Aus dem 4. Teil der was wäre wenn-Reihe:
Was wäre, wenn öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?
Wenn Verkehrskonzepte für die Zukunft diskutiert werden, geschieht das meist aus urbaner Perspektive. Die Menschen, die den Diskurs bestimmen, ob nun Politiker*innen, Journalist*innen oder Wissenschaftler*innen, wohnen nicht nur in Großstädten, sie denken auch zu oft nur für Großstädte. Dass die meisten Deutschen allerdings in Dörfern oder Kleinstädten wohnen, wird gerne übergangen.
Bevor wir also über kostenlosen oder fahrscheinfreien öffentlichen Nahverkehr nachdenken, bevor wir über selbstfahrende Elektro-Shuttles oder Flugtaxis debattieren, sollten wir festhalten, dass die Infra- und Sozialstrukturen des ländlichen Raums und daraus resultierenden Herausforderungen eine ganz eigene Betrachtung verlangen.
Fürs Erste muss man konstatieren, dass die Zersiedelung der Landschaft dafür sorgt, dass Menschen in ländlichen Regionen tatsächlich stärker vom motorisierten Individualverkehr abhängig sind. Das nächste Krankenhaus, die nächste Kirche oder der nächste Supermarkt liegen oft zu weit weg, um dort zu Fuß oder mit dem Fahrrad hinzukommen. Autos sind oft notwendig.
Der ÖPNV ist allen voran auf den Schulverkehr ausgerichtet, weshalb viele Orte nur wenige Male am Tag durch den Bus angefahren werden. An den Wochenenden besteht teilweise gar kein Angebot. Rufbusse müssen telefonisch angemeldet werden. Spontanfahrten sind somit nicht möglich. Für dringend notwendige dichtere Fahrtakte fehlen den Kommunen und Landkreisen die finanziellen Mittel.
Ausbau der Infrastrukturen
Vor allem ältere Menschen, die ihr Leben lang Autofahrer*innen waren, sind im ländlichen Raum auf die Nutzung des ÖPNV angewiesen. Eine Umstellung, die vielen nicht leicht fällt. Bus- und Bahnfahren muss tatsächlich erst erlernt werden. Viele Kommunen experimentieren mit individuellen Modellprojekten, zum Beispiel werden Mitfahrbörsen eingerichtet, Carsharing-Angebote eingeführt und dazu eigene Apps entwickelt. Leider sind diese Angebote meist keine flächendeckende Lösung, außerdem für Fremde und Urlauber unzugänglich oder unbekannt.
Was der ländliche Raum zunächst vor allem braucht, sind schnelle und direkte Verbindungen in die Zentren, wo sich Arbeitsplätze, Schulen und andere wichtige Einrichtungen befinden. Nur wenn der Bus oder die Bahn mit der Fahrzeit des Pkw einigermaßen konkurrieren kann, ist der ÖPNV eine echte Alternative.
In Hessen, wo ich als Stadt- und Verkehrsplanerin arbeite, gibt es bereits einige Regionen, in denen attraktive Express- oder Schnellbusse die Fahrgäste auf den schnellsten Weg ins Zentrum und wieder zurück bringen. Diese Strukturen müssen dringend ausgebaut werden. Wer auf dem Land sein Fahrrad benutzen möchte, sollte nicht bestraft, sondern gefördert werden. Deshalb sind Mehrzweckflächen in den Fahrzeugen, sowie sichere Radwege zu den Bahnhöfen und Parkmöglichkeiten an den Umsteigepunkten entscheidend.
Landverkehr elektrifizieren
Was fehlt, sind übersichtliche Tarifsysteme. Ein erster Schritt wären Flatrate-Tickets, die für ein Jahr gelten und eine ganze Region oder ein ganzes Bundesland abdecken. Hessen hat eine Jahreskarte für Schüler eingeführt, die 365 Euro kostet und die Nutzung des ÖPNV im ganzen Bundesland ermöglicht. Das ist immerhin ein Anfang. Ähnliche Angebote gibt es für Senior*innen und Arbeitnehmer*innen. Einzelfahrkarten sind aufgrund der komplexen Tarifsysteme mit vielen Preisstufen im ländlichen Raum häufig teurer als im städtischen Gebiet. Auch hier muss Einfachheit und Preisattraktivität geschaffen werden.
Noch immer sind im ländlichen Raum viel zu viele Dieselbusse unterwegs. Die sollten in den kommenden Jahren durch Busse mit Elektroantrieb ersetzt werden. Gegenwärtig sind die Reichweiten der Elektrofahrzeuge, die es auf dem Markt gibt, noch zu gering. Für einen Elektrobus fallen zudem doppelt so hohe Anschaffungskosten an. Kleinere Fahrzeuge, wie 9‑Sitzer-Busse mit mindestens barrierearmer Ausstattung, werden wichtiger.
Der ÖPNV im ländlichen Raum sollte sich digitale Innovationen zu eigen machen, um die verschiedenen Verkehrsmittel besser zu verknüpfen. In Zukunft könnte über Apps nicht nur das Bahnticket, sondern auch das Carsharing-Fahrzeug am Zielbahnhof gebucht werden. Je unkomplizierter, desto besser. Echtzeitdaten würden die Fahrgäste mit Informationen darüber beliefern, wann und wo ihr Bus, ihre Bahn oder das Anrufsammeltaxi den Bahnhof oder die Haltestelle anfahren. Alles online, Fahrzeugkontrollen wären nicht mehr nötig. Inwiefern automatische Erfassunsgssysteme zu Datenschutzprobleme werden, müsste geklärt werden. Fahrgäste sollten zwar so bequem wie möglich unterwegs sein, sich aber nicht überwacht fühlen.
Selbstfahrende Shuttles
Unsere Bevölkerung wird älter, vor allem die auf dem Land. Wenn wir also über den öffentlichen Verkehr der Zukunft sprechen, müssen wir Personal mitdenken. Personal, das nicht zwangsläufig hinter dem Lenkrad sitzt, denn das würde bei selbstfahrenden Bussen und Bahnen wegfallen. Personal, das den Passagieren beim Ein- und Aussteigen hilft, auch mal die schweren Einkaufstaschen zur Haustür trägt oder anders hilft. Autonom fahrende Zubringerverkehre könnten ganz ohne Personal auskommen. Kleinbusse oder Pkws würden die Fahrgäste in den Orten einsammeln und dann zum Bus oder zur Bahn bringen.
Stationsgebundene Carsharing-Angebote werden in Zukunft durch free-floating Carsharing (das gemietete Fahrzeug kann überall in einem Gebiet abgestellt werden) ersetzt. Das Carsharing-Fahrzeug fährt selbständig zur Station, die sich beispielsweise am Bahnhof befindet, zurück. Für die Nutzer*innen ist das Angebot damit viel flexibler. Das Hauptproblem bei der Umsetzung solcher Angebote sind die fehlenden Anbieter. Noch lohnt es sich nicht. Umso wichtiger sind Subventionen vom Staat.
Sind selbstfahrende und umweltschonende Pkws oder Busse die Lösung für den ländlichen Raum? Im Idealfall, ja. Doch wie immer ist es auch eine Frage des Geldes. Für die Verkehrsunternehmen hätte es den Vorteil, dass zumindest Personalkosten für Fahrer wegfallen. Solange die neuen Fahrzeuge allerdings wesentlich teurer sind, ist ein Systemwechsel unwahrscheinlich.
Mobil durch Netzausbau
Bislang hat es die Autoindustrie geschafft, den Pkw immer mehr zum privaten Wohnraum mit großen Displays, bequemen und großzügigen Sitzen sowie Internetzugang weiterzuentwickeln. Der öffentliche Verkehr muss auch auf dieser Ebene nachholen. Bus- und Bahnfahren darf sich nich wie ein Opfer anfühlen.
Wie wollen wir im Jahr 2050 leben? Wie wollen wir uns bewegen? Worauf können wir verzichten? Worauf müssen wir verzichen? Oder müssen wir gar nicht verzichten? Die Beantwortung dieser Fragen ist auch davon abhängig, was die Politik bereit ist, in den ländlichen Raum zu investieren.
Ohne einen massiven Ausbau der Infrastruktur werden die Menschen in ländlichen Gebieten weiterhin auf den eigenen Pkw angewiesen sein. Nicht zu vergessen ist der Ausbau des 5G-Mobilfunk-Standards. Nur so können selbstfahrende Fahrzeuge überhaupt fahren. Außerdem muss die Zersiedelung der Region gestoppt werden. Nur eine kompakte Siedlungsentwickung führt zu weniger Verkehr, kürzeren Wegen und damit zu einer Stärkung des Umweltverbundes (ÖPNV, Rad- und Fußverkehr). Bei der Ausweisung neuer Baugebiete muss deshalb immer auch ein Mobilitätskonzept für alle Verkehrsmittel mitgedacht werden.
Die Schaffung attraktiver Alternativen zum fossil betriebenen Individualverkehr im ländlichen Raum ist also ein vielschichtiges Unterfangen. Doch wenn der öffentliche Verkehr flächendeckend dem Auto Konkurrenz machen will, darf die Verkehrswende kein auf die Metropolen beschränktes Elitenprojekt sein.
Autor*in
Dr. Carolin Röhrig, Stadt- und Verkehrsplanerin, promovierte zum Thema Verkehrsversorgung auf dem Land. Seit 2017 arbeitet sie im neugegründeten Fachzentrum Mobilität im Ländlichen Raum in Frankfurt/Main.
Was wäre, wenn…
… öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?
Im 4. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Personenverkehr. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alternativen für die Gesellschaft sichtbar zu machen und potenzielle Lösungen ins Zentrum zu rücken.
Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.
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