Aus dem 5. Teil der was wäre wenn-Reihe:
Was wäre, wenn Social Media den Nutzer*innen gehören würde?
Das Internet ist kaputt. So, wie wir es heute kennen, ist es nicht das Internet, wie es ursprünglich geplant war. Im Kern basierte seine Idee auf verteilten Systemen. Es gibt keinen zentralen Server, es gibt keine zentrale Macht, jede Person kann ihre eigenen Dienste betreiben und darauf tun und lassen, was sie will. So war die große Utopie der Pioniere: Ein unvermessener Kontinent, eine Sphäre der Freiheit, die allen die gleichen Rechte einräumt zu kommunizieren, Informationen zu teilen, Verbindungen zu knüpfen.
Das moderne Internet funktioniert anders. Die eigenen Gedanken werden nicht mehr auf der eigenen Webseite veröffentlicht, sondern auf Facebook. Bilder werden nicht mehr in ein Fotoalbum geklebt, sondern über WhatsApp verteilt. Wichtige Daten werden nicht mehr zuhause aufbewahrt, sondern in die Dropbox geladen. Statt die Daten auf viele kleine und unabhängige Dienste aufzuteilen, hat sich eine Abhängigkeit von einer Handvoll zentraler Dienste entwickelt, die Unmengen von Daten an einem Ort sammeln und auswerten. Statt in der großen Freiheit, bewegen wir uns zumeist auf recht engem Raum. Diese Entwicklung ist nicht überraschend, denn diese Dienste sind sofort verfügbar, einfach zu bedienen und meist kostenfrei. Kein Wunder, dass wir uns verlocken ließen.
Das zentrale Internet schadet
Doch die Abhängigkeit von großen und zentralen Diensten entspricht eben nicht der Idee des Internets. Und diese Abhängigkeit ist gefährlich. Denn diese müssen finanziert werden. Aktuell geschieht das meist über das Einblenden von Werbung, ein hoch profitables Geschäft, das aber auf Kosten der Privatsphäre jeder einzelnen Nutzerin geht. Und je größer die Dienste und die Menge an Daten, die dort gespeichert werden, desto attraktiver werden diese Dienste für Angreiferinnen.
Zwar haben wir bis heute noch keine gravierenden Sicherheitslücken in Systemen wie Facebook oder Google gesehen, aber die Vergangenheit zeigt, dass das nur eine Frage der Zeit ist. Selbst wenn bei einem Angriff keine Daten abgegriffen werden, könnten Systeme für Millionen von Nutzerinnen lahmgelegt werden. Schon allein deshalb ist die fortschreitende Zentralisierung des Internets keine gute Idee. Wo ist also der Ausgang aus dieser selbstverschuldeten Zentralisiertheit?
Die Gegenbewegung
Das Projekt diaspora* knüpft dort an, wo die Utopie noch lebendig war. Es hat zum Ziel, die Kommunikation zwischen Menschen wieder so aussehen zu lassen, wie das Internet ursprünglich gedacht war: dezentral. Damit ist diaspora* nicht allein, denn viele andere Projekte wie beispielsweise Friendica oder Mastodon haben dasselbe Ziel. Dezentralität bedeutet, dass die Daten der Benutzerinnen nicht wie etwa bei Facebook vereint unter der Kontrolle einer einzigen Organisation liegen, sondern dass die Daten auf viele, unabhängig voneinander arbeitende Stellen verteilt sind. Auch wenn das auf den ersten Blick nur wie ein technisches Detail aussieht, bedeutet Dezentralität viel mehr.
Wer einen Dienst betreibt, hat damit auch die Kontrolle über alle dort gespeicherten Daten. Daten sind längst mehr als Informationen, die in Rechenzentren gespeichert werden — Daten sind eine Währung. Soziale Netzwerke sind eine Goldgrube, denn wir teilen in diesen Netzwerken Details über unser Privatleben. Wir teilen wo wir uns aufhalten, was wir unternehmen, und vieles mehr. Für Dienste, die sich überwiegend durch Werbung finanzieren, sind diese Daten sehr wertvoll. Je mehr die Dienste über ihre Nutzerinnen wissen, desto genauer können sie ihre Werbung zuschneiden, und desto höher ist die Chance, dass darauf reagiert wird und damit dem Dienst viel Geld einbringt. Werbefinanzierte Dienste sind nicht grundsätzlich negativ. Doch viele dieser Dienste entwickeln sich zu Datenkraken, die um jeden Preis so viel wie möglich über eine Person erfahren wollen. Das ist ein tiefer Einschnitt in unser Privatleben, den wir nicht akzeptieren müssen.
Daten bewusst verteilen, statt Macht abgeben
Dezentrale soziale Netzwerke funktionieren grundsätzlich anders. Statt die Nutzerinnen zu zwingen, alle Daten „auf einen großen Haufen“ zu werfen, also auf einen zentralen Server hochzuladen, bestehen dezentrale soziale Medien aus einem Netz vieler unabhängiger, miteinander verbundenen Knoten. Die Idee ist nicht neu, wir kennen das zum Beispiel vom Email-System: Hier gibt es ebenfalls viele Knoten, und egal, bei welchem Anbieter die Nutzerin ihr Konto hat, sie ist mit dem Rest des Netzwerks verbunden. Vollkommen egal, ob das Konto bei Posteo, GMX oder Google Mail liegt, der Austausch mit Kontakten anderer Anbieter funktioniert problemlos.
In einer perfekten Welt würde jede diaspora*-Nutzerin ihren eigenen Knoten betreiben, beispielsweise in Form eines kleinen Geräts, das zuhause am Router angeschlossen wird. Über dieses Gerät läuft die gesamte Kommunikation mit dem Netzwerk, und dort werden auch alle persönlichen Daten gespeichert. Von dort aus können die Daten dann ganz bewusst und kontrolliert verteilt werden.
Diaspora* arbeitet nach dem strikten Prinzip, Daten nur dann zu verteilen, wenn das notwendig und gewünscht ist. Nehmen wir als Beispiel vier Personen, die alle ihren eigenen diaspora*-Knoten betreiben. Alice möchte ein Foto teilen und hat die Möglichkeit, genau zu bestimmen, welche ihrer Kontakte dieses Foto sehen dürfen. Teilt Alice das Foto beispielsweise mit Bob und Charlie, dann sendet diaspora* diese Informationen auch nur an deren Knoten. Andere Mitgliederinnen des Netzwerks, beispielsweise Eve, bekommen so die Daten nie zu sehen.
Statt einer Zentrale zu vertrauen, die Daten richtig zu verteilen und für keine anderen Zwecke zu verwenden, hat im diaspora*-Netz jede Benutzerin die Kontrolle selbst in der Hand. Knoten, mit denen Inhalte nicht explizit geteilt werden, erhalten diese nie. Damit sind sie auch nicht in der Lage, alle Daten zu sammeln und daraus ein genaues Profil zu erstellen.
Dieses System bringt nicht nur für den Datenschutz Vorteile mit sich. Sollte Bobs Knoten aufgrund von technischen Problemen oder einem Angriff nicht erreichbar sein, kann Alice trotzdem mit Charlie kommunizieren — nur Bob ist vom Netzwerk abgeschnitten. Im Falle einer Attacke auf Bobs Knoten, bei der Sicherheitslücken ausgenutzt werden und Daten abgegriffen werden, sind nur Daten betroffen, die mit Bob geteilt wurden.
Technische und gesellschaftliche Probleme
Auch wenn das Verteilen von Informationen bereits stabil funktioniert, sind Projekte wie diaspora* leider noch sehr weit davon entfernt, ein Netzwerk für alle zu werden.
Die im Beispiel oben erwähnte Box, die jede interessierte Person bei sich zuhause ans Internet hängen kann, und die als Knoten im soziale Netzwerk agiert, gibt es nicht. Zwar gibt es einige Projekte, die mit diesem Ziel entwickelt werden, aber diese sind noch weit nicht soweit, freundlich gegenüber technisch nicht versierten Anwenderinnen zu sein. Selbst wenn es eine solche Box gäbe, wäre das Problem damit noch lange nicht gelöst. Damit ein Netzwerk wie diaspora* zuverlässig funktioniert, müssen die Knoten dauerhaft mit dem Internet verbunden und über eine feste Adresse erreichbar sein. Das ist unrealistisch, wenn das Ziel ist, die Box zuhause zu betreiben, denn Internetanbieter untersagen meist den Betrieb von Diensten im heimischen Internet.
Diaspora* kann auch funktionieren, wenn nicht jede Nutzerin ihren eigenen Knoten betreibt. Es wäre durchaus denkbar, dass es einen Knoten pro Familie oder pro Freundeskreis gibt. Zusätzlich könnten beispielsweise Vereine einen diaspora*-Knoten für ihre Mitglieder betreiben. Aber auch hier gilt: Wer den Dienst betreibt, hat Zugriff auf die Daten. Wenn man die Betreiberin eines Knotens nicht persönlich kennt, muss ein Kompromiss zwischen Vertrauen und Kontrolle eingegangen werden.
Datenschutz und Nutzerinnenfreundlichkeit
Auch wenn wir das Betreiben der Knoten völlig ignorieren, haben diaspora* und andere Projekte längst nicht das Level erreicht, das Benutzerinnen von sozialen Netzwerken erwarten. Möglicherweise können die Projekte das auch überhaupt nicht.
Obwohl viele Menschen sich der Datenschutzprobleme der großen Netzwerke bewusst sind, nutzen und erwarten sie viele Funktionen, die nur funktionieren, weil die zentralen Netzwerke Zugriff auf alle Daten haben. Funktionen wie die komfortable Suche nach Kontakten und Freundinnen sind für alternative Netzwerke nicht einfach zu realisieren. Diaspora* sammelt keine Handynummern aus den Telefonbüchern und der Abgleich von schulischen und beruflichen Werdegängen ist ebenfalls nicht möglich. Nicht nur müssten dazu diese Daten überhaupt erst erfasst werden, sie müssten auch für alle Knoten erreichbar gespeichert werden, um eine netzwerkweite Suche zu ermöglichen. Das würde Zentralen in einem dezentralen Netz schaffen.
Die Entwicklung alternativer sozialen Medien ist oft das Suchen eines Kompromisses zwischen den Anforderungen der Nutzerinnen und dem Erhalten von Datenschutz und Kontrolle. Mit konstanten Nutzerinnenerwartungen ist der Systemwechsel also nicht zu machen. Solche Projekte sehen sich daher nicht nur von technischen Problemen konfrontiert, sondern auch vor gesellschaftlichen Herausforderungen.
Eine Herausforderung
Die Betreiberinnen der Knoten im diaspora*-Netzwerk sind derzeit überwiegend Privatpersonen, die sich, bzw. ihre Dienstleistungen für die Community durch Spenden ihrer Nutzerinnen finanzieren. Das Netzwerk besteht zu einem großen Teil aus Personen, die ein sehr großes Interesse an Datenschutz und alternativen sozialen Medien haben und unter diesen ist die Spendenbereitschaft vergleichsweise hoch. Wir wissen nicht, ob dieses Prinzip auch noch funktioniert, wenn Millionen von Nutzerinnen dem Netzwerk beitreten, für die Datenschutz nicht das vorwiegende Interesse ist.
Neben dem Betrieb der Knoten ist die Entwicklung der Software dahinter eine große Herausforderung. Softwareentwicklung ist aufwendig und damit teuer. Gerade dezentrale soziale Netzwerke stecken hier in einer Zwickmühle: Nicht nur müssen sie Anforderungen bewältigen, die klassische soziale Netzwerke mit Milliardenbudgets umsetzen, sondern durch die verteilte Natur der Daten sind viele technische Bereiche deutlich komplexer als sie das bei einem zentralen Netzwerk wären.
Diaspora* ist ein gemeinnütziges Projekt mit offenem Quellcode und offener Entwicklerinnengemeinschaft. Die Entwicklung findet durch Freiwillige in ihrer Freizeit statt. Zwar machen die Entwicklerinnen das, weil sie Spaß daran haben und die Motive hinter den Projekten unterstützen, aber große Sprünge machen Projekte auf diese Art nicht. Geschäftsmodelle oder Sponsoren für solche Projekte sind schwer zu finden, auch hier sind viele von den Spenden der Nutzerinnen abhängig.
Einfach mal machen
Diaspora* sieht sich nicht als Facebook-Killer, sondern mehr als Spielplatz oder offenes Labor, in dem interessierte Entwicklerinnen und Benutzerinnen gemeinsam an Lösungen zu den Problemen arbeiten und das funktioniert sehr gut.
Wenn weiterhin viele Projekte nach den Wegen in das andere Internet suchen, ist zu hoffen, dass irgendwann eines dieser Projekte den Durchbruch schafft und damit eine datenschutzfreundliche Alternative zu den zentralen Netzwerken geschaffen wird. Eine Alternative, die hoffentlich ohne große Kompromisse auskommt.
Und bis dahin machen wir einfach mal weiter.
Autor*in
Dennis Schubert ist Softwareentwickler und arbeitet beruflich am Firefox-Browser für ein offenes und freies Internet. Auch privat spielen Projekte rund um Datenschutz und Selbstbestimmung eine große Rolle.
Was wäre, wenn…
… Social Media den Nutzer*innen gehören würde?
Im 5. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Social Media Nutzer*innen. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alternativen für die Gesellschaft sichtbar zu machen und potenzielle Lösungen ins Zentrum zu rücken.
Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.
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