Aus dem 5. Teil der was wäre wenn-Reihe:
Was wäre, wenn Social Media den Nutzer*innen gehören würde?
Gibt es so etwas wie eine digitale Weltgemeinschaft?
Payal Arora: Ich arbeite schon seit mehr als zehn Jahren daran, wie wir einen gemeinsamen öffentlichen Raum aufbauen, in dem wir als Menschen unsere gemeinsamen Interessen verhandeln. Ich habe wie viele andere Menschen auch ein Interesse daran, in einer Gesellschaft zu leben, die für uns alle funktioniert. Das ist utopisch, weil es unrealistisch ist. Aber es ist ein Ideal, das wir brauchen, um darauf hinzuarbeiten.
Sind wir denn auf einem guten Weg, im digitalen Raum einer solchen Gesellschaft näher zu kommen?
Ideale sind naturgemäß optimistisch. Deshalb stelle ich mich auch gegen diesen allgegenwärtigen dystopischen Diskurs des Überwachungskapitalismus, dem man im Augenblick in den Medien überall begegnet. Ich glaube nicht daran, dass die Nutzer*innen völlig machtlos sind und dass die Demokratie von den Plattformen ruiniert wird. Das unterminiert komplett die Rolle menschlicher Handlungsmöglichkeiten. So einfach sind Menschen nicht manipulierbar und sie sind auch nicht nur Opfer von digitalen Systemen. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht eine ungeheure Menge von Ungleichheit auf der Welt gibt und dass dafür niemand verantwortlich ist.
Das Internet, wie es in den Anfangsjahren konstruiert war, war sehr funktional. Es ging darum, dass Institutionen top down Informationen verbreiten wollten, um die Öffentlichkeit zu steuern. Die Nutzer*innen selbst haben es dann aber für viele verschiedene Zwecke übernommen. Die Nutzung für Unterhaltungszwecke und Freizeit spielt dabei eine dominante Rolle. Es gibt eine intrinsische Verbindung zwischen Freizeit und Utopien. Nur wenn man aus der Maschinerie des Alltags ausbricht, um sich in einem Raum ohne Regeln aufzuhalten, kann man über die eigene Situation nachdenken und sich vielleicht etwas Besseres vorstellen. Wir haben dazu Daten – darum geht es auch in meinem neuen Buch „The Next Billion Users“. Menschen nutzen das Internet egal, ob sie in einem kleinen Slum in Indien oder einem Vorort von Boston in den USA sitzen, für die gleichen Dinge: Sie unterhalten sich in sozialen Netzwerken, sie schauen Pornos, sie präsentieren sich auf Instagram und spielen Computerspiele. Die Statistiken zeigen, dass das der überwiegende Teil der Online-Nutzung ist.
Ist es nicht eher eine andere Möglichkeit, uns als Bürger*innen ruhig zu halten – im Sinne von Brot und Spielen?
Das glaube ich nicht. In der ganzen Debatte über den Überwachungskapitalismus gibt es eine Grundannahme, die immer mitschwingt, dass nämlich der Markt als Prinzip etwas Negatives, Toxisches ist. Wir müssen aber sehr vorsichtig sein, Märkte komplett abzuschreiben. Global gesehen haben Märkte nämlich – egal ob in Namibia, Ghana oder Südostasien – als Gegengewicht zu den autoritären Regimen fungiert. Märkte haben auf die Bedürfnisse von Nutzer*innen reagiert, wenn staatliche Stellen das nicht getan haben.
„Der Markt an sich ist nicht das Problem“
Was natürlich gefährlich ist, ist wenn der Staat und die Märkte zusammenarbeiten, um Oligarchien zu erschaffen und Ungleichheit zu erhalten und zu vergrößern. Aber wir sollten den Markt an sich nicht abschreiben. Der Kapitalismus hat – und das ist nachweisbar – Millionen von Menschen aus der Armut geholt und Ungleichheit verringert. Voraussetzung war die richtige staatliche Regulierung, sorgfältige Abwägung und die richtige Balance der verschiedenen Stakeholder, die sich gegenseitig kontrollieren.
Der Markt an sich ist nicht das Problem. Allerdings sind die staatlichen Regulierungsmechanismen oft so schwach und verwässert, dass er entweder von den Mächtigen im Staat oder den Lobbygruppen usurpiert wird. Ein Markt im eigentlichen Sinne existiert in vielen Ländern gar nicht mehr.
Als das Internet Ende der 1990er zu einem Publikumsmedium wurde, gab es die Hoffnung, dass es zu einer Demokratisierung beitragen würde. Heute sieht es eher so aus, als ob es von privaten Technologiefirmen übernommen wurde.
Ich glaube, das ist eine Mystifizierung der Vergangenheit. Es gab damals vielleicht mehr Freiräume, aber man muss auch sehen, dass die Zahl der Nutzer*innen sehr klein war und diese aus sehr privilegierten Gruppen kam. Es waren Hacker und Geeks, sehr weiß und männlich. In diesem Sinne ist das Internet viel demokratischer geworden, weil einfach heute andere Leute Zugang haben. Zugang zum Internet war damals vergleichsweise kostspielig und man brauchte teure Geräte. Heute ist das keine Frage mehr – auch in den Schwellenländern. Die technischen Innovationen und Disruptionen kommen inzwischen nicht nur aus den Industrieländern, sondern auch von einheimischen Firmen, etwa in China, das inzwischen so etwas wie eine Gegenkraft zum Silicon Valley in den USA geworden ist, oder in Indien, das ebenfalls eine eigene lokale Tech-Industrie aufgebaut hat.
Was sind denn die neuen Arten und Weisen, wie Nutzer_innen außerhalb der industrialisierten Länder das Internet nutzen?
Neben wir zum Beispiel die Debatte um Memes und Remixes, die ja in Europa urheberrechtlich problematisch sind. Die Idee dahinter ist, dass wir die Urheberrechte von Kreativen verteidigen wollen. Mit dem Artikel 17 der EU-Urheberrechtsreform sollen Uploadfilter eingeführt werden, um urheberrechtlich geschütztes Material automatisch rauszufiltern. Wenn man so etwas weltweit einführen würde, dann wäre politischer Protest in vielen Ländern nicht mehr möglich. In China nutzen viele Nutzer*innen Memes, um sich über die Regierung lustig zu machen. Das ist nicht einfach, weil dort ein starkes Zensurregime herrscht und alle Inhalte im Netz überwacht werden. Man muss also sehr geschickt sein.
„Das Leben ist von kulturellen Codes bestimmt“
Es gibt ja die „Cute cat theory of digital activism“ von Ethan Zuckerman, die besagt, wenn man genug Katzencontent auf eine Plattform hochlädt, dann ist es sehr schwer sie zu schließen, weil sie hauptsächlich Unterhaltungszwecken dient. Innerhalb dieser Plattform kann man dann leichter subversive Inhalte unterbringen. Plattformen wie Facebook werden weltweit auch für politischen Protest genutzt.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Nutzer_innen das Internet im Alltag benutzen, um sich kleine Freiräume zu schaffen. Inwiefern ist das politisch relevant?
Das Alltagsleben von Menschen ist nicht nur von Gesetzen bestimmt, sondern zum großen Teil von informellen Regeln und kulturellen Codes. Frauen stehen da oft auf der Verliererseite – in sehr vielen Ländern der Welt. Wenn Frauen in Saudi-Arabien ihr Gesicht auf Instagram zeigen, dann wird das mit Peitschenhieben von der Moralpolizei bestraft. Trotzdem nutzen sie soziale Medien, um mit Fremden zu kommunizieren und sogar Liebesbeziehungen online aufzubauen. Wenn sie Vertrauen aufgebaut haben, zeigen sie in privaten Nachrichten diesen „Fremden“ sogar ihr Gesicht und tauschen Liebesbeteuerungen aus. Das ist ungeheuer riskant für sie. Viele sind Teenager, die sich nach Liebe und Zuneigung sehen, nach ihrer Identität suchen und sich ausprobieren wollen, was in ihrem Alltag aber nicht möglich ist. Wir hier im Westen können anziehen, was wir wollen und uns verhalten, wie wir wollen. Wir können uns in der Öffentlichkeit küssen. In Indien verprügelt die selbsternannte Moralpolizei Paare, wenn sie in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten austauschen. Und Indien ist eine Demokratie!
Wir reden viel über Datenschutz und Privatsphäre im Zusammenhang mit dem Internet. Was ist die Rolle von Privatsphäre bei diesen neuen Nutzer*innen?
Wir haben vor ein paar Jahren ein Projekt gemacht, wo wir die Internetnutzung in brasilianischen Favelas, Slums in Indien und Townships in Südafrika untersucht haben. Wir haben herausgefunden, dass Privatsphäre bei den jungen Leuten, die dort online gehen, eine ganz andere Rolle spielt. Wir haben uns dafür die Ökonomien von Liebesbeziehungen angeschaut. Wir sprechen von jungen Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen als Liebe, eine Beziehung und Sex. Sie sind auf der Suche nach ihrer sexuellen Identität. Wir haben uns angeschaut, wie sie nach Sex suchen, wie sie mit Pornografie umgehen, wie sie solche Inhalte teilen. Sie gehen dabei ungeheure Risiken ein, um sich darzustellen, um sicht- und hörbar zu werden.
Soziale Medien als Rückzugsraum
Es zeigte sich, dass sie keine Angst davor haben, vom Staat überwacht zu werden, sondern dass die Gefahr von ihrer Familie, den Nachbarn, der Gemeinschaft drohte. Ein typisches brasilianisches Mädchen hatte mehr Angst vor ihrer Mutter, die ständig ihr Smartphone kontrolliert, um herauszufinden, mit wem sie sich trifft, mit wem sie redet, wohin sie geht. Die Mutter ist ein sehr mächtiges soziales Überwachungssystem in diesen Favelas. Oder die Gangmitglieder des lokalen Drogenbosses – sie befrienden dich auf Facebook und du musst das akzeptieren.
Privatsphäre ist für viele Leute auf der Welt ein Luxus. Wenn sich eine ganze Familie ein Schlafzimmer teilen muss, dann gibt es dort keine Privatsphäre. Die Nachbar*innen sind gleich nebenan und sehen und hören alles. In den Wohngebieten der Armen ist die Polizei überall und beobachtet sie ebenfalls. Man ist es so gewöhnt unter Beobachtung zu stehen, dass der virtuelle Raum in den sozialen Medien, wo man vielleicht das erste Mal für sich sein kann, ein echtes Aha-Erlebnis ist.
Internet-Firmen wie Facebook sammeln aber viele Daten und bestimmen darüber, welche Informationen wir sehen. Ist das nicht problematisch?
Diese Debatte um Privatsphäre, die uns im Westen so beschäftigt, dass Internet-Firmen unsere Daten sammeln, kaufen und verkaufen, ist in vielen Ländern weit entfernt vom Alltag und den Sorgen der Menschen. Für sie ist das Internet ein Freiraum, wo sie eine neue Identität annehmen können und exotische Freunde aus der ganzen Welt haben können. In Ländern wie Brasilien oder Indien sind die Hälfte bis zu zwei Drittel der Freunde auf Facebook Fremde. Bei uns sind es weniger als fünf Prozent.
In vielen Schwellenländern gibt es diesen Wunsch, Teil einer globalen Gemeinschaft zu sein. Das bietet einen Ausweg aus einer Lebensumgebung, die sehr eingeschränkt ist. Die meisten der Leute werden wahrscheinlich nie ihr Viertel oder ihre Stadt verlassen. Trotzdem fühlen sie sich als Weltbürger. In einer BBC-Befragung 2016 haben Dreiviertel der nigerianischen Staatsbürger sich als Weltbürger bezeichnet, während es in Deutschland nur rund dreißig Prozent waren.
„Eine US-Firma ist nicht einfach nur eine US-Firma“
Wir im Westen können es uns leisten, dem Netz gegenüber kritisch zu sein, weil wir andere Kanäle haben, über die wir uns ausdrücken können. Es ist kein Wunder, dass die Menschen in den Ländern des globalen Südens viel enthusiastischer gegenüber dem Internet zeigen. Ich finde es schwierig zu sagen, wir müssen Facebook abschaffen, es zerstört unsere Demokratie. Wessen Demokratie ist das und aus welcher Perspektive sprechen wir?
Die Kritik an Facebook ist berechtigt, keine Frage, aber sie waren die Ersten, die das Internet zu diesen Menschen in den Niedriglohnländern gebracht haben. Das geschah über das Internet.org-Projekt, das in einigen Ländern kostenlosen Zugang zu ausgewählten Webseiten wie Wikipedia, Google und natürlich Facebook erlaubt. Natürlich ist das nicht das Internet, aber niemand sonst hat etwas für diese Leute getan. Halb Myanmar ist innerhalb von zwei Jahren über dieses Projekt online gegangen, nachdem die Militärherrschaft beendet war.
Was wären denn dann die Schritte, um das Internet für alle gerechter zu gestalten?
Daten fließen über nationale Grenzen hinweg. International agierende Unternehmen bauen ihre Strukturen ebenfalls international auf. Datenzentren befinden sich auf der Welt verteilt; die Rohstoffe für Smartphones und Computer kommen zu großen Teilen aus Afrika – wir müssen all diese Strukturen beachten. Eine US-amerikanische Firma ist nicht einfach nur eine US-amerikanische Firma. Die Geldflüsse sind weltweit verteilt.
„Wir brauchen dringend eine globale Regulierung“
Wir brauchen unabhängige Regulierungsbehörden, die kollektiv von internationalen Institutionen finanziert werden. Wir bewegen uns zwar schon in diese Richtung, aber wer kontrolliert die Kontrolleure? Wir brauchen dort Leute, die keine eigenen politischen Interessen verfolgen. Vor allem in den USA gibt es die Vorstellung, dass die Industrie sich über Selbstverpflichtungen reguliert. Dafür bekommen Verbraucherschutzorganisationen immer weniger Geld. Das ist zu kurz gedacht, denn natürlich haben Tech-Firmen ganz andere Standards und Interessen. Das Ergebnis ist für die Öffentlichkeit nicht so gut – wie wir immer wieder sehen. Wir brauchen also dringend eine globale Regulierung dieser angeblich nationalen Probleme, weil sie nicht mehr national sind. Es ist traurig, dass es auf der ganzen Welt diese Bewegungen gibt, die Nationalstaaten zu stärken, aber eigentlich müssten wir genau das Gegenteil tun. Die digitale Welt ist Teil unseres Alltags geworden und wir sind deshalb Teil eines globalen Dialogs, ob es uns passt oder nicht.
Interview
Payal Arora lehrt als Kommunikationsprofessorin an der Erasmus-Universität in Rotterdam. Ihr letztes Buch „The Next Billion Users. Digital Life Beyond the West“ beschäftigt sich damit, wie Nutzer*innen im globalen Süden mit dem Internet umgehen und was das für das digitale Leben weltweit bedeutet.
Valie Djordjević ist freie Autorin und Mitbegründerin von iRights.info, einem Webportal zu Themen wie Urheberrecht, Datenschutz, Privatsphäre rund um die digitale Welt.
Was wäre, wenn…
… Social Media den Nutzer*innen gehören würde?
Im 5. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Social Media Nutzer*innen. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alternativen für die Gesellschaft sichtbar zu machen und potenzielle Lösungen ins Zentrum zu rücken.
Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.
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