Aus dem 4. Teil der was wäre wenn-Reihe:
Was wäre, wenn öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?
In Europa ist Mobilität für alle Menschen frei zugänglich. Man muss keine Tickets mehr im Bus kaufen, es gibt keine Kontrollen in der U‑Bahn mehr, nicht einmal Zugfahrkarten muss man noch buchen. Ich fahre an einem Samstagmorgen von Hannover nach Berlin, besuche eine Ausstellung, abends weiter nach Hamburg, um eine Freundin zu treffen. Ich bin in Bewegung, nehme teil am sozialen und kulturellen Leben. Ohne es mir erkaufen zu müssen, ohne vorhergehenden Tauschhandel. Der Dreiklang – Arbeitskraft, Lohn, Bewegungsmöglichkeit – ist aufgelöst. Ich habe die Option zur Mobilität einfach so, weil es mein Recht ist, das nicht mehr an meinen angenommenen Nutzen für die Marktwirtschaft gebunden ist.
Was ich hier beschreibe, ist ein Tagtraum. Ich habe die Kontrollmechanismen vernachlässigt, die mich davon abhalten, utopisches Denken zuzulassen und mir gebieten, Gegebenheiten als unveränderliche Zustände zu begreifen. Und genau deshalb sind Tagträume eine Kulturtechnik, der wir mehr Gewicht zugestehen sollten. Sie sind wie Reisen, sie tragen in eine andere Wirklichkeit, öffnen neue Möglichkeiten. Und manchmal weiß ich danach, was ich nun tun möchte, um die erträumten Zustände zu erreichen.
Bäume statt Parkplätze
Zurück in meinen Tagtraum, in dem es allen voran um Bewegung geht. Wie doch eigentlich alle Vorstellungen von der Zukunft mit Bewegung zu tun haben. Die Fortbewegungsmittel in meiner Utopie sind eleganter, beweglicher, leiser, sportlicher. Die meisten davon gehören niemandem und stehen damit allen zur Verfügung, vor allem der öffentliche Nahverkehr in den Städten, der auf weitere Fortbewegungsmittel ausgeweitet wurde wie Bootsverkehr, Seilbahnen, Fahrräder, einzelne Robotaxis.
Autos gibt es zwar weiterhin, allerdings selten noch in Privatbesitz, sie fahren programmiert und werden vor allem in den ländlichen Regionen genutzt. Längere Strecken erledigt man nicht mehr individuell, sondern mit Bahn oder Schiff. Die urbanen Innenstädte sind mehr oder weniger autofrei, abgesehen von Krankentransporten oder Lieferverkehr. In den leer gewordenen Parkhäusern befinden sich jetzt Geschäfte, Restaurants, Kultureinrichtungen, auf den ehemaligen Parkplätzen stehen heute Bäume. Urban Gardening mitten in München ist keine Seltenheit mehr. Das führt zu einer Umnutzung der Räume. Und zu einem neuen Zusammenleben.
Ein neuer Mythos der Bewegung
Wenn alle Menschen in ihrer Mobilität die gleichen Möglichkeiten bekommen, heben sich soziale Unterschiede an manchen Stellen auf. Menschen, deren finanzielle Mittel heute teilweise nicht für die tägliche Fahrt mit dem ÖPNV zur Schule oder Arbeit ausreichen, die sich eben keine Bewegungsfreiheit erkaufen können, sind dann auch dabei. Denn sie können freier entscheiden, ob sie sich bewegen möchten: einen Ausflug mit den Kindern in die Stadt, eine Tagestour ans Meer — die leistbaren Optionen werden zumindest größer.
Die Möglichkeit zu reisen war immer auch eine Möglichkeit, den Horizont zu erweitern, die Perspektive zu wechseln, kulturelle und intellektuelle Erfahrungen zu machen und sich persönlich weiterzuentwickeln. Nicht umsonst schickten die reichen Familien im 19. Jahrhundert ihre Söhne auf eine Bildungsreise. In meiner Tagtraum-Welt ist es nicht mehr den Söhnen finanziell Bessergestellten vorbehalten, eine Bildungsreise zu unternehmen. Jeder Mensch hat jetzt dazu die Chance und wird zusätzlich über allgemeine Programme angereizt, direkt nach der Schule für ein paar Monate zu reisen — kostenlos.
Es sind Mythen, denen wir gemeinschaftlich folgen, die eine Gesellschaft formen und zusammenhalten. Früher war es der Mythos von Wachstum und Besitz, der im industriellen Zeitalter aufkam. In meiner Tagtraum-Welt ist ein neuer Mythos sinnstiftend: Er handelt von solidarischer Beweglichkeit und Austausch. Vernetzung ist kein Wort mehr, das hauptsächlich im Bereich des Digitalen, der Finanzwelt oder im Bezug auf Waren benutzt wird, sondern wird auch im Alltag gelebt. Die Mobilitätswende, das ist klar, beginnt im Kopf.
Zurückbleiben, bitte, sollte niemand
Für Menschen ist jeder ungewollte Ausschluss aus der Gesellschaft eine Demütigung. Kann ich nicht Bus fahren, weil ich mir kein Ticket leisten kann, verringert sich also nicht nur mein potentieller Bewegungsradius, sondern auch mein Zugehörigkeitsgefühl zur Gesellschaft wird gestört. Wäre diese Begrenzung aufgehoben, könnten sich alle freier bewegen, physikalisch ebenso wie mental.
Weiter im Tagtraum: Es gibt nicht nur fahrscheinfreien Verkehr für alle, es öffnen sich auch Türen für eine neue Form der Kommunikation. Das stelle ich mir so vor: Im Bus sind verschiedene Bereiche gestaltet, in denen ich mich aufhalten kann. Ich entscheide beim Einsteigen, wo ich bei dieser Fahrt sein möchte, was mein Bedürfnis ist und was meiner Stimmung entspricht.
Im ersten Bereich kann ich mich entspannen, es ist ruhig und das Licht angenehm. Dort wird nicht gesprochen, es geht darum, Energie zu tanken und aus der Hektik zu kommen. Ich kann die Fahrt zur Regeneration nutzen. Schlafen. Lesen. Musik hören. Nichts tun. Einsteigen, um auszusteigen. Vielleicht wird sogar etwas Massage oder Wellness angeboten. Wer weiß.
Eine fahrende Sprachschule
Im zweiten Bereich kann ich mich mit anderen austauschen. Es gibt eine aktuelle Frage des Tages, die dort miteinander diskutiert werden kann. Manchmal sind auch Abstimmungen möglich, das Meinungsbild des Tages wird jeweils am nächsten Morgen veröffentlicht und an die Bürgermeister*innen und Verwaltungen weitergeben, damit sie die Ergebnisse in ihre weitere Arbeit einbeziehen. Die Frage könnte lauten: Wo sollten wir die neue Seilbahn bauen? Sie könnte auch lauten: Sollten wir Zölle auf außerregionales Gemüse erheben? Oder: Wie kann der Park umgestaltet werden? Wie können wir die Verkehrssicherheit verbessern? Wie und was und wo sollen unsere Kinder lernen?
In diesem Bereich diskutieren alle miteinander. Von der Stadtverwaltung ist den ganzen Tag jemand mit dabei, um Ideen und Anregungen mitzunehmen, Informationen zu geben und im Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern zu sein. Die Menschen fühlen sich informierter über die Entwicklungen und Themen in ihrer Stadt und ihrem Quartier. Neuzugezogene Menschen finden über diese Plattform schneller und unkompliziert Anschluss. Mitbestimmung wird gelebt und damit kann auch mehr Eigenverantwortung übernommen werden.
Möglicherweise gibt es zusätzlich kleine Sprachtandems, wenn jemand eine Sprache lernen möchte. Eine Zweier-Sitzbank, die dazu einlädt, ein kurzes Gespräch auf deutsch, englisch, spanisch oder arabisch zu führen — je nach persönlichem Wunsch. Eine fahrende Sprachschule für den Alltag.
Leicht und fließend
Im dritten Bereich kann ich bürokratische Wege im Bus erledigen. Die Stadtverwaltung hat eine mobile Stelle in den Bussen eingerichtet. Ummeldungen, Anmeldungen, Anträge können dort direkt bekommen oder abgegeben, Fragen gestellt werden. In manchen Bussen kann man auch heiraten, das sind Sonderlinien. Und in allen Bussen ist eine Person von der Stadtverwaltung, die mit allen Menschen spricht und sie über bürokratische Themen aufklärt und berät.
Der vierte Bereich ist ein Kinderparadies, sehr bunt und voller Bilder und Geschichten zum Vorlesen oder Selberlesen, in verschiedenen Sprachen und mit einer Person, die den Bereich betreut.
Leicht und fließend, diese beiden Worte schießen mir durch den Kopf. Kein Warten, kein Drängeln, die Busse in meinem Tagtraum fahren in einem dichten Takt, so dass sie nie überlastet sind. Da es so wenig Autos mehr gibt, ist es ein sehr gleichmäßiger Verkehrsfluss und zudem viel leiser, weil elektrobetriebene Fahrzeuge überwiegen.
Zusammen fahren, zusammen entscheiden
Busfahrer*innen haben, da die Fahrzeuge programmiert fahren, ganz neue Funktionen und Möglichkeiten. Ihre Ausbildung umfasst Kommunikation, Stadt- und Kulturgeschichte, interkulturelle Bildung und Pädagogik. Sie sind Expertinnen und Experten dafür, mit verschiedenen Menschen zu kommunizieren und sie in einen Austausch zu bringen. Sie übernehmen eine soziale Rolle, die sie vorher nur metaphorisch hatten: Menschen miteinander in Kontakt zu bringen.
Der öffentliche Verkehr steht nicht mehr nur Fortbewegungsmittel, sondern begreift sich vielmehr als ein integrales System, das Verbindungen zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen schafft. Dafür werden Programme abgestimmt, um den öffentlichen Austausch anzuregen und zu fördern.
Wenn ich an einer Gemeinschaft aktiv teilnehmen kann, entsteht ein Gefühl der Zugehörigkeit und ich entwickele Verständnis für Prozesse und Entscheidungen. Dazu trägt die Kenntnis von Stadt- und Kulturgeschichte bei, ebenso der Austausch mit anderen Menschen, die am selben Ort leben. Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, bei politischen Fragen gehört zu werden und mitbestimmen zu können. Oder die Möglichkeit, mich jederzeit bewegen zu können, andere Einflüsse zu erleben, andere Perspektiven kennenzulernen.
Ein Abgrenzungsinstrument weniger
Ich habe eine Aversion gegen überfüllte Busse und U‑Bahnen, in denen nach meinem Empfinden alle direkt beim Einsteigen eine ungesunde Gesichtsfarbe bekommen und schlechte Laune sowieso. Aber wenn es ein Raum wäre, der soziale Aufgaben erfüllte, statt ein Fahrzeug, das nur die Strecke zwischen A und B zurücklegte — was wäre dann?
Wäre der öffentliche Verkehr fahrscheinfrei, hätten wir ein soziales Abgrenzungsinstrument weniger in unser System installiert. Wäre zudem der Verkehr in den überwiegenden Anteilen öffentlich und würde darüberhinaus vermehrt Sharing-Konzepten folgen, könnten wir Mobilität von Statussymbolik trennen. Nicht der fette SUV wäre dann Vorzeigeobjekt, sondern vielmehr die Erfahrungen von der letzten Reise würden ausgetauscht.
Was ich selbst mitgestalte, das zerstöre ich selten. Ich verstehe, warum es gestaltet ist, wie es gestaltet ist und versuche, es zu verbessern, wo es mir möglich ist. Ich bin nicht außen, sondern Teil des Ganzen. Ich begreife mich selbst als Gestaltungskraft meiner eigenen Zukunft.
Autor*in
Johanna Worbs ist Literaturwissenschaftlerin und Konzepterin. Ihr Schwerpunkt liegt in den Bereichen Mobilität und Beteiligungsformate mit einem besonderen Interesse für die Gestaltung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Seit 2015 arbeitet sie bei der Identitätsstiftung in Hannover.
Was wäre, wenn…
… öffentlicher Personenverkehr kostenlos wäre?
Im 4. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Personenverkehr. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alternativen für die Gesellschaft sichtbar zu machen und potenzielle Lösungen ins Zentrum zu rücken.
Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.
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