Was wäre, wenn öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?

Elektroautos und Flugtaxis werden die Herausforderungen der Zukunft nicht bewältigen. Für gerechte und nachhaltige Mobilität müssen neue kollektive Ideen diskutiert werden. Ein Beitrag von der www-Redaktion.
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Aus dem 4. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?

Im Februar 2018 überraschte die Bundesregierung mit einem radikalen Vorschlag: In mehreren deutschen Großstädten sollte der öffentliche Nahverkehr künftig gratis angeboten werden, hieß es in einem Brief, den das Kanzleramt, sowie Umwelt- und Verkehrsministerium unterschrieben hatten. Adressat war die Europäische Kommission, die Deutschland zuvor mit einer Klage wegen andauernder Überschreitung der Schadstoffgrenzwerte gedroht hatte. Langfristig plante die Bundesregierung sogar, die Maßnahmen für saubere Luft bundesweit auszurollen.

Die Reaktionen auf diesen Vorstoß verrieten nicht nur, wie polarisierend das Thema öffentlicher Verkehr ist, sondern auch wie überfällig eine Diskussion darüber. Von den Oppositionsparteien kam alles zwischen Überraschung, Lob und Kritik. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen bemängelte die Finanzierungslücken und warnte vor Aktionismus, während die Deutsche Umwelthilfe von „wolkigen Ankündigungen“ sprach. In einer kurz darauf durchgeführten Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Civey stimmten mehr als die Hälfte der Befragten für einen kostenfreien Nahverkehr.

Das umstrittene Auto

Aus dem Plan der Bundesregierung ist bis heute nichts geworden. Die Probleme sind geblieben. Busse und Bahnen sind in vielen Städten überlastet, während sie auf dem Dorf zu selten genutzt werden. In Ballungszentren sind die Straßen oft verstopft, in ländlichen Regionen verwaist. In Großstädten wie Berlin, Hamburg und München verschwenden Autofahrer*innen pro Jahr rund sechs Tage im Stau. Und die Klage der EU-Kommission konnte auch nicht abgewendet werden.

Deutschland stößt weiterhin mehr CO2-Emissionen aus, als die Erde vertragen kann. Der Anteil der Verkehrsemissionen am gesamten CO2-Ausstoß ist in den vergangenen Jahren sogar gestiegen. Es wirkt so, als würde dieses Land keine Antworten auf eine der dringendsten Fragen unserer Gesellschaft finden: Wie bewahren wir uns Mobilität, ohne die Umwelt zu zerstören?

Der Druck aus der Bevölkerung ist in den vergangenen Jahren gewachsen. In Berlin zum Beispiel wurde der Senat qua Volksentscheid gezwungen, Schritte zu einem fahrradfreundlicheren Verkehr zu unternehmen, nicht zuletzt wegen der konstant hohen Zahlen von Verkehrstoten. Bürgerinitiativen kämpfen überall in Deutschland für autofreie Stadtbezirke. Das Auto ist längst nicht mehr so unumstritten wie früher, insbesondere Benzin- und Dieselfahrzeuge stehen in der Kritik.

Die Zukunft liegt im Kollektiv

Die Klima- und Infrastruktur-Herausforderungen lassen sich nicht durch lokale Reformen bewältigen – da sind sich fast alle Experten einig. Auch der fossil betriebene Individualverkehr ist kein Modell der Zukunft. Zu dreckig. Zu gefährlich. Zu raumeinnehmend. Und auch: zu teuer. Der Kasseler Verkehrsforscher Carsten Sommer errechnete im vergangenen Jahr, dass Autos mehr externe – also nicht durch die eigenen Nutzer*innen gedeckten – Kosten verursachen, als jedes andere Verkehrsmittel.

Die Mobilität der Zukunft, das scheint naheliegend, ist kollektiv. Was wäre also, wenn öffentlicher Personenverkehr tatsächlich kostenlos wäre? Und zwar nicht nur in einzelnen Regionen und für eine begrenzte Zeit. Sondern bundesweit und dauerhaft. Was wäre, wenn Busse und Bahnen zur selbstverständlichen Daseinsvorsorge gehörten? Für jeden frei, unabhängig vom eigenen Einkommen. Was für neue Räume würden sich dann ergeben? Physisch und psychisch. Hätten wir eine andere Gesellschaft?

Kostenlos heißt nicht umsonst

Dass kostenlose Fahrten im ÖPNV allein nicht reichen, ist klar. Es braucht eine Reihe anderer Maßnahmen, Initiativen und Gesetze, damit so etwas wie eine Verkehrswende wirklich realisiert werden kann. Das kann eine Citymaut sein, das können Elektroautos sein, vielleicht sogar Flugtaxis. Dringender und essenzieller scheint aber eine Neustrukturierung des öffentlichen Verkehrs. Weshalb wir verschiedene Perspektiven zu diesem Thema zusammengebracht haben.

Die Journalistin Hanna Gerwig arbeitet die Erfahrungen auf, die die estnische Hauptstadt Tallinn seit der Einführung eines fahrscheinfreien ÖPNV im Jahr 2013 macht. Der Blogger und Gründer der Internetplattform Zukunft Mobilität Martin Randelhoff fasst die Ergebnisse einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Luft- und Raumfahrt zum kostenlosen ÖPNV zusammen. Der Sozialwissenschaftler Weert Canzler analysiert den Abnabelungsprozess der Deutschen vom eigenen Auto als Bedingung für eine am Nutzen, nicht am Eigentum orientierte Mobilität. Der Verkehrsforscher Heiner Monheim diskutiert mit dem Zukunftsforscher Lars Thomsen, wie der öffentliche Personenverkehr der Zukunft aussehen wird und welchen Platz digitale Innovationen und autonomes Fahren dabei einnehmen können und sollen. Die Verkehrsplanerin Carolin Röhrig vom Fachzentrum Mobilität im Ländlichen Raum macht Vorschläge, wie Menschen auch jenseits der Metropolen vom öffentlichen Verkehr profitieren können. Der Piraten-Politiker Oliver Bayer spricht im Interview darüber, was passiert, wenn man fahrscheinfreien ÖPNV in einem deutschen Parlament vorschlägt. Die Philosophin Johanna Worbs hat eine Utopie entworfen, in der ein kostenloser, öffentlicher Verkehr viel mehr als nur Fortbewegung anbietet.

Eines vorab: Natürlich ist die Bezeichnung „kostenloser Nahverkehr“ ungenau, irgendwo muss das Geld ja herkommen. Es wäre eine Umstellung der Finanzierung. Die Mittel müssten etwa aus Steuergeldern entnommen werden. Doch genau so ließe sich – bei kluger Planung und Durchführung – Nachhaltigkeit mit sozialer Gerechtigkeit verbinden.


Autor*in

Die WWW-Redaktion

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… öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?

Im 4. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Personenverkehr. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.

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