Der Staat neben den Staaten

Damit Face­book demo­kra­tisch wird, bräuch­te es eine poli­ti­sche Revo­lu­ti­on. Doch was kommt nach dem Umsturz? Die gro­ße Her­aus­for­de­rung der gerech­ten Selbstregierung. Ein Text von tante.
social media geräte nutzung soziale medien
Aus dem 5. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn Social Media den Nutzer*innen gehören würde?

Am 14. Juli 1789 koch­te die Wut der Bewohner*innen Frank­reichs über: Als ein­zi­gen Aus­weg aus dem voll­stän­di­gen Aus­ge­lie­fert­sein einem abso­lu­ten Herr­scher gegen­über, stürm­ten die Pariser*innen die ​„Bas­til­le“, eine Fes­tung und Gefäng­nis. Und selbst wenn der Sturm auf ein kaum bemann­tes Gebäu­de weit weni­ger dra­ma­tisch war, als sich vie­le das vor­stel­len, so steht er immer noch sym­bo­lisch für die Macht der Bevöl­ke­rung, für die Legi­ti­mi­tät des Auf­stands gegen Herr­schaft und Unterdrückung.

230 Jah­re spä­ter stellt sich die Lebens­si­tua­ti­on vie­ler Men­schen grund­sätz­lich anders dar: Ein gro­ßer Teil der Staa­ten der Erde ist mehr oder weni­ger demo­kra­tisch und erlaubt die poli­ti­sche Mit­be­stim­mung sei­ner Bürger*innen. Die Men­schen kön­nen unter ande­rem durch Wah­len, Peti­tio­nen und Refe­ren­den die Regeln ihres Zusam­men­le­bens mit­be­stim­men. Außer auf Face­book. Und ande­ren Soci­al-Media-Platt­for­men, in die­sem Text soll der Fokus aber pars pro toto auf Face­book blei­ben.

Know Your Enemy

Die Regu­lie­rung von Face­book ist eine der gro­ßen poli­ti­schen Fra­gen unse­rer Zeit und hat in den letz­ten Jah­ren eine gan­ze Biblio­thek von Büchern inspi­riert, die sich dem The­ma aus unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven nähern: Face­book wird mal als Unter­neh­men betrach­tet, wel­ches über Wett­be­werbs­recht und ande­re juris­ti­sche Kon­struk­te ein­ge­fan­gen und zum Gemein­wohl ver­pflich­tet wer­den soll, mal als ​„Platt­form“ bezeich­net, auf der der ​“glo­ba­le Markt­platz der Ide­en” geschützt wer­den soll.

Aber Face­book als Unter­neh­men oder Platt­form zu begrei­fen, springt zu kurz. Face­book ist zwar auch ein Unter­neh­men und auch eine Platt­form, es ist aber vor allem ein staats­ähn­li­cher poli­ti­scher Raum. Ein staats­ähn­li­cher Raum, der auto­kra­tisch durch den CEO regiert wird.

Was genau bedeu­tet ​“staats­ähn­lich” in die­sem Kontext?

(Nicht nur) In Deutsch­land geht man tra­di­tio­nell von einer Tren­nung der poli­ti­schen und der öko­no­mi­schen Sphä­re aus, wobei der Poli­tik (und damit dem Wil­len des Vol­kes) das Pri­mat zusteht: Die Poli­tik regu­liert und kon­trol­liert die Wirt­schaft, die Wirt­schaft muss den Anwei­sun­gen der Poli­tik Fol­ge leis­ten. Wenn wir aber ana­ly­sie­ren, was Poli­tik los­ge­löst von poli­ti­schen Ämtern und Orga­ni­sa­tio­nen wirk­lich ist, zeigt sich ein ande­res Bild. 

Poli­tik ist vor allem die Legi­ti­ma­ti­on der Ent­schei­dung, wer (struk­tu­rel­ler) Gewalt aus­ge­setzt wird und wer nicht. Und auf die­ser Basis ist es schwie­rig, so zu tun, als exis­tier­ten die Räu­me unse­res sozia­len und poli­ti­schen Han­delns online nur in der wirt­schaft­li­chen Sphä­re: Wenn Face­book sei­ne News­feed-Algo­rith­men anpasst und damit bestimm­te Grup­pen bevor­zugt und ande­re benach­tei­ligt, wenn es neue Kenn­zah­len und Mone­ta­ri­sie­run­gen ein­führt, die lan­ge bestehen­de Unter­neh­men ins Wan­ken brin­gen, dann sind die Aus­wir­kun­gen die­ses Han­delns so gra­vie­rend wie vie­le Geset­ze. Face­book hat zwar kei­ne Armee aber eine – wei­test­ge­hend unkon­trol­lier­te – Poli­zei, die Face­books Regeln durch­setzt und unge­woll­te Inhal­te löscht. Face­book sitzt nicht in der UN, aber es ent­zieht sich immer wie­der staat­li­chen Zugrif­fen und Regu­lie­run­gen. Dazu muss man nur mal die Finanz­äm­ter befragen.

Face­book über­nimmt im digi­ta­len Raum zuneh­mend staats­ähn­li­che Auf­ga­ben: Der Face­book-Account ist das, was im Inter­net dem Per­so­nal­aus­weis am nächs­ten kommt, ein kano­ni­scher Iden­ti­täts­an­ker, auf den sich der Rest des Sys­tems Inter­net stützt. Face­book arbei­tet an einer eige­nen Wäh­rung namens Libra, mit der nicht nur Trans­fers von Geld unter Nutzer*innen, son­dern lang­fris­tig auch Zah­lun­gen an Part­ner wie ebay, Uber oder Spo­ti­fy abge­wi­ckelt wer­den sol­len — ganz an den bestehen­den Regu­la­ri­en, die Geld­ge­schäf­te auf dem bestehen­den Finanz­markt kon­trol­lie­ren, vor­bei. Und im Prin­zip sind vie­le der ​„Poli­cy und PR“-Büros von Face­book nichts ande­res als Bot­schaf­ten: In vie­len Kon­tex­ten ver­han­delt Face­book mit Staa­ten und staat­li­chen Gemein­schaf­ten wie der EU nahe­zu auf Augenhöhe. 

Take the Power Back

Im Inter­net prä-demo­kra­ti­sche poli­ti­sche Lebens­räu­me auf­zu­bau­en, soll­te nicht im Inter­es­se der Benutzer*innen des Net­zes lie­gen. Und so gibt es schon diver­se Vor­schlä­ge dazu, wie man des ​„Pro­blems Face­book“ wie­der Herr wer­den könn­te. Dabei zeigt jeder Lösungs­vor­schlag ziem­lich deut­lich, was genau die vor­schla­gen­de Per­son als ​„das Pro­blem Face­book“ defi­niert. Ein popu­lä­rer Vor­schlag lau­tet, Face­book müs­se ​„sei­nen Nut­zen­den gehö­ren“, müs­se ver­ge­sell­schaf­tet wer­den. Aber was bedeu­tet das? Man könn­te es so regeln, dass jedem Face­book-Account eine Aktie zustün­de. Aber wie könn­ten die Akti­en­be­sit­zer dann ihre Inter­es­sen ver­tre­ten? Wie fin­det ein Aus­gleich der unter­schied­li­chen Inter­es­sen statt? Wel­chen Rechts­nor­men unter­liegt die­ses neue Konstrukt? 

Oder soll­te Face­book bes­ser einem Staat zuge­ord­net wer­den? Aber wel­chem? Oder der Euro­päi­schen Uni­on? Und was ist mit dem Rest der Welt? 

Face­book zu ​„zer­schla­gen“ ist ein ande­rer Vor­schlag, den man häu­fi­ger hört und liest. Face­book soll zer­legt wer­den in unter­schied­li­che Teil­fir­men, ent­we­der in getrenn­te sozia­le Net­ze oder in funk­tio­na­le Kom­po­nen­ten. Ent­we­der müss­ten also die Teil-Face­books kon­kur­rie­ren. Oder man hät­te eine Fir­ma nur für den Soci­al Graph, qua­si das ​„Adress­buch“; eine ande­re Fir­ma, die sich auf den News­feed kon­zen­triert; eine wei­te­re Fir­ma, die das Tei­len von Fotos und Vide­os anbie­tet, und so wei­ter. Als ​„Pro­blem Face­book“ wird in die­sem Framing die Mono­pol­stel­lung dia­gnos­ti­ziert, die Markt­me­cha­nis­men aus­he­belt. Rea­lis­ti­scher­wei­se wür­den die unter­schied­li­chen Face­books jedoch irgend­wann Allein­stel­lungs­merk­ma­le aus­prä­gen und sich am Ende wohl doch eines oder weni­ge durch­set­zen, wie man das auch bei Email-Anbie­tern beob­ach­ten konn­te. Face­book wäre wei­ter­hin unde­mo­kra­tisch, der digi­ta­le öffent­li­che Raum blie­be pri­va­ti­siert. Als wäre man gezwun­gen, in der Online-Ent­spre­chung eines Flug­ha­fen­ter­mi­nals zu leben, ohne jemals raus zu können.

Der letz­te gro­ße Vor­schlag, um das Pro­blem Face­book anzu­ge­hen ist, den eige­nen Account zu löschen. Face­book zu ent­mäch­ti­gen, indem man sich ihm ent­zieht. Das ​„Pro­blem Face­book“ ist in die­sem Fal­le Face­book selbst, eine Fir­ma, der die Men­schen nicht ver­trau­en und deren Geschäfts­mo­dell und Vor­ge­hen als unrett­bar ange­se­hen wer­den. Die­ser Vor­schlag hat auf den ers­ten Blick den Charme, nicht ein Mono­pol durch eine ande­re pro­ble­ma­ti­sche Struk­tur zu erset­zen, zer­stört aber gleich­zei­tig eine durch­aus neue Form des öffent­li­chen und poli­ti­schen Raums, eine Form, die mehr Men­schen Teil­ha­be und Ver­öf­fent­li­chungs­macht bietet. 

Wake Up

Akzep­tie­ren wir, dass Face­book ein poli­ti­scher, staats­ähn­li­cher Raum ist, so ist es zur Ent­wick­lung trag­fä­hi­ger Lösun­gen not­wen­dig, eben­falls zu akzep­tie­ren, dass die­ser Raum nicht homo­gen ist. 

Face­book ist, wenn man es genau­er betrach­tet, eine kom­ple­xe Struk­tur vie­ler sich über­lap­pen­der und mit­ein­an­der ver­wo­be­ner poli­ti­scher Räu­me, in denen Men­schen mit ganz unter­schied­li­chen Hin­ter­grün­den und Inter­es­sen inter­agie­ren. Schon für die Fra­gen, ob das Bild einer nack­ten, stil­len­den Brust oder die öffent­li­che Leug­nung des Holo­caust erlaubt bzw. gedul­det sein soll­te, lässt sich heu­te kaum Kon­sens fin­den. Die­se Ver­hand­lungs­pro­zes­se von Nor­men fin­den auch in Staa­ten immer wie­der statt, wer­den aber auf Platt­for­men wie Face­book wegen der noch stär­ker kon­tras­tie­ren­den Hin­ter­grün­de der Nutzer*innen noch sicht­ba­rer und oft auch noch über­spitz­ter. Die Vor­stel­lung, die­se enor­men Dif­fe­ren­zen in einem Regel­werk abbil­den zu kön­nen, bewegt sich irgend­wo zwi­schen lächer­lich und chauvinistisch.

Das zen­tra­le Pro­blem ist daher die anti­de­mo­kra­ti­sche Aus­rich­tung bei gleich­zei­ti­ger mas­si­ver poli­ti­scher Macht. Eine nach­hal­ti­ge Lösung die­ses Pro­blems muss eine wirk­li­che Über­nah­me Face­books durch die Nutzer*innen sein, aber nicht im Sin­ne des Besit­zes einer Fir­ma, son­dern eher im Sin­ne einer poli­ti­schen Revolution. 


Ein­fa­cher gesagt, als getan. Wie aber orga­ni­siert man einen staats­ähn­li­chen Bereich, der qua­si senk­recht zu den bestehen Staa­ten steht? Wie ver­hält sich die­se neue Form poli­ti­scher Struk­tur zu den exis­tie­ren­den Staa­ten und ihren Regeln, was genau defi­niert sie und wie unter­schei­det sie sich von Staa­ten? Kann man eine ​„dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft“ deutsch/​Face­book haben und wel­che der bei­den Iden­ti­tä­ten setzt sich wann durch? Was sind kon­kre­te Schrit­te auf dem Weg zu einer digi­ta­len, inter­sek­tio­na­len, fai­ren Form von Liber­té, Éga­lité, Fra­ter­nité?

Beau­ti­ful World

Glück­li­cher­wei­se fin­den sich über­all auf der Welt Bei­spie­le dafür, wie sol­che Pro­ble­me ange­gan­gen wer­den können. 

Beson­ders ergie­big ist der Bereich der soge­nann­ten Inter­net Gover­nan­ce, in dem sich ein Mul­tista­ke­hol­der-Ansatz bewährt hat. Staa­ten, gro­ße Unter­neh­men, aber auch Orga­ni­sa­tio­nen der Zivil­ge­sell­schaft und Indi­vi­du­en kön­nen sich ent­lang ihrer Fähig­kei­ten und Bedürf­nis­se in die­sen Pro­zess ein­brin­gen. Die Zie­le, Nor­men und Grund­satz­re­geln des Inter­nets wer­den von auto­no­men Grup­pen im offe­nen Dis­kurs ver­han­delt, um einen Inter­es­sen­aus­gleich her­zu­stel­len. Nach die­sem Modell wur­de bei­spiels­wei­se die IANA (Inter­net Assi­gned Num­bers Aut­ho­ri­ty), die sich um die Ver­ga­be von IP-Adress­räu­men und ähn­li­chen tech­ni­schen Spe­zi­fi­ka­tio­nen küm­mert, aus US-ame­ri­ka­ni­scher Auf­sicht in eine glo­ba­le, mul­tista­ker­hol­der­ba­sier­te-Kon­trol­le über­ge­ben. Auch die ​„Digi­tal Secu­ri­ty Risk Manage­ment for Eco­no­mic and Soci­al Prosperity“-Richtlinien der OECD (Orga­ni­sa­ti­on für wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit und Ent­wick­lung) wur­den 2013 – 2015 nach dem Mul­tista­ke­hol­der-Ansatz ausgearbeitet. 

Die­se Dar­stel­lung ist natür­lich etwas idea­li­siert. In der Rea­li­tät ist der Zugang zu die­sen Orga­ni­sa­tio­nen und ihren Mee­tings oft nicht so unkom­pli­ziert, wie man sich das wün­schen wür­de. Mee­tings fin­den irgend­wo auf dem Pla­ne­ten statt, und wer nicht gera­de vom eige­nen Arbeit­ge­ber für die Anwe­sen­heit bezahlt wird, muss Flü­ge und Unter­kunft selbst finan­zie­ren. Auch müs­sen die Teil­neh­men­den in den aller­meis­ten Fäl­len Eng­lisch spre­chen, um sich zu poli­ti­schen Fra­gen äußern zu können.

Trotz man­cher Schwä­chen fin­den sich im Bereich der Inter­net Gover­nan­ce viel­ver­spre­chen­de Ansät­ze dazu, wie es gelin­gen kann, eine Enti­tät wie Face­book zu demo­kra­ti­sie­ren. Dis­ku­tiert wer­den sol­che Fra­gen auch beim Inter­net Gover­nan­ce Forum 2019, das vom 25. bis 29. Novem­ber in Ber­lin statt­fin­det und kos­ten­los ist. Foren und Kon­fe­ren­zen wie das Inter­net Gover­nan­ce Forum sind dar­über hin­aus eine gute Gele­gen­heit, um die eige­ne Bub­ble ein wenig zu ver­las­sen und die Per­spek­ti­ven sehr ver­schie­de­ner Men­schen ken­nen­zu­ler­nen und zu ver­glei­chen. Die­se sind häu­fig deut­lich unter­schied­li­cher, als man sich es vor­stellt: Betrach­ten wir mal die Idee des digi­ta­len Archivs.

Zumin­dest in west­li­chen Län­dern wird dem Inter­net die gro­ße Fähig­keit zuge­spro­chen, auf nie dage­we­se­ne Art und Wei­se Wei­se Kul­tur archi­vie­ren zu kön­nen. Archi​ve​.org, Wiki­pe­dia und hun­der­te ande­re Pro­jek­te ver­su­chen, das kol­lek­ti­ve Gedächt­nis der Men­schen digi­tal abzu­bil­den. Für die Mao­ri, die indi­ge­ne Bevöl­ke­rung Neu­see­lands, bei­spiels­wei­se ist die Geschich­te einer Com­mu­ni­ty jedoch ein kol­lek­ti­ves Eigen­tum, das ihnen nicht durch Digi­ta­li­sie­rung ent­ris­sen wer­den darf. Mao­ri steu­ern Zugriff auf ihre Geschich­te und ihr Wis­sen sehr bewusst und prä­zi­se, und vor allem tun sie das als Grup­pe: So könn­te eine ein­zel­ne Per­son gar nicht ein­wil­li­gen, z.B. einen spe­zi­el­len Tanz, ein Ritu­al oder sogar sei­ne eige­ne Fami­li­en­ge­schich­te als Video oder Text zu digi­ta­li­sie­ren, weil für Mao­ri eben die gemein­sa­men Ritua­le und sogar die Fami­li­en­ge­schich­te einer Per­son Aus­druck und Teil der lan­gen Geschich­te der Com­mu­ni­ty sind und damit nur als gan­zes, kol­lek­tiv beses­se­nes gedacht wer­den kann. Erst wenn der Stamm ein­wil­lig­te, wäre die Hand­lung des Indi­vi­du­ums abge­seg­net. Aus die­ser Prä­mis­se erwach­sen natür­lich auch für sozia­le Netz­wer­ke ganz ande­re Ansprü­che als das Men­schen aus Deutsch­land typi­scher­wei­se hätten.

Die­se Unter­schie­de zu sam­meln, ver­ständ­lich und sicht­bar zu machen, wird ein wich­ti­ger Schritt auf dem Weg zu einem demo­kra­ti­schen Face­book sein. Ein Face­book, das sich nicht durch die Durch­set­zung einer hege­mo­ni­schen Welt­sicht defi­niert, son­dern allen Nutzer*innen und ihren Bedürf­nis­sen gerecht wer­den will. 

Die drit­te Her­aus­for­de­rung ist die Defi­ni­ti­on einer ​„Face­book-Ver­fas­sung“, die sich vor allem damit beschäf­tigt, wie in einem demo­kra­ti­sier­tem Face­book Ent­schei­dun­gen getrof­fen wer­den kön­nen, ohne dass sich bestimm­te Grup­pen allein auf­grund ihrer Grö­ße durch­set­zen und ohne dabei die gro­ße Hete­ro­ge­ni­tät kul­tu­rel­ler Wer­te und Regeln auf eine Aus­prä­gung her­un­ter­bre­chen zu müs­sen. Wel­che Grund­sät­ze müss­te ein sol­cher Raum haben? Wie kann die Ver­fas­sung eines digi­ta­len Rau­mes sich mit neu­en Nut­zungs­mus­tern ver­än­dern? Wie kann eine Ver­fas­sung so unter­schied­li­che Vor­stel­lun­gen wie unse­re west­li­chen und bei­spiels­wei­se die der oben beschrie­be­nen Mao­ri gemein­sam abde­cken? Kann ein Doku­ment das über­haupt leis­ten und wenn nicht, wie müss­te man so ein Regel­werk strukturieren?

Inspi­ra­ti­on lie­fer­te der Staat Island nach dem Finanz­crash 2008, als eine lin­ke Regie­rung mit dem Ziel ange­tre­ten war, die Ver­fas­sungs­grund­la­ge unter dem Ein­druck der Kri­se neu zu schrei­ben. Die Isländer*innen wähl­ten 25 Per­so­nen, die anschlie­ßend einen Ver­fas­sungs­vor­schlag aus­ar­bei­te­ten und der Bevöl­ke­rung zur Abstim­mung stell­ten. Obwohl die Bevöl­ke­rung den Ent­wurf mit gro­ßer Mehr­heit ange­nom­men hat­te, schaff­te er es nicht durchs Par­la­ment. Trotz­dem kön­nen die­ser Pro­zess und die Gedan­ken als Inspi­ra­ti­on für die Ent­wick­lung eines Grund­satz­do­ku­men­tes einer Face­book-Repu­blik dienen. 

Dar­über hin­aus bie­tet Face­book selbst, so wie es heu­te funk­tio­niert und von vie­len Men­schen genutzt wird, Werk­zeu­ge an, mit denen man vie­le der hier ange­ris­se­nen Ide­en auf glo­ba­ler Ebe­ne tes­ten kann: Ich spre­che ins­be­son­de­re von Face­book-Grup­pen.

In Grup­pen (erst geschlos­sen und spä­ter auch offen) kön­nen neue Kon­sens­fin­dungs­me­cha­nis­men eva­lu­iert wer­den. Und zwar direkt bezo­gen auf ihre Taug­lich­keit für die unter­schied­li­chen Bedürf­nis­se der Nutzer*innen. Für einen Test könn­te ein neu­es Ver­fah­ren doku­men­tiert wer­den und es wer­den ver­trau­ens­wür­di­ge Per­so­nen zu Administrator*innen gewählt, die sich nur um die Ein­hal­tung der Ver­hal­tens­re­geln und die evtl. Umset­zung der Kon­se­quen­zen (Löschung eines Posts, Sank­tio­nie­rung einer Per­son) küm­mern. So las­sen sich auch sehr wenig hier­ar­chi­sche Ent­schei­dungs­pro­zes­se im ​„poli­ti­schen Nicht­schwim­mer­be­cken“ anhand kon­kre­ter Fra­gen und Kon­flik­te tes­ten und die Belast­bar­keit der ent­wi­ckel­ten Ide­en illus­trie­ren. Vie­le der oben ange­ris­se­nen Fra­gen selbst, zum Bei­spiel die Dis­kus­si­on von Nor­men oder einer ​„Face­book-Ver­fas­sung“, eig­nen sich dazu ideal.

Auch unge­wöhn­li­che ​„Regie­rungs­for­men“ kön­nen hier ziem­lich unge­fähr­lich mit Men­schen unter­schied­lichs­ter Hin­ter­grün­de aus­pro­biert wer­den: War­um nicht mal mit der ​„Räte­re­pu­blik Face­book“ expe­ri­men­tie­ren? Unter­schied­li­che Grup­pen könn­ten ihre Ver­tre­ten­den in den ​„Rat“ (eine eige­ne Grup­pe, in der alle Lesen, aber nur die Gewähl­ten schreiben/​diskutieren kön­nen) schi­cken. In Räte­re­pu­bli­ken sind Man­da­te impe­ra­tiv, d.h. Gewähl­te müs­sen so ent­schei­den, wie ihre Wäh­len­den ihnen das auf­ge­tra­gen haben. Gleich­zei­tig sind in Räte­re­pu­bli­ken die Gewal­ten von Exe­ku­ti­ve, Judi­ka­ti­ve und Legis­la­ti­ve nicht getrennt, alles wird immer auf der nächst­hö­he­ren Ebe­ne (trans­pa­rent, weil alle am Expe­ri­ment teil­neh­men­den mit­le­sen kön­nen) ent­schie­den. Wie gut klappt auf die­sem Wege eine Ent­schei­dungs­fin­dung z.B. dar­über, ob ein bestimm­ter Post die Regeln ver­letzt oder ob eine Regel, nach der bis­her gelebt wird, geän­dert wer­den soll, ob eine Per­son sank­tio­niert wer­den soll? Wel­che neu­en Her­aus­for­de­run­gen stel­len sich?

Free­dom

Auf den Sturm auf die Bas­til­le 1789 folg­te die blu­ti­ge Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on, die Abschaf­fung der Mon­ar­chie und Jah­re des Krie­ges und der Dik­ta­tur. Es dau­ert lan­ge, bis sich im Span­nungs­feld von Eman­zi­pa­ti­on und Auto­ri­ta­ris­mus eine Demo­kra­tie durch­set­zen konn­te. Der Pro­zess hört nie auf. 

Die Dis­kus­sio­nen um das ​„Pro­blem Face­book“ sind in der Brei­te lei­der noch nicht auf der poli­ti­schen Ebe­ne ange­kom­men, son­dern ver­blei­ben zumeist auf der wirt­schaft­li­chen. Doch um den legi­ti­men For­de­run­gen der Nutzer*innen nach Ver­än­de­rung nach­zu­kom­men, wird das nicht rei­chen. Eine der wich­tigs­ten Fra­gen der nächs­ten Mona­te und Jah­re wird es sein, wie wir den Wech­sel zu einer Demo­kra­tie im ​„Staa­te“ Face­book hin­be­kom­men, wie wir sol­che staats­ähn­li­chen Struk­tu­ren online auf demo­kra­ti­schen Prin­zi­pi­en auf­bau­en und wie wir Nutzer*innen unse­re Frei­heits- und Teil­ha­be­rech­te an der digi­ta­len Öffent­lich­keit ergrei­fen können. 

Und das Gan­ze mög­lichst ohne Guillotinen.


Autor*in

tan­te beschäf­tigt sich als unab­hän­gi­ger Theo­rist mit sozio­tech­ni­schen Sys­te­men, ins­be­son­de­re mit den poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Aus­wir­kun­gen der Ein­füh­rung und Nut­zung von Tech­no­lo­gi­en. Er ist Grün­dungs­mit­glied des trans­dis­zi­pli­nä­ren Other­wi­se Net­work, in dem die Digi­ta­li­sie­rung kri­tisch und ein­ord­nend beglei­tet wird. 

Was wäre, wenn…

… Social Media den Nutzer*innen gehören würde?

Im 5. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Social Media Nutzer*innen. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.

Weitere Artikel zum was wäre wenn-Thema “Social Media Nutzer*innen”: