Das mobile Dorf denken

Nicht nur Städ­te, son­dern auch die länd­li­chen Räu­me brau­chen neue, viel­schich­ti­ge Ver­kehrs­kon­zep­te. Das fängt beim Mobil­netz­aus­bau an. Ein Text von Dr. Carolin Röhrig.
kostenlos öffentlich personen nahverkehr
Aus dem 4. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?

Wenn Ver­kehrs­kon­zep­te für die Zukunft dis­ku­tiert wer­den, geschieht das meist aus urba­ner Per­spek­ti­ve. Die Men­schen, die den Dis­kurs bestim­men, ob nun Politiker*innen, Journalist*innen oder Wissenschaftler*innen, woh­nen nicht nur in Groß­städ­ten, sie den­ken auch zu oft nur für Groß­städ­te. Dass die meis­ten Deut­schen aller­dings in Dör­fern oder Klein­städ­ten woh­nen, wird ger­ne übergangen. 

Bevor wir also über kos­ten­lo­sen oder fahr­schein­frei­en öffent­li­chen Nah­ver­kehr nach­den­ken, bevor wir über selbst­fah­ren­de Elek­tro-Shut­tles oder Flug­ta­xis debat­tie­ren, soll­ten wir fest­hal­ten, dass die Infra- und Sozi­al­struk­tu­ren des länd­li­chen Raums und dar­aus resul­tie­ren­den Her­aus­for­de­run­gen eine ganz eige­ne Betrach­tung verlangen. 

Fürs Ers­te muss man kon­sta­tie­ren, dass die Zer­sie­de­lung der Land­schaft dafür sorgt, dass Men­schen in länd­li­chen Regio­nen tat­säch­lich stär­ker vom moto­ri­sier­ten Indi­vi­du­al­ver­kehr abhän­gig sind. Das nächs­te Kran­ken­haus, die nächs­te Kir­che oder der nächs­te Super­markt lie­gen oft zu weit weg, um dort zu Fuß oder mit dem Fahr­rad hin­zu­kom­men. Autos sind oft notwen­dig.

Der ÖPNV ist allen vor­an auf den Schul­ver­kehr aus­ge­rich­tet, wes­halb vie­le Orte nur weni­ge Male am Tag durch den Bus ange­fah­ren wer­den. An den Wochen­en­den besteht teil­wei­se gar kein Ange­bot. Ruf­bus­se müs­sen tele­fo­nisch ange­mel­det wer­den. Spontan­fahr­ten sind somit nicht mög­lich. Für drin­gend not­wen­di­ge dich­te­re Fahr­tak­te feh­len den Kom­mu­nen und Land­krei­sen die finan­zi­el­len Mittel. 

Aus­bau der Infrastrukturen

Vor allem älte­re Men­schen, die ihr Leben lang Autofahrer*innen waren, sind im länd­li­chen Raum auf die Nut­zung des ÖPNV ange­wie­sen. Eine Umstel­lung, die vie­len nicht leicht fällt. Bus- und Bahn­fah­ren muss tat­säch­lich erst erlernt wer­den. Vie­le Kom­mu­nen expe­ri­men­tie­ren mit indi­vi­du­el­len Modell­pro­jek­ten, zum Bei­spiel wer­den Mit­fahr­bör­sen ein­ge­rich­tet, Car­sha­ring-Ange­bo­te ein­ge­führt und dazu eige­ne Apps ent­wi­ckelt. Lei­der sind die­se Ange­bo­te meist kei­ne flä­chen­de­cken­de Lösung, außer­dem für Frem­de und Urlau­ber unzu­gäng­lich oder unbekannt. 

Was der länd­li­che Raum zunächst vor allem braucht, sind schnel­le und direk­te Ver­bin­dun­gen in die Zen­tren, wo sich Arbeits­plät­ze, Schu­len und ande­re wich­ti­ge Ein­rich­tun­gen befin­den. Nur wenn der Bus oder die Bahn mit der Fahr­zeit des Pkw eini­ger­ma­ßen kon­kur­rie­ren kann, ist der ÖPNV eine ech­te Alternative. 

In Hes­sen, wo ich als Stadt- und Ver­kehrs­pla­ne­rin arbei­te, gibt es bereits eini­ge Regio­nen, in denen attrak­ti­ve Express- oder Schnell­bus­se die Fahr­gäs­te auf den schnells­ten Weg ins Zen­trum und wie­der zurück brin­gen. Die­se Struk­tu­ren müs­sen drin­gend aus­ge­baut wer­den. Wer auf dem Land sein Fahr­rad benut­zen möch­te, soll­te nicht bestraft, son­dern geför­dert wer­den. Des­halb sind Mehr­zweck­flä­chen in den Fahr­zeu­gen, sowie siche­re Rad­we­ge zu den Bahn­hö­fen und Park­mög­lich­kei­ten an den Umstei­ge­punk­ten entscheidend. 

Land­ver­kehr elektrifizieren

Was fehlt, sind über­sicht­li­che Tarif­sys­te­me. Ein ers­ter Schritt wären Flat­rate-Tickets, die für ein Jahr gel­ten und eine gan­ze Regi­on oder ein gan­zes Bun­des­land abde­cken. Hes­sen hat eine Jah­res­kar­te für Schü­ler ein­ge­führt, die 365 Euro kos­tet und die Nut­zung des ÖPNV im gan­zen Bun­des­land ermög­licht. Das ist immer­hin ein Anfang. Ähn­li­che Ange­bo­te gibt es für Senior*innen und Arbeitnehmer*innen. Ein­zel­fahr­kar­ten sind auf­grund der kom­ple­xen Tarif­sys­te­me mit vie­len Preis­stu­fen im länd­li­chen Raum häu­fig teu­rer als im städ­ti­schen Gebiet. Auch hier muss Ein­fach­heit und Preis­at­trak­ti­vi­tät geschaf­fen werden. 

Noch immer sind im länd­li­chen Raum viel zu vie­le Die­sel­bus­se unter­wegs. Die soll­ten in den kom­men­den Jah­ren durch Bus­se mit Elek­tro­an­trieb ersetzt wer­den. Gegen­wär­tig sind die Reich­wei­ten der Elek­tro­fahr­zeu­ge, die es auf dem Markt gibt, noch zu gering. Für einen Elek­tro­bus fal­len zudem dop­pelt so hohe Anschaf­fungs­kos­ten an. Klei­ne­re Fahr­zeu­ge, wie 9‑Sit­zer-Bus­se mit min­des­tens bar­rie­re­ar­mer Aus­stat­tung, wer­den wichtiger. 

Der ÖPNV im länd­li­chen Raum soll­te sich digi­ta­le Inno­va­tio­nen zu eigen machen, um die ver­schie­de­nen Ver­kehrs­mit­tel bes­ser zu ver­knüp­fen. In Zukunft könn­te über Apps nicht nur das Bahn­ti­cket, son­dern auch das Car­sha­ring-Fahr­zeug am Ziel­bahn­hof gebucht wer­den. Je unkom­pli­zier­ter, des­to bes­ser. Echt­zeit­da­ten wür­den die Fahr­gäs­te mit Infor­ma­tio­nen dar­über belie­fern, wann und wo ihr Bus, ihre Bahn oder das Anruf­sam­mel­ta­xi den Bahn­hof oder die Hal­te­stel­le anfah­ren. Alles online, Fahr­zeug­kon­trol­len wären nicht mehr nötig. Inwie­fern auto­ma­ti­sche Erfass­unsgs­sys­te­me zu Daten­schutz­pro­ble­me wer­den, müss­te geklärt wer­den. Fahr­gäs­te soll­ten zwar so bequem wie mög­lich unter­wegs sein, sich aber nicht über­wacht fühlen. 

Selbst­fah­ren­de Shuttles

Unse­re Bevöl­ke­rung wird älter, vor allem die auf dem Land. Wenn wir also über den öffent­li­chen Ver­kehr der Zukunft spre­chen, müs­sen wir Per­so­nal mit­den­ken. Per­so­nal, das nicht zwangs­läu­fig hin­ter dem Lenk­rad sitzt, denn das wür­de bei selbst­fah­ren­den Bus­sen und Bah­nen weg­fal­len. Per­so­nal, das den Pas­sa­gie­ren beim Ein- und Aus­stei­gen hilft, auch mal die schwe­ren Ein­kaufs­ta­schen zur Haus­tür trägt oder anders hilft. Auto­nom fah­ren­de Zubrin­ger­ver­keh­re könn­ten ganz ohne Per­so­nal aus­kom­men. Klein­bus­se oder Pkws wür­den die Fahr­gäs­te in den Orten ein­sam­meln und dann zum Bus oder zur Bahn bringen.

Sta­ti­ons­ge­bun­de­ne Car­sha­ring-Ange­bo­te wer­den in Zukunft durch free-floa­ting Car­sha­ring (das gemie­te­te Fahr­zeug kann über­all in einem Gebiet abge­stellt wer­den) ersetzt. Das Car­sha­ring-Fahr­zeug fährt selb­stän­dig zur Sta­ti­on, die sich bei­spiels­wei­se am Bahn­hof befin­det, zurück. Für die Nutzer*innen ist das Ange­bot damit viel fle­xi­bler. Das Haupt­pro­blem bei der Umset­zung sol­cher Ange­bo­te sind die feh­len­den Anbie­ter. Noch lohnt es sich nicht. Umso wich­ti­ger sind Sub­ven­tio­nen vom Staat. 

Sind selbst­fah­ren­de und umwelt­scho­nen­de Pkws oder Bus­se die Lösung für den länd­li­chen Raum? Im Ide­al­fall, ja. Doch wie immer ist es auch eine Fra­ge des Gel­des. Für die Ver­kehrs­un­ter­neh­men hät­te es den Vor­teil, dass zumin­dest Per­so­nal­kos­ten für Fah­rer weg­fal­len. Solan­ge die neu­en Fahr­zeu­ge aller­dings wesent­lich teu­rer sind, ist ein Sys­tem­wech­sel unwahrscheinlich.

Mobil durch Netzausbau

Bis­lang hat es die Auto­in­dus­trie geschafft, den Pkw immer mehr zum pri­va­ten Wohn­raum mit gro­ßen Dis­plays, beque­men und groß­zü­gi­gen Sit­zen sowie Inter­net­zu­gang wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. Der öffent­li­che Ver­kehr muss auch auf die­ser Ebe­ne nach­ho­len. Bus- und Bahn­fah­ren darf sich nich wie ein Opfer anfühlen. 

Wie wol­len wir im Jahr 2050 leben? Wie wol­len wir uns bewe­gen? Wor­auf kön­nen wir ver­zich­ten? Wor­auf müs­sen wir ver­zi­chen? Oder müs­sen wir gar nicht ver­zich­ten? Die Beant­wor­tung die­ser Fra­gen ist auch davon abhän­gig, was die Poli­tik bereit ist, in den länd­li­chen Raum zu investieren. 

Ohne einen mas­si­ven Aus­bau der Infra­struk­tur wer­den die Men­schen in länd­li­chen Gebie­ten wei­ter­hin auf den eige­nen Pkw ange­wie­sen sein. Nicht zu ver­ges­sen ist der Aus­bau des 5G-Mobil­funk-Stan­dards. Nur so kön­nen selbst­fah­ren­de Fahr­zeu­ge über­haupt fah­ren. Außer­dem muss die Zer­sie­de­lung der Regi­on gestoppt wer­den. Nur eine kom­pak­te Sied­lungs­ent­wi­ckung führt zu weni­ger Ver­kehr, kür­ze­ren Wegen und damit zu einer Stär­kung des Umwelt­ver­bun­des (ÖPNV, Rad- und Fuß­ver­kehr). Bei der Aus­wei­sung neu­er Bau­ge­bie­te muss des­halb immer auch ein Mobi­li­täts­kon­zept für alle Ver­kehrs­mit­tel mit­ge­dacht werden.

Die Schaf­fung attrak­ti­ver Alter­na­ti­ven zum fos­sil betrie­be­nen Indi­vi­du­al­ver­kehr im länd­li­chen Raum ist also ein viel­schich­ti­ges Unter­fan­gen. Doch wenn der öffent­li­che Ver­kehr flä­chen­de­ckend dem Auto Kon­kur­renz machen will, darf die Ver­kehrs­wen­de kein auf die Metro­po­len beschränk­tes Eli­ten­pro­jekt sein.


Autor*in

Dr. Caro­lin Röh­rig, Stadt- und Ver­kehrs­pla­ne­rin, pro­mo­vier­te zum The­ma Ver­kehrs­ver­sor­gung auf dem Land. Seit 2017 arbei­tet sie im neu­ge­grün­de­ten Fach­zen­trum Mobi­li­tät im Länd­li­chen Raum in Frankfurt/​Main.

Was wäre, wenn…

… öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?

Im 4. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Personenverkehr. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.

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