttlen. Als Zubringer zu Bussen und Bahnen.
Sieht Ihre maximale Utopie so aus, dass alle Bahnen und Busse in Deutschland fahrscheinfrei sind?
Meine Utopie ist es, dass jeder Nahverkehr, ob in Stuttgart oder Hamburg, fahrscheinfrei funktioniert. Wobei ich den Fernverkehr rauslassen würde. Es gibt allerdings Vertreter, die den Fernverkehr in ihre Vision einschließen.
Was wären denn Schritte auf dem Weg dorthin?
Wir sehen das Auto bislang als alternativlos. Und wir brauchen Erfahrungen, dass der ÖPNV gut funktioniert. Das geht nur durch Investitionen. Ein gutes Beispiel ist außerdem das Semesterticket in NRW. Wenn Studenten von Anfang an lernen, den ÖPNV nutzen, ist das Gold wert für die Gesellschaft, weil diese Studenten erstmal gar nicht die Erfahrung machen, dass ein Auto notwendig ist. In den letzten Jahren hat sich auch die Parkplatzsituation an Universitäten verändert. Die Flächen werden mittlerweile bebaut, weil Studenten nicht mehr mit dem Auto kommen.
Die Piraten waren 2012 in Umfragen drittstärkste Kraft in Deutschland. Mittlerweile sind sie unter einem Prozent. Die Partei war von Anfang an eine Partei der Utopien. Sind sie auch daran gescheitert?
Wir sind eher daran gescheitert, dass wir die Utopien nicht verkaufen konnten. Es lag also eher an unserer Vermarktungsstrategie. Vielleicht hätten wir noch mutiger sein sollen, uns weniger in Details verlieren.
Fehlt es in der Politik grundsätzlich an radikalen Visionen?
Es wäre schlecht, wenn wir ständig neue Visionen entwerfen und dann Kehrtwenden hinlegen. Aber ja, ich glaube, wir brauchen Utopien in der Politik, vor allem weitsichtige, die traut sich niemand mehr. Weil zu Utopien auch immer Enttäuschung gehört, man tritt Leuten auf die Füße. Bislang erleben wir Wandel oft nur nach Katastrophen. Wer erklären muss, warum langfristige Politik nötig ist, obwohl sie im Hier und Jetzt von Nachteil sein mag, hat meist schon verloren.
Interview
Oliver Bayer ist seit 2009 Mitglied der Piraten und saß für die Partei von 2012 bis 2017 im nordrhein-westfälischen Landtag. Dort leitete er u.a. die Enquetekommission zur Finanzierung, Innovation und Nutzung des Öffentlichen Personenverkehrs.
Was wäre, wenn…
… öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?
Im 4. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Personenverkehr. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alternativen für die Gesellschaft sichtbar zu machen und potenzielle Lösungen ins Zentrum zu rücken.
Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.
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