Gestapelte Demokratie

Wer die Vor­tei­le der gro­ßen Platt­for­men erhal­ten will, muss die ver­schie­de­nen Reform­ide­en kom­bi­nie­ren: User-Räte, zen­tra­les Meta-Gover­nan­ce, föde­rier­te Instan­zen. Eine Anleitung. Ein Text von Michael Seemann.
social media demokratie mitbestimmen
Aus dem 5. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn Social Media den Nutzer*innen gehören würde?

Es ist eine Hass­lie­be, die die Gesell­schaft mit den Platt­for­men wie Face­book und You­tube pflegt. Auf der einen Sei­te geben sie vie­len Men­schen das ers­te Mal eine Stim­me, mit der sie sich in der Öffent­lich­keit arti­ku­lie­ren kön­nen, oft sogar poli­tisch (es gab zumin­dest mal eine Zeit, als das als etwas Gutes galt). Auf der ande­ren Sei­te han­delt es sich um Wirt­schafts­un­ter­neh­men, die jeden Cent aus unse­rer Auf­merk­sam­keit und unse­ren per­sön­li­chen Daten pres­sen wol­len. Zudem ähneln die­se Orte weni­ger öffent­li­chen Plät­zen, als viel­mehr pri­va­ten Ein­kaufs­zen­tren, in denen man nur wenig bis kei­ne Rech­te und Mit­be­stim­mungs­mög­lich­kei­ten hat.

Es ist des­we­gen nahe­lie­gend, eine Demo­kra­ti­sie­rung die­ser Platt­for­men zu for­dern, wenn wir sol­che Infra­struk­tu­ren schon mit unse­ren Mei­nun­gen und Daten füt­tern. Was das heißt oder hei­ßen kann, ist ein wei­tes Feld und im Detail eine schwie­ri­ge Dis­kus­si­on. Daher ori­en­tie­ren sich hier mei­ne For­de­run­gen nach Demo­kra­ti­sie­rung an den Model­len und Kon­zep­ten, die wir aus den west­li­chen Indus­trie­na­tio­nen ken­nen: Wir wol­len gewis­se Rech­te haben, wir wol­len mit­be­stim­men, wo die Rei­se hin­geht, wir wol­len Min­dest­stan­dards der Mode­ra­ti­on, Trans­pa­renz sowie nach­voll­zieh­ba­re Pro­zes­se. Und wir wol­len, dass die enor­me Macht die­ser Platt­for­men nicht miss­braucht wird.

Doch wie genau soll das pas­sie­ren? Platt­for­men sind kei­ne Staa­ten, wir kön­nen deren Kon­zep­te nicht eins zu eins über­tra­gen. Zunächst möch­te ich vier Mög­lich­kei­ten der Demo­kra­ti­sie­rung von Platt­for­men vor­stel­len, ihre Vor- und Nach­tei­le dis­ku­tie­ren und am Ende einen Lösungs­vor­schlag unterbreiten.

1. Ver­ge­sell­schaf­te­te Monopole

Ein Pro­blem, das bei Platt­for­men immer wie­der auf­taucht, ist ihre Ten­denz zum Mono­pol. Face­book, Ama­zon und Goog­le sind jeweils auf ihrem Gebiet markt­be­herr­schend. Bei der Pro­ble­ma­ti­sie­rung wird jedoch oft ver­ges­sen zu erwäh­nen, dass die Mono­po­li­sie­rung auch nütz­li­che Sei­ten für die Nutzer*innen hat. Stel­len wir uns vor, unse­re Freun­de wären auf zig unter­schied­li­che Soci­al Net­works ver­teilt, Ama­zon hät­te nur dies und das im Ange­bot und Goog­le wür­de nur etwa ein Drit­tel des Webs ken­nen. Geben wir es zu: alles (Freun­de, Pro­duk­te, Such­ergeb­nis­se) an einer Stel­le zu haben, ist ziem­lich praktisch.

Viel­leicht soll­te man aus die­sen Grün­den Mono­po­le auch nicht zer­schla­gen, son­dern eher ver­ge­sell­schaf­ten. Das muss nicht Ver­staat­li­chung bedeu­ten, es kann auch bedeu­ten, dass wir alle Anteilseigner*innen einer rie­sen­gro­ßen Genos­sen­schaft wer­den. Die Idee der ​„Plat­form Coope­ra­ti­ves“ wird bereits in vie­len US-Städ­ten erprobt. Wir hät­ten Stimm­an­teil, wenn es um Grund­satz­ent­schei­dun­gen geht und wür­den die Gewin­ne unter­ein­an­der auf­tei­len. Zusätz­lich könn­ten wir eini­ge der insti­tu­tio­nel­len Struk­tu­ren, die über die letz­ten Jahr­hun­der­te Staa­ten über­ge­stülpt wur­den, auch bei Platt­for­men aus­pro­bie­ren: Gewal­ten­tei­lung, bzw. Checks & Balan­ces, eine Art unab­hän­gi­ge Jus­tiz, die Kon­flik­te auf der Platt­form behan­delt, Insti­tu­tio­nen, die Insti­tu­tio­nen kon­trol­lie­ren, indi­vi­du­el­le Rech­te, Min­der­hei­ten­schutz, etc. Am Ende wür­den wir Ent­schei­dun­gen über die Wei­ter­ent­wick­lung und Aus­ge­stal­tung von Platt­for­men mit ech­ter, poli­ti­scher Legi­ti­mi­tät ausstatten.

Das hät­te natür­lich auch Nach­tei­le. Es wür­de zunächst die Struk­tu­ren enorm läh­men und Pro­zes­se ver­lang­sa­men, Inno­va­tio­nen bräuch­ten Ewig­kei­ten, um bei den Nutzer*innen anzu­kom­men. Alle Ent­schei­dun­gen wür­den in Ver­hand­lun­gen zwi­schen ver­schie­de­nen Inter­es­sen­grup­pen ver­wäs­sert, wie wir es aus der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie ken­nen. Ama­zon sieht aus, wie Jeff Bezos es will. Wie sähe es aus, wenn sich CDU und SPD auf einen Ent­wurf eini­gen müss­ten? Aber selbst, wenn wir davon aus­gin­gen, dass die Leu­te nicht in Scha­ren davon­lie­fen, hät­ten wir immer noch einen unglaub­lich mäch­ti­gen Koloss vor uns, der uns her­um­schub­sen könn­te. Wenn wir etwas aus den paar tau­send Jah­ren Demo­kra­tie­ge­schich­te gelernt haben, dann, dass auch demo­kra­ti­sche Struk­tu­ren ins tyran­ni­sche kip­pen kön­nen. Was ist, wenn die Kon­ser­va­ti­ven einen Über­wa­chungs­alb­traum instal­lier­ten, oder gar Nazis die Kon­trol­le über­näh­men? Da wäre mir per­sön­lich die poli­tisch ver­gleichs­wei­se indif­fe­ren­te Zucker­berg-Herr­schaft lieber.

2. Ver­teil­te Infrastruktur

Libe­ra­le bis liber­tä­re (und meist tech­no­lo­gie­af­fi­ne) Kräf­te ver­fol­gen des­we­gen einen ande­ren Ansatz: Sie wol­len grund­sätz­lich weg von den gro­ßen, zen­tra­len Infra­struk­tu­ren und die­se statt­des­sen direkt in die Hän­de der Leu­te ver­tei­len. Sie stört nicht nur, dass eine Art dik­ta­to­ri­sches Regime in ihr Leben rein­re­giert, son­dern dass über­haupt irgend­wer es wagt, ihnen zu sagen, was sie zu tun und zu las­sen haben. Kei­ne Macht für niemand!

Ihr Ansatz ist es, die Funk­tio­na­li­tät der Platt­for­men auf ein über die Nutzer*innen ver­teil­tes Pro­to­koll zu über­tra­gen, einen tech­ni­schen Stan­dard, der es erlaubt, dass unter­schied­li­che Instan­zen einer Soft­ware mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­ren können. 

Am bes­ten soll­ten die Fea­tures und Funk­tio­nen kom­plett im Pro­to­koll imple­men­tiert sein. Wer eine Soft­ware hat, die mit dem Pro­to­koll spre­chen kann (auf dem Han­dy, durch die Instal­la­ti­on einer bestimm­ten App oder durch die Instal­la­ti­on einer Soft­ware auf dem Com­pu­ter), darf mit­ma­chen. Auf die­se Art sind alle mit­ein­an­der ver­netzt die das wol­len, ohne dass irgend­wer fähig wäre Kon­trol­le über das Netz­werk aus­zu­üben, irgend­je­man­den aus­zu­schlie­ßen oder zu bestra­fen. Nie­man­dem ​„gehört“ das Netz­werk und Ent­schei­dun­gen kön­nen per se nicht gegen die Com­mu­ni­ty getrof­fen werden. 

Auch die­ser Ansatz hört sich auf dem Papier erst­mal pri­ma an, hat aber mit eini­gen Schwie­rig­kei­ten zu kämp­fen. Zunächst wäre da die tech­ni­sche Umsetz­bar­keit, denn ver­teil­te Netz­wer­ke müs­sen auch über eine ver­teil­te Daten­hal­tung ver­fü­gen. All die Nutzer*innen-Accounts und Kom­mu­ni­ka­tio­nen müs­sen schließ­lich irgend­wo gespei­chert und für die jewei­li­gen Netz­werk­kno­ten ver­füg­bar gehal­ten wer­den. Bei den grund­le­gen­den Pro­to­kol­len des Inter­nets (TCP/IP) funk­tio­niert das, weil da nicht jeder Rech­ner jeden ande­ren Rech­ner ken­nen muss, damit das Rou­ting funk­tio­niert, aber bei Face­book wäre das schon blöd wenn ich mei­ne Freun­de nicht mehr fände. 

Auch eine sol­che ver­teil­te Infra­struk­tur hät­te das Pro­blem, dass es wahn­sin­nig zäh wäre, sie wei­ter zu ent­wi­ckeln. Wie man bei der Tran­si­ti­on des Inter­net­pro­to­kolls von IPv4 auf IPv6 sieht, kann so ein grund­le­gen­der Ein­griff schon mal 30 Jah­re dau­ern — und er ist bis heu­te nicht voll­zo­gen. Wäh­rend Goog­le-CEO Sun­dai Pichar nur einen Hebel bedie­nen muss, um die Such­ma­schi­ne kom­plett umzu­ge­stal­ten, müs­sen bei viel genutz­ten Pro­to­kol­len Mil­lio­nen Men­schen Mil­lio­nen Hebel umstel­len, bevor irgend­was pas­siert. Pro­to­kol­le sind enorm strukturkonservativ.

Aber selbst wenn man eine tech­ni­sche Lösung für all das fin­den wür­de, wür­den die Pro­ble­me erst rich­tig los­ge­hen. Ein kom­plett pro­to­koll­ba­sier­tes Netz­werk wäre kaum mode­rier­bar – was ja gera­de von deren Enthu­si­as­ten auch als Vor­zug geprie­sen wird. Tota­le Mei­nungs­frei­heit! Aber gera­de im Inter­net las­sen sich vie­le Bei­spie­le fin­den, wie unmo­de­rier­te Räu­me in eine ras­sis­ti­sche und sexis­ti­sche Jau­che­gru­be umkip­pen. Auch das ist kei­ne wirk­li­che Demo­kra­tie, denn das Feh­len von for­mel­len Aus­schlüs­sen pro­du­ziert infor­mel­le: Min­der­hei­ten und Frau­en wer­den sys­te­ma­tisch aus sol­chen Räu­men her­aus­ge­mobbt. Einen unmo­de­rier­ten, ​„regie­rungs­frei­en“ Raum kann sich nur jemand wün­schen, der noch nie von Ver­fol­gung und Dis­kri­mi­nie­rung betrof­fen war, wes­we­gen liber­tä­re Tech-Bros, die sowas fei­ern, in der Regel auch männ­lich, weiß und hete­ro­se­xu­ell sind.

Die­se wären auf einer solch pseu­do-ega­li­tä­ren Platt­form auch noch des­we­gen bevor­teilt, weil tech­ni­sche Fines­se für den Erfolg auf der Platt­form ent­schei­dend sein dürf­te. Am Ende hät­ten wir also eine sehr häss­li­che Form der Tech-Bro-Olig­ar­chie statt Demo­kra­tie – es wäre nicht viel gewonnen.

3. Dezen­tra­le Instanzen

Es gibt noch eine Art Kom­pro­miss aus den ers­ten bei­den Ansät­zen, den ich vor­stel­len möch­te. Auch hier ist das Pro­to­koll ent­schei­dend und bil­det vie­le Funk­tio­nen des Netz­werks ab, aber für die Daten­hal­tung und wesent­li­che Pro­zes­se braucht es durch­aus noch Instan­zen mit ange­schlos­se­ner Daten­bank. Das sind Ser­ver, bei denen sich Nutzer*innen regis­trie­ren kön­nen, die Inhal­te sen­den, emp­fan­gen, spei­chern und bereit­hal­ten. Bei­spie­le dafür gibt es eini­ge: Zum Bei­spiel das mitt­ler­wei­le in die Jah­re gekom­me­ne Dia­spo­ra* und das nach wie vor quir­li­ge Mastodon. Es sind Ser­ver, die sich jede*r instal­lie­ren kann und von denen User*innen über Ser­ver­gren­zen hin­weg in Kon­takt tre­ten, dar­in ver­gleich­bar mit Email, wo Nutzer/​innen ja auch zwi­schen unter­schied­li­chen Email-Anbie­tern kom­mu­ni­zie­ren können.

Auf den ers­ten Blick ver­eint die­ser Ansatz eini­ge der Vor­tei­le bei­der Wel­ten – der zen­tra­len und der ver­teil­ten. Das Pro­to­koll ist nicht ganz so kom­plex und die Daten­hal­tung nicht ganz so auf­wän­dig wie beim ver­teil­ten Pro­to­koll-Ansatz, was die tech­ni­sche Umset­zung ein­fa­cher macht. Mode­ra­ti­on ist auf den jewei­li­gen Ser­vern durch­aus mög­lich, wenn auch lokal auf die jewei­li­ge Instanz beschränkt. Bei Mastodon kann man zum Bei­spiel auch Instan­zen von­ein­an­der ent­kop­peln, wenn man meint, mit ihr nicht kom­mu­ni­zie­ren zu wol­len. Man kann so auch unter­schied­li­che Mode­ra­ti­ons- oder gar Mit­be­stim­mungs-Regime neben­ein­an­der betrei­ben und Nutzer*innen kön­nen sich danach ent­schei­den, wo sie sich regis­trie­ren. Gleich­zei­tig gibt es kei­ne glo­ba­le Instanz, die all­zu viel Macht akku­mu­lie­ren und die eige­nen Regeln und Inter­es­sen allen Instan­zen auf­ok­troy­ie­ren könnte. 

Aber natür­lich gibt es auch hier Pro­ble­me. Durch die Ver­teilt­heit der Daten ist es schwie­rig, sei­ne Kommunikationspartner*innen zu fin­den, oder auch nur span­nen­de Inhal­te über die Suche. Eine glo­ba­le Such­funk­ti­on, die fähig wäre, alle Ser­ver zu durch­su­chen, wird zwar ange­strebt, ist aber tech­nisch nur schwer umzu­set­zen und außer­dem daten­schutz­tech­nisch oft gar nicht erwünscht. Das schränkt Wachs­tum, Nutzer*innenfreundlichkeit und Netz­werk­ef­fek­te ein.

Gleich­zei­tig kauft man sich eini­ge Pro­ble­me des Pro­to­kollan­sat­zes ein, bei­spiels­wei­se die zähe Wei­ter­ent­wi­ckel­bar­keit. Auch hier müs­sen immer­hin hun­der­te Leu­te hun­der­te Hebel in Bewe­gung set­zen, damit eine Neue­rung alle Nutzer*innen erreicht.

In der Pra­xis stellt sich zudem her­aus, dass Mode­ra­ti­on auch im klei­ne­ren Maß­stab ein Job ist, der zumin­dest die Teilzeitbetreiber*innen der Instan­zen oft über­for­dert. Aber mit wel­chen Mit­teln sol­len sie Leu­te anstel­len? Geld ver­die­nen ist schwie­rig bis unmög­lich mit einem Ser­vice, den im Zwei­fel jede*r anbie­ten kann. Und da viel Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen den Instan­zen statt­fin­det, kommt es auch immer wie­der zu kon­f­li­gie­ren­den Moderationsstandards. 

In der Pra­xis sind die­se Ansät­ze wegen der vie­len Pro­ble­me zwar durch­aus gang­bar, aber immer nur begrenzt erfolg­reich. Sie zie­hen oft nur Idealist*innen an, die dann im vir­tu­el­len Sitz­kreis davon erzäh­len, wie schlimm die kom­mer­zi­el­len Platt­for­men doch sind und ver­si­chern sich der Über­le­gen­heit ihres tech­ni­schen Ansatzes. 

4. Markt­ba­sier­te Monopole

Als letz­tes möch­te ich den Ist­zu­stand skiz­zie­ren, weil er zwar offen­sicht­lich scheint, aber aus unse­rer jetzt gewon­nen Per­spek­ti­ve ver­dient, eben­falls mit sei­nen Vor- und Nach­tei­len ein­ge­ord­net zu werden.

Markt­ba­sier­te Mono­po­le wie Face­book oder Ama­zon haben den offen­sicht­li­chen Vor­teil, dass sie ihre tech­ni­sche, wirt­schaft­li­che und sozia­le Mach­bar­keit bereits unter Beweis gestellt haben. Einer der Grün­de dafür wird sein, dass sie mit vie­len Schwie­rig­kei­ten der demo­kra­ti­sche­ren Her­an­ge­hens­wei­sen nicht zu kämp­fen haben: Ihre Ent­wick­lungs­zy­klen sind kurz, das Aus­rol­len von Fea­tures ist schnell und unpro­ble­ma­tisch und erfolgt regel­mä­ßig. Durch die zen­tra­le Daten­spei­che­rung erlau­ben sie eine gute Durch­such­bar­keit, was die poten­ti­el­len Netz­werk­ef­fek­te der Platt­for­men voll aus­schöpft. Die­se Fir­men sind mit hin­rei­chen­dem Kapi­tal aus­ge­stat­tet, was ihnen nicht nur erlaubt, ihre Platt­for­men schnell wei­ter zu ent­wi­ckeln, son­dern auch die enorm res­sour­cen­auf­wen­di­ge Mode­ra­ti­on zu bewerk­stel­li­gen (auch wenn sie da noch viel Luft nach oben haben).

Markt­ver­fech­ter wür­den an die­ser Stel­le noch anfü­gen, dass Demo­kra­tie doch schon des­we­gen umge­setzt sei, weil man eine Platt­form jeder­zeit wech­seln kann. Demo­kra­tie mit den Füßen sozusagen.

Dass die­ses Nar­ra­tiv ange­sichts der sprich­wört­li­chen Mono­pol-Ten­den­zen der Platt­for­men wenig glaub­haft ist, wäre nur das ers­te Pro­blem. Als Konsument*innen haben wir nur eine Pseu­do­wahl zwi­schen den Anbie­tern – wir gehen mit gutem Grund dahin, wo die Pro­duk­te sind, die wir kau­fen wol­len, oder die Freun­de sind, mit denen wir kom­mu­ni­zie­ren wol­len. Das Pro­blem nennt man Lock-In-Effekt und wird von gewinn­ori­en­tier­ten Platt­for­men natür­lich for­ciert. Am Ende ist man doch einem Regime qua­si aus­ge­lie­fert, womit wir wie­der am Anfang wären.

Es gibt aber noch einen wenig beach­te­ten Nach­teil kom­mer­zi­el­ler Platt­for­men: Um ein Geschäfts­mo­dell zu haben, müs­sen sie den Zugang zu bestimm­ten Din­gen auf der Platt­form künst­lich ein­schrän­ken. Sei­en es unse­re Daten, unse­re Auf­merk­sam­keit, der Zugang zu bestimm­ten Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tools oder gar unse­ren Freun­den, etc. – Irgend­wo braucht es eine Schran­ke, damit irgend­wer Geld bezah­len muss, um sie zu über­win­den. Das heißt im End­ef­fekt, dass alle kom­mer­zi­el­le Platt­for­men gezwun­gen sind, ihre Diens­te künst­lich schlech­ter zu machen, als sie sein müssten. 

Die Lösung heißt Stapel

An die­ser Stel­le lässt sich bereits das Fazit zie­hen, dass es zwar vie­le Ansät­ze zur Demo­kra­ti­sie­rung von Platt­for­men gibt, sie aber alle ihre Pro­ble­me und Fall­stri­cke haben, von denen sich nicht weni­ge als fatal erwei­sen wer­den. Ich möch­te des­we­gen kei­nen der vor­ge­stell­ten Ansät­ze emp­feh­len — son­dern einen Mix dar­aus. Genau­er: einen Stapel.

Pro­to­kol­le kom­men ger­ne in Form von Sta­peln daher. Das ist eine meta­pho­ri­sche Betrach­tung davon, wie Pro­to­kol­le mit­ein­an­der zusam­men­ar­bei­ten. Ein berühm­tes Bei­spiel ist das Inter­net selbst, der Pro­to­koll­sta­pel TCP/IP, bei dem Pro­to­kol­le auf der Vor­ar­beit von ande­ren Pro­to­kol­len auf­set­zen, auf deren Grund­la­ge dann wei­te­re Pro­to­kol­le arbei­ten, etc. Die Ebe­nen arbei­ten jeweils von­ein­an­der unab­hän­gig, so dass sich auf die­se Wei­se eine auf­ein­an­der auf­bau­en­de Kom­ple­xi­tät mana­gen lässt, die eine ver­gleichs­wei­se gro­ße Fle­xi­bi­li­tät und Hete­ro­ge­ni­tät der Ansät­ze erlaubt. Das heißt, man kann zum Bei­spiel ein­zel­ne Pro­to­kol­le auf ihrer jewei­li­gen Ebe­ne durch ande­re erset­zen, ohne dass der Gesamt­sta­pel auf­hört zu funktionieren.

Wenn wir die Sta­pel­me­ta­pher zur Grund­la­ge unse­rer Demo­kra­tie­über­le­gung machen, stel­len wir fest, dass wir uns gar nicht für nur eines der vor­ge­stell­ten Model­le ent­schei­den müs­sen. Wir kön­nen auch ver­su­chen, einen Sta­pel zu desi­gnen, der in sei­nen jewei­li­gen Schich­ten die ein­zel­nen Ansät­ze mit­ein­an­der ver­bin­det und so ​„the best of all worlds“ mit­ein­an­der verknüpft. 

Das Modell: gesta­pel­te Demokratie

Ein wie­der­keh­ren­des Pro­blem bei den unter­schied­li­chen Demo­kra­ti­sie­rungs­an­sät­zen ist der Wider­spruch zwi­schen Demo­kra­ti­sie­rung und Agi­li­tät. Je ​„demo­kra­ti­scher“ ein Ansatz ist, des­to zäher ist sei­ne Wei­ter­ent­wick­lung. Das gilt für die ver­ge­sell­schaf­te­ten Mono­po­le, noch mehr für die ver­teil­ten Pro­to­kol­le und gemin­dert auch für die dezen­tra­len Instanzen. 

Nun haben Pro­to­koll­sta­pel die Eigen­schaft, dass die unters­te Ebe­ne die kon­ser­va­tivs­te ist. Die­se Ebe­ne zu ändern ist auf­wän­di­ger als die dar­über lie­gen­den Ebe­nen, da alle nach­kom­men­den immer von der unters­ten Ebe­ne abhän­gig blei­ben. Das heißt: Je tie­fer man in den Pro­to­koll­sta­pel ein­greift, des­to behut­sa­mer und gedul­di­ger muss man sein. 

Dar­aus ergibt sich logi­scher­wei­se fol­gen­des Design: Unser Modell soll­te je nach Fle­xi­bi­li­täts- und Demo­kra­tie­an­for­de­run­gen von oben nach unten anstei­gend kon­ser­va­tiv und gleich­zei­tig demo­kra­ti­scher defi­niert sein. Oben kom­men die weni­ger demo­kra­ti­schen, dafür umso agi­le­ren Ebe­nen zum Tra­gen, doch je tie­fer wir gehen, des­to mehr Demo­kra­ti­sie­rungs­kon­zep­te wer­den imple­men­tiert und im Lay­er festgeschrieben.

Ich wer­de hier nun in einem wag­hal­si­gen Manö­ver ein Demo­kra­ti­sie­rungs­kon­zept für Platt­for­men ent­wer­fen, von dem ich glau­be, dass es so oder so ähn­lich funk­tio­nie­ren könn­te. Dafür den­ke ich mir der Ein­fach­heit hal­ber das Modell eines Soci­al Net­works aus, das demo­kra­tisch, aber doch funk­tio­nal orga­ni­siert sein kann. Es hat vier Schich­ten und ich nen­ne es im Fol­gen­den nur ​„Das Modell“.

Obers­te Schicht: Client-Markt

Im Sta­pel­mo­dell des Inter­nets ist die obers­te Schicht der so genann­te ​„App­li­ca­ti­on-Lay­er“, also im Grun­de das, womit die Nutzer*innen tag­täg­lich ope­rie­ren: Web­sites, Mail-Cli­ents, Apps. Auch in unse­rem Modell wol­len wir hier ein­stei­gen, näm­lich bei den ​„Cli­ents“. Cli­ents sind Soft­ware, die man sich auf dem Tele­fon oder Com­pu­ter instal­lie­ren kann und über die man mit Ser­vices kom­mu­ni­ziert. Etwa ein Twit­ter-Cli­ent oder ein Email-Cli­ent — in unse­rem Fall also ein ​„Modell-Cli­ent“.

In unse­rem Modell bil­den die Cli­ents einen ganz nor­ma­len Markt, in den jede*r ein­stei­gen kann. Man­che kos­ten Geld oder haben ein ande­res Geschäfts­mo­dell, ande­re sind Open Source. So lan­ge sie fähig sind, mit den dar­un­ter­lie­gen­den Ebe­nen zu kom­mu­ni­zie­ren, dür­fen sie mit­spie­len. Das hat den Vor­teil, dass sich auf die­ser Ebe­ne enorm schnell Neue­run­gen erge­ben und durch­set­zen kön­nen. Klar, der Markt wird hier sicher über Zeit sei­ne Lieb­lin­ge her­aus­men­deln, aber mit etwas Markt­kon­zen­tra­ti­on kön­nen wir auf die­ser Ebe­ne gut leben, so lan­ge die dar­un­ter lie­gen­de Ebe­ne der föde­rier­ten Instan­zen durch ihre Hete­ro­ge­ni­tät bei gleich­zei­ti­ger Inter­ope­ra­bi­li­tät einen Lock-In unter­bin­den. Was das bedeu­tet wird im nächs­ten Absatz gezeigt.

Zwei­te Schicht: föde­rier­te Instanzen

Hubs sind Ser­ver-Instan­zen, die gemäß des dezen­tra­len Ansat­zes ihre jewei­li­gen User-Basen ver­wal­ten. Dass sie ​„inter­ope­ra­bel“ sind, bedeu­tet, dass man auf sie mit jedem belie­bi­gen Cli­ent zugrei­fen wer­den kann und dass die Instan­zen selbst unter­ein­an­der Kom­mu­ni­ka­ti­on ermög­li­chen. Für User*innen bedeu­tet das, dass sie weder an einen bestimm­ten Cli­ent, noch an eine bestimm­te Instanz gebun­den sind.

Ein­zel­ne Instan­zen kön­nen sich sowohl von den Fea­tures, als auch von der demo­kra­ti­schen Struk­tur ihres Regimes unter­schei­den. User*innen kön­nen sich so aus­su­chen, wel­che Mode­ra­ti­ons- und Mit­be­stim­mungs­re­gime für sie am bes­ten pas­sen. Den Instan­zen liegt ein gemein­sa­mes Basis­code zugrun­de, der sie wie ein gemein­sa­mer Nen­ner verbindet.

Auch in der poli­ti­schen Aus­ge­stal­tung ihres Regimes haben die Instan­zen weit­ge­hen­de Frei­hei­ten, solan­ge sie gewis­se Min­dest­stan­dards erfül­len, die von der dar­un­ter lie­gen­den Ebe­ne — dem zen­tra­len Meta-Gover­nan­ce — defi­niert werden.

Drit­te Schicht: Zen­tra­les Meta-Governance

Das ​„Met­ago­ver­nan­ce“ ist die ver­all­ge­mei­ner­te, poli­ti­sche Ebe­ne des Modells und besteht aus vier Organen: 

  1. Der Ent­wick­ler-Rat besteht aus Vertreter*innen der Entwickler*innen der Code­ba­sis, sowie der unter­schied­li­chen Dis­tri­bu­tio­nen und den Betreiber*innen der Instan­zen. Er beschließt alle paar Wochen wich­ti­ge Wei­chen­stel­lun­gen für die Codebasis. 
  2. Die­ser wird dabei vom User-Rat kon­trol­liert, einem Organ an dem User*innen jeweils pro­por­tio­nal zur Grö­ße der Instan­zen ange­hö­ren. Die Mit­glie­der des User-Rats wer­den ein­mal im Jahr per Los bestimmt und kön­nen mit ein­fa­cher Mehr­heit ein Veto gegen jede Ent­schei­dung des Ent­wick­ler-Rats einlegen.
  3. User-Rat und Ent­wick­ler-Rat bil­den gemein­sam den Modell-Rat und beschlie­ßen Ände­run­gen am soge­nann­ten Meta-Gover­nan­ce-Frame­work. Das ist ein Doku­ment, das Min­dest­stan­dards für die Regimes der Instan­zen fest­legt. Eine Art Grund­ge­setz, in dem Mit­be­stim­mungs­mög­lich­kei­ten, Gewal­ten­tei­lung, Eck­punk­te eines Jus­tiz­sys­tems und Min­der­hei­ten­schutz fest­ge­schrie­ben sind. Eine wei­te­re Regel ist, dass alle Instan­zen des Modells mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­ren kön­nen müs­sen. Eine Ände­rung des Frame­works erfor­dert eine Zwei­drit­tel­mehr­heit des Modell-Rats.
  4. Das Schieds­ge­richt ist das drit­te Organ der Meta-Gover­nan­ce. Es besteht aus juris­tisch gebil­de­ten Vertreter*innen von User-Rat und/​oder Ent­wick­ler-Rat, die von und aus bei­den Orga­nen für jeweils fünf Jah­re gewählt wer­den. Das Schieds­ge­richt ent­schei­det Meta­kon­flik­te sowohl auf User- als auch auf Instanz-Basis. Zudem ver­wal­tet es die soge­nann­te ​„Meta­da­ten­bank“.

Die Meta­da­ten­bank ist in ers­ter Linie eine Lis­te der Instan­zen, die sich den Min­dest­stan­dards der Meta-Gover­nan­ce unter­ord­nen. Eine Auf­ga­be der Meta­da­ten­bank ist es, die Streams mit Daten der Instan­zen und Nutzer*innen auf­zu­neh­men und damit öffent­lich auf­find­bar zu machen, sofern sie das wol­len. Cli­ents (ers­te Schicht) unter­schei­den sich vor allem auch dar­in, wie gut sie die Daten der Meta­da­ten­bank aus­wer­ten, um sie ihren Nutzer*innen zum Bei­spiel als per­so­na­li­sier­ten News-Stream oder als Inhal­te-Suche ver­füg­bar zu machen.

Unters­te Schicht: Protokoll

Die unters­te Ebe­ne soll­te das eigent­li­che Pro­to­koll sein, denn es ist schwer zu ver­än­dern und gleich­zei­tig schwer zu kon­trol­lie­ren. Es gehört allen, wie die Spra­che und wie die Spra­che ver­än­dert es sich nur in Zeit­lu­pe. Das Pro­to­koll ist ein Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stan­dard, der einer­seits gene­risch genug ist, alle denk­ba­ren Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fäl­le abzu­bil­den, aber auch kon­kret genug ist, dass es die Last vie­ler Ent­schei­dun­gen von den Schul­tern der Ini­stan­zen und ihren Entwickler*innen nimmt.

Das Pro­to­koll kann nur durch eine Zwei­drit­tel­mehr­heit des Ent­wick­ler-Rates geän­dert wer­den, der User-Rat kann das mit ein­fa­cher Mehr­heit aber ver­hin­dern. Ein Fea­ture kann nur dann in das Pro­to­koll auf­ge­nom­men wer­den, wenn es bereits erfolg­reich in min­des­tens zwei Instan­zen imple­men­tiert wur­de und dort auch zwi­schen die­sen getes­tet wor­den ist. 

TBD — To be discussed

Obwohl hier der Platz dafür fehlt, muss mit­ge­dacht wer­den, dass die Finan­zie­rungs­struk­tur essen­ti­ell ist. Alle Demo­kra­ti­sie­rungs­struk­tur ist hin­fäl­lig, sobald das Modell finan­zi­ell vom Wohl und Wehe weni­ger Akteu­re abhängt. 

Das ist natür­lich nur eine frei­hän­di­ge Skiz­ze mit vie­len Lücken und mit Sicher­heit vie­len klei­nen Teu­fel­chen im unaus­ge­führ­ten Detail. Sie adres­siert aber zumin­dest die offen­sicht­lichs­ten Pro­ble­me der vier oben genann­ten Demo­kra­ti­sie­rungs­an­sät­ze. Auch wenn man nicht allen Ide­en, Kon­zep­ten und von mir ent­wor­fe­nen Insti­tu­tio­nen zustimmt und alles ganz anders bau­en wür­de, hof­fe ich, zumin­dest gezeigt zu haben, dass ein sta­pel­ar­ti­ger Auf­bau für Platt­for­men ein nütz­li­ches Kon­zept ist. Mei­ne Hoff­nung ist, dass dies als eine Blau­pau­se oder Anre­gung für wei­te­re Dis­kus­sio­nen und Model­le die­nen kann.


Autor*in

Micha­el See­mann arbei­tet als Blog­ger und frei­er Autor für ver­schie­de­ne Medi­en in Ber­lin. Der Kul­tur­wis­sen­schaft­ler beschäf­tigt sich vor allem mit den The­men Whist­leb­lo­wing, Daten­schutz, Urhe­ber­recht, Inter­net­kul­tur und Platt­for­men. Zum digi­ta­len Kon­troll­ver­lust hat er ein Buch geschrie­ben. [Foto: Stef­fi Roßdeutscher]

Was wäre, wenn…

… Social Media den Nutzer*innen gehören würde?

Im 5. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Social Media Nutzer*innen. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.

Weitere Artikel zum was wäre wenn-Thema “Social Media Nutzer*innen”: