“Eine Dynamik, die man Klassenbildung nennen könnte”

Die Revo­lu­ti­on am Arbeits­platz. In den USA haben sich Tech-Beschäf­tig­te zu einer Bewe­gung ver­eint. Die Publizist*innen Moi­ra Weigel und Ben Tarn­off spre­chen über Erfol­ge und Widerstände. Das Interview führte Lukas Hermsmeier.
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Aus dem 5. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn Social Media den Nutzer*innen gehören würde?

In der neu­en Aus­ga­be stel­len wir die Fra­ge: Was wäre, wenn Soci­al Media den Nutzer*innen gehö­ren wür­de? Wür­det ihr sagen, dass die­se For­mu­lie­rung bereits irre­füh­rend ist, weil der Tech-Dis­kurs eben zu oft nur um die Nutzer*innen kreist und zu sel­ten über die Men­schen gespro­chen wird, die für Unter­neh­men wie Face­book arbeiten?

Ben Tarn­off: Ja, ich den­ke, dass bei jeder Bemü­hung, gemein­schaft­li­che Alter­na­ti­ven zu den gro­ßen, kom­mer­zi­el­len Platt­for­men auf­zu­bau­en, ernst­haft an die Arbeits­kräf­te gedacht wer­den muss, die die­se Platt­for­men erst mög­lich machen. Die Softwareentwickler*innen, Content-Moderator*innen, Produktdesigner*innen, Data-Center-Techniker*innen und so wei­ter. Es gibt zwar auch einen theo­re­ti­schen Dis­kurs, oft mit dem Post-Ope­rais­mus asso­zi­iert, der besagt, dass die­se Platt­for­men auf der ​„frei­en Arbeit“ ihrer Benutzer*innen beru­hen – dass die Benutzer*innen sozu­sa­gen die Arbeiter*innen sind. Aber mal abge­se­hen von der umstrit­te­nen Fra­ge, ob ein Face­book-Post oder eine Goog­le-Such­an­fra­ge wirk­lich als ​„Arbeit“ betrach­tet wer­den kann – ich habe mei­ne Zwei­fel –, muss eben eine gan­ze Men­ge tra­di­tio­nel­ler Lohn­ar­beit geleis­tet wer­den, damit die­se Platt­for­men funk­tio­nie­ren. Und wenn die­se Arbeit nicht geleis­tet wird, merkst du es als User*in sofort, die Web­site ist down, die User Expe­ri­ence ist mies oder ein extre­mes Gewalt­fo­to erscheint in dei­nem Feed. Face­book hat rund 37.700 Voll­zeit­be­schäf­tig­te und eine unbe­stimm­te Anzahl von Leiharbeiter*innen – aber 2,38 Mil­li­ar­den akti­ve Nutzer*innen pro Monat. Inso­fern ist es natür­lich ver­ständ­lich, dass wir nor­ma­ler­wei­se den Fokus auf die Nutzer*innen legen. Aber die Arbeiter*inneren existieren.

In den letz­ten Jah­ren haben die Beschäf­tig­ten aller gro­ßen Tech-Unter­neh­men – Goog­le, Face­book, Ama­zon etc. – in irgend­ei­ner Form gegen ihre eige­nen Arbeit­ge­ber pro­tes­tiert. Die Arbeits­be­din­gun­gen in die­sen Unter­neh­men sind seit lan­gem pro­ble­ma­tisch, in den meis­ten Fäl­len wohl von Beginn an. Wie erklärt ihr euch die aktu­el­le Pro­test­be­we­gung der Tech-Arbeiter*innen?

Tarn­off: Die kur­ze Ant­wort lau­tet: Trump. Aber natür­lich ist es etwas kom­pli­zier­ter. Im Sep­tem­ber 2017 schrieb der Jour­na­list Josh Eidel­son für Bloom­berg einen Arti­kel dar­über, wie sich Tau­sen­de Ser­vice­kräf­te im Sili­con Val­ley – Busfahrer*innen, Sicher­heits­be­diens­te­te, Gastronomiemitarbeiter*innen – in den ver­gan­ge­nen Jah­ren gewerk­schaft­lich orga­ni­siert hat­ten. Die­se Wel­le war wich­tig für das, was heu­te als tech worker movement bezeich­net wird. Und zwar, weil die­se Ser­vice­kräf­te genau­so als tech workers betrach­tet wer­den soll­ten – und, weil das kol­lek­ti­ve Han­deln der blue-col­lar workers das kol­lek­ti­ve Han­deln der white-col­lar workers inspi­riert hat.

Trump und die Tech-CEOs

Aber Trump hat sicher­lich einen wich­ti­gen Wen­de­punkt mar­kiert. Für vie­le der Tech-Arbeiter*innen war es eine ernüch­tern­de Erfah­rung, die Vor­stän­de ihrer Unter­neh­men dabei zu beob­ach­ten, wie sie sich nach der Wahl Trump ange­nä­hert haben. Auch, weil sich meh­re­re Sili­con-Val­ley-Füh­rungs­kräf­te noch wäh­rend des Wahl­kamp­fes gegen Trump aus­ge­spro­chen hat­ten. Das Foto, das im Dezem­ber 2016 im Trump Tower wäh­rend des soge­nann­ten ​„Tech-Gip­fels“ auf­ge­nom­men wur­de und Trump neben Leu­ten wie She­ryl Sand­berg, Jeff Bezos und Lar­ry Page zeig­te, hat dabei beson­ders vie­le poli­ti­siert. Ich möch­te der Wahl Trumps aller­dings nicht zu viel Bedeu­tung zuspre­chen, weil sich die Bewe­gung auch aus ande­ren Strö­mun­gen zusam­men­ge­setzt hat. Vor allem Frau­en und Peop­le of Color haben lan­ge davor erkannt, dass ihre Inter­es­sen mit denen der Manage­ments nicht zwangs­läu­fig über­ein­stim­men. Die­se mar­gi­na­li­sier­ten Grup­pen haben schon immer über eine kom­ple­xe­re Macht­ana­ly­se ver­fügt, was mit der Erfah­rung ver­schie­de­ner For­men der Unter­drü­ckung zu tun hat, in einer Indus­trie, die bis heu­te eben sehr weiß und sehr männ­lich ist. 

Moi­ra, du schriebst 2017 in einem Arti­kel, dass ​„die meis­ten Medi­en und das poli­ti­sche Estab­lish­ment über Jahr­zehn­te hin­weg das Ver­spre­chen geschluckt haben, dass das Sili­con Val­ley nicht ​‚böse ist’“. Kann man die Tech-Worker-Bewe­gung auch als Reak­ti­on auf die­ses gebro­che­ne Ver­spre­chen betrachten?

Moi­ra Weigel: Ich glau­be, das kann man. Vie­le white-col­lar workers, die an die­ser Bewe­gung betei­ligt sind, haben mir gegen­über ein Gefühl der Des­il­lu­sio­nie­rung beschrie­ben. Über die Kluft zwi­schen der Rhe­to­rik, die die­se Indus­trie ver­wen­det und den Rea­li­tä­ten, die die Indus­trie kre­iert. Für man­che war das ein gra­du­el­ler Pro­zess, für ande­re geschah es mit einem Male. Und ich spre­che hier ganz bewusst von white-col­lar workers, weil die blue-col­lar workers im Gro­ßen und Gan­zen weni­ger von der Welt­ver­bes­se­rungs­rhe­to­rik des Sili­con Val­leys ein­ge­nom­men sind. Was nicht hei­ßen soll, dass kein blue-col­lar workers jemals begeis­tert ist, bei gro­ßen Tech-Unter­neh­men zu arbei­ten. Aber ver­mut­lich haben sie immer etwas kla­rer das Wesen die­ser Unter­neh­men als das betrach­tet, was es ist: viel mehr pro­fit­ori­en­tiert als altru­is­tisch. Und sie haben auch erkannt, auf wel­che Art und Wei­se die astro­no­misch wach­sen­den Unter­neh­men den Com­mu­nities um sie her­um scha­den können.

Infor­ma­ti­ons-Uto­pis­mus der Anfangsjahre

Wie Ben schon sag­te, war die Wahl von Trump ein wich­ti­ger Wen­de­punkt. His­to­risch betrach­tet ist das Sili­con Val­ley poli­tisch libe­ral-liber­tär ori­en­tiert, die meis­ten Tech-CEOs wäh­len die Demo­kra­ti­sche Par­tei, haben Hil­la­ry Clin­ton unter­stützt und sich wäh­rend des Wahl­kamp­fes über Trumps offe­nen Ras­sis­mus, Sexis­mus und Frem­den­feind­lich­keit ent­setzt gezeigt. Als vie­le die­ser Tech-CEOs dann nach der Wahl im Trump Tower zusam­men­ka­men, waren vie­le ihrer Ange­stell­ten geschockt. Es sei ein Moment gewe­sen, sagen vie­le, in dem sie rea­li­siert hät­ten, für wel­che Zwe­cke ihre Tech­no­lo­gi­en auch genutzt wer­den könn­ten. Die Kon­se­quen­zen von Daten­spei­che­rung und Cloud-Com­pu­ting bei­spiels­wei­se. Wobei ande­re Tech-Arbeiter*innen schon viel län­ger besorgt sind, seit den Snow­den-Ent­hül­lun­gen oder frü­her, und sich auch über die Ver­bin­dun­gen zwi­schen Sili­con Val­ley und dem Mili­tär oder den ras­sis­ti­schen Prak­ti­ken der Poli­zei bewusst sind. 

Es ist inter­es­sant: Der Legen­de nach stammt der Spruch ​„Don’t be evil“ ursprüng­lich von einem Tech­ni­ker, der dar­über sprach, war­um es für Goog­le wich­tig gewe­sen sei, die Wer­be­an­zei­gen von den Such­ergeb­nis­sen zu tren­nen. Nicht ​„böse zu sein“ bedeu­te­te, das Inter­es­se der Nutzer*innen zu schüt­zen, in dem ihnen die best­mög­li­chen Infor­ma­tio­nen zu Ver­fü­gung gestellt wur­den. Mit ande­ren Wor­ten – die Nutzer*innen nicht an den Anzei­ge­kun­den zu ver­kau­fen, der am meis­ten zahlt. Die­ser Glau­be spie­gel­te eine Art von Infor­ma­ti­ons-Uto­pis­mus wider, der bis zu den Anfän­gen des Sili­con Val­leys zurück­reicht. Und zwar zu der Idee, dass die Ver­ant­wor­tung eines Unter­neh­mens schlicht dar­in bestehe, den Men­schen Fak­ten zu ver­mit­teln oder gute Werk­zeu­ge her­zu­stel­len — und der Rest wür­de sich schon erge­ben. Ich glau­be, dass sich die Tech-Worker-Bewe­gung mitt­ler­wei­le kom­ple­xer mit Gut und Böse, bezie­hungs­wei­se mit Gerech­tig­keit und Unge­rech­tig­keit, aus­ein­an­der­setzt, und eben auch damit, wie die Tech-Indus­trie ihre Arbeiter*innen behan­delt und inwie­fern es Gemein­sam­kei­ten mit Arbeiter*innen ande­rer Indus­tri­en gibt. In die­sem Sin­ne haben sie nicht nur den Glau­ben an ​„Don’t be evil“ ver­lo­ren, son­dern neu­de­fi­niert, was es bedeu­tet, nicht ​„evil“ zu sein. 

Was sind denn bis­lang die bemer­kens­wer­tes­ten Erfol­ge der Tech-Worker-Bewegung? 

Tarn­off: Neben den bereits erwähn­ten Gewerk­schafts­kam­pa­gnen der Sili­con-Val­ley-Ser­vice­kräf­te wür­de ich zwei Erfol­ge nen­nen: Im Juni 2018 gaben die Chefs von Goog­le bekannt, dass sie den Ver­trag mit dem Pen­ta­gon für das ​„Pro­jekt Maven“ nicht ver­län­gern wer­den – ein Pro­jekt, das Machi­ne Lear­ning zur Droh­nen­über­wa­chung und Ziel­erfas­sung genutzt hat. Die­se Ent­schei­dung war das direk­te Ergeb­nis einer Kam­pa­gne von Goog­le-Mitarbeiter*innen.

Die gemein­sa­me Iden­ti­tät der Arbeiter*innen

Ein wei­te­rer bedeu­ten­der Sieg war der ​„Goog­le Wal­k­out“, ein glo­bal orga­ni­sier­ter Pro­test gegen sexu­el­le Beläs­ti­gung und Dis­kri­mi­nie­rung, an dem 20.000 Goog­le-Mit­ar­bei­ter, sowohl Voll­zeit- als auch Vertragsarbeiter*innen, in 50 Stand­or­ten auf der gan­zen Welt betei­ligt waren. Das Goog­le-Manage­ment stimm­te in der Fol­ge einer Kern­for­de­rung der Walkout-Organisator*innen zu, näm­lich der Abschaf­fung des ver­pflich­ten­den Schlich­tungs­ver­fah­ren zwi­schen mut­maß­li­chen Täter*innen und Betrof­fe­nen bei sexu­el­len Über­grif­fen. Ande­re Tech-Unter­neh­men wie Face­book und Micro­soft haben dar­auf­hin ähn­li­che Maß­nah­men getrof­fen. Es ist jedoch wich­tig zu wis­sen, dass die meis­ten For­de­run­gen der Walkout-Organisator*innen letzt­lich uner­füllt geblie­ben sind. Ein wei­te­rer Punkt, den ich erwäh­nen möch­te, sind die Leiharbeiter*innen, die in der Regel schlech­ter ver­die­nen und weni­ger Rech­te als ihre fest­an­ge­stell­ten Kolleg*innen haben. Leiharbeiter*innen haben sich an ver­schie­de­nen Aktio­nen und Pro­tes­ten betei­ligt, oft in Zusam­men­ar­beit mit Vollzeit-Arbeitskräften.

Das Maga­zin Wired schrieb im ver­gan­ge­nen Dezem­ber, dass 2018 das Jahr gewe­sen sei, ​„in dem die Tech-Arbeiter*innen erkann­ten, dass sie Arbeiter*innen sind”. Wür­det ihr dem zustim­men? Oder ist es viel­mehr so, dass die Medi­en das jetzt erst erkannt haben?

Tarn­off: Ich wür­de schon sagen, dass das wahr ist. Die Autorin die­ses Arti­kels, Nita­sha Tiku, ist eine mei­ner Lieblingsreporter*innen, die sich mit dem The­ma beschäf­ti­gen. Und sie sprach mit den rich­ti­gen Leu­ten für die­ses Stück, unter ande­rem mit Ste­pha­nie Par­ker, eine der Organisator*innen des ​“Goog­le Wal­k­outs”, die die­ses wun­der­ba­re Zitat lieferte: 

“Zu beob­ach­ten, wie Cafeteria-Mitarbeiter*innen und Sicher­heits­kräf­te der Sili­con-Val­ley-Unter­neh­men auf tap­fe­re Wei­se mehr Leis­tun­gen und Respekt for­der­ten, war für mich und vie­le ande­re Tech Workers eine zutiefst inspi­rie­ren­de Erfah­rung in die­sem Jahr. Es hat mir gehol­fen, Par­al­le­len zwi­schen den Anstren­gun­gen der Ser­vice­kräf­te und mei­ner eige­nen Erfah­rung als Schwar­ze Frau in der Tech-Indus­trie zu erken­nen, und es hat mir auch dabei gehol­fen, mich mit den Bemü­hun­gen ande­rer Indus­tri­en soli­da­risch zu zei­gen, wie zum Bei­spiel mit dem Streik der Marriott-Hotel-Mitarbeiter*innen.”

Ste­pha­nie beschreibt hier eine Dyna­mik, die man Klas­sen­bil­dung nen­nen könn­te. Wie und wann begin­nen die Arbeiter*innen, sich selbst als Arbeiter*innen zu betrach­ten? Die­se Wahr­neh­mung näm­lich eröff­net völ­lig neue Wege des gemein­sa­men Den­kens und Han­delns. Es hilft den Men­schen, sich weni­ger allein zu füh­len. Am Ende des Tages sind die meis­ten Men­schen zwangs­läu­fig Arbeiter*innen, sprich: sie arbei­ten, um zu über­le­ben — und erle­ben dabei auf unter­schied­li­che Art und Wei­se Aus­beu­tung und Herr­schaft. Wer sich als Arbeiter*in iden­ti­fi­ziert, kann sich eine gemein­sa­me Iden­ti­tät erschlie­ßen und dadurch etwas Star­kes bauen. 

Wie wür­det ihr den Begriff ​„Tech Worker“ defi­nie­ren? Sind das alle, die in der Tech-Indus­trie arbei­ten oder nur die blue-col­lar workers? Und ergibt die­se strik­te Tren­nung zwi­schen blue-col­lar workers und white-col­lar workers hier über­haupt Sinn? 

Tarn­off: Das ist eine schwie­ri­ge und fas­zi­nie­ren­de Fra­ge. Ich wür­de sagen, dass es dar­auf eine stra­te­gi­sche und eine theo­re­ti­sche Ant­wort gibt. Die gän­gi­ge Defi­ni­ti­on inner­halb der Tech-Worker-Bewe­gung lau­tet, dass alle ​„Tech Worker“ sind, die in irgend­ei­ner Wei­se für ein Tech-Unter­neh­men arbei­ten. Bedeu­tet, Goog­le-Shut­tle-Bus­fah­re­rin­nen, Ama­zon-Lager­hal­len­ar­bei­ter, Face­book-Con­tent-Mana­ge­rin­nen, Uber-Fah­rer und Micro­soft-Soft­ware­ent­wick­le­rin­nen. Die­se brei­te Defi­ni­ti­on hilft dabei, Soli­da­ri­tät, Aus­tausch und Koor­di­na­ti­on zwi­schen den Arbeiter*innen her­zu­stel­len. Ein gutes Bei­spiel dafür war der Brief eines Uber-Tech­ni­kers an einen Uber-Fah­rer.

Die­se umfas­sen­de Defi­ni­ti­on des Begrif­fes hört aller­dings irgend­wann auf, für die Ana­ly­se nütz­lich zu sein. Die gera­de genann­ten Arbeits­fel­der sind näm­lich ziem­lich unter­schied­lich, wenn es um Gehäl­ter, Arbeits­be­din­gun­gen, Auto­no­mie und Kon­trol­le geht. Außer­dem kann man auch die Nütz­lich­keit des Begrif­fes ​„Tech-Unter­neh­men“ in Fra­ge stel­len. Ist Uber wirk­lich ein Tech-Unter­neh­men? Ist Tes­la eins? Die gro­ßen Ban­ken beschäf­ti­gen vie­le Softwareentwickler*innen – bedeu­tet das also, dass JP Mor­gan Cha­se auch ein Tech-Unter­neh­men ist?

Par­al­le­len zwi­schen Wis­sen­schaft und Tech

Weigel: Ich wür­de noch ergän­zen, dass es eine lau­fen­de Debat­te über den Pro­zess der Wert­schöp­fung auf die­sen Platt­for­men gibt. Dar­über, ob nun alle Face­book– oder Goog­le-Nutzer*innen zugleich auch ​„Tech Workers“ sind, weil unse­re Online-Akti­vi­tä­ten den Wert die­ser Platt­for­men stei­gern. Ich wür­de sagen, dass die­se Fra­ge wahr­schein­lich mehr Reso­nanz in Wis­sen­schaft und Medi­en fin­det, als inner­halb der Tech-Worker-Bewe­gung. Aber es gibt eini­ge Kon­takt- und Ver­bin­dungs­punk­te. Ich weiß zum Bei­spiel, dass eini­ge Grup­pen der Tech-Worker-Bewe­gung auf­merk­sam die Gewerk­schafts­bil­dung inner­halb eini­ger Digi­tal­me­di­en ver­folgt haben. Es gibt vie­le inter­es­san­te Par­al­le­len zwi­schen wis­sen­schaft­li­cher Arbeit und Tech-Arbeit inso­fern, als bei­des mal pres­ti­ge­vol­le Beschäf­ti­gungs­fel­der waren, aber in vie­len Fäl­len depro­fes­sio­na­li­siert und ent­wer­tet wurden. 

Die Tech-Worker-Bewe­gung hat bis­lang vor allem auf ​„tra­di­tio­nel­le“ Orga­ni­sie­rungs­me­tho­den gesetzt. Wir haben Arbeits­streiks, Demons­tra­tio­nen und Ver­su­che der Gewerk­schafts­bil­dung gese­hen. Gleich­zei­tig haben sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren die Demo­cra­tic Socia­lists of Ame­ri­ca (DSA) enorm ver­grö­ßert. Mehr und mehr Leu­te pro­tes­tie­ren gegen den Kapi­ta­lis­mus an sich. Wie stark ist die Ver­bin­dung zwi­schen der Tech-Worker-Bewe­gung und der anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Bewegung?

Tarn­off: Ich wür­de ger­ne behaup­ten kön­nen, dass die Tech-Worker-Bewe­gung expli­zit anti­ka­pi­ta­lis­tisch ist, aber das nicht stimmt ganz. Wenn du zu einem Tref­fen der DSA gehst, triffst du zwar auf jede Men­ge Tech-Arbeiter*innen, aber ich bin mir nicht sicher, ob die meis­ten eine anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Hal­tung tei­len. Kapi­ta­lis­mus­kri­ti­sche Stim­men gibt es inner­halb die­ser Bewe­gun­gen hin­ge­gen gewiss. Wenn Micro­soft-Ange­stell­te bei­spiels­wei­se ver­lan­gen, dass ihr Arbeitgeber*innen nicht wei­ter mit der US-Immi­gra­ti­ons­be­hör­de ICE zusam­men­ar­bei­tet, dann kri­ti­sie­ren sie die kapi­ta­lis­ti­sche Logik der Gewinn­ma­xi­mie­rung. Wenn Tech-Arbeiter*innen bestimm­te Ver­trä­ge oder Unter­neh­mens­prak­ti­ken bekämp­fen, zie­len sie nicht nur auf ihre Vor­ge­setz­ten, son­dern auf das gesam­te Sys­tem. Und die­se Erkennt­nis, dass nicht nur die Füh­rungs­kräf­te behin­dern, son­dern die Struk­tu­ren, dass es also ums Kapi­tal geht, die­se Erkennt­nis kann durch­aus radikalisieren.

Frau­en in Vor­stän­den allei­ne rei­chen nicht

Weigel: Und zumin­dest gele­gent­lich pas­siert es, dass die Kapi­ta­lis­mus­kri­tik inner­halb der Tech-Worker-Bewe­gung auch in Ver­bin­dung mit sys­te­ma­ti­schem Ras­sis­mus, Sexis­mus, Homo­pho­bie, Trans­pho­bie und so wei­ter gesetzt wird. Zumin­dest man­che Teilnehmer*innen haben erkannt, dass es nicht aus­reicht, wenn eine Frau oder Per­son of Color im Vor­stand sitzt. In einer Zeit, in der sich She­ryl Sand­berg mit Trump trifft und Tim Cook mit Jair Bol­so­na­ro in Davos zu Abend isst, rea­li­sie­ren mehr und mehr Tech-Arbeiter*innen, dass Lean In allein nicht aus­reicht. Ein Bei­spiel: Ich habe Protest-Organisator*innen sagen hören, dass die­je­ni­gen Men­schen, die unter Pro­dukt x oder y einer Tech-Fir­ma am ehes­ten lei­den, aller­meist so aus­se­hen, wie die­je­ni­gen Men­schen, die auch inner­halb der Tech-Fir­ma am gefähr­dets­ten sind. Die­se Beob­ach­tung mag nicht zwangs­läu­fig anti­ka­pi­ta­lis­tisch sein. Aber die Wahr­neh­mung, dass bestimm­te Lei­den und Miss­stän­de ein Sys­tem­pro­blem sind, deu­tet auf den Wunsch hin, das Sys­tem zu ver­än­dern. Und ich den­ke, dass immer mehr Men­schen die­ses Sys­tem selbst­be­wusst ​„Kapi­ta­lis­mus“nen­nen.

Wenn wir über die Demo­kra­ti­sie­rung von Soci­al Media spre­chen, fin­den sich ja min­des­tens zwei wich­ti­ge Per­spek­ti­ven. Vie­le Nutzer*innen, das ist die eine Per­spek­ti­ve, for­dern mehr Trans­pa­renz, Mit­spra­che und Pri­vat­sphä­re, sowie weni­ger Über­wa­chung und Mani­pu­la­ti­on. Die ande­re Per­spek­ti­ve: Die Tech-Arbeiter*innen, die natür­lich meist auch Nutzer*innen sind, for­dern bes­se­re Arbeits­be­din­gun­gen, frei von Beläs­ti­gung und Dis­kri­mi­nie­rung, bes­se­re Löh­ne und Schutz­maß­nah­men, etc. Wie kann man die­se bei­den Per­spek­ti­ven gemein­sam den­ken? Oder ste­hen die jewei­li­gen Inter­es­sen auch in Kon­kur­renz zueinander? 

Tarn­off: Die Fra­ge, wie man die Inter­es­sen von Nutzer*innen und Mitarbeiter*innen in Ein­klang bringt, steht im Mit­tel­punkt eines jeden neu­en koope­ra­ti­ven Platt­form­pro­jekts. Wobei man noch eine drit­te Grup­pe hin­zu­fü­gen könn­te, die Mit­glie­der der all­ge­mei­nen Gesell­schaft, denn wie wir wis­sen, sind nicht nur die Mitarbeiter*innen und Nutzer*innen von den Platt­for­men betrof­fen. Man den­ke an die Völ­ker­mor­de in Myan­mar, die auch über Face­book orga­ni­siert wurden.

Wenn sozia­le Schä­den die Vor­tei­le überwiegen

Die­se Drei­tei­lung – Arbeiter*innen, Verbraucher*innen/Nutzer*innen und alle ande­ren – ist immer prä­sent, auch wenn digi­ta­le Platt­for­men die Gren­zen etwas ver­wi­schen kön­nen. Eine ver­nünf­ti­ge demo­kra­ti­sche Abstim­mung zwi­schen die­sen ver­schie­de­nen Grup­pen und inner­halb ver­schie­de­nen Frak­tio­nen erfor­dert völ­lig neue For­men der sozia­len Koor­di­na­ti­on. Es han­delt sich im Grun­de genom­men um eine par­la­men­ta­ri­sche Fra­ge. Wie schafft man demo­kra­ti­sche Struk­tu­ren, in denen die unver­meid­li­chen Kon­flik­te ver­mit­telt wer­den und in denen Mehr­heits­ent­schei­dun­gen zusam­men­flie­ßen kön­nen? Im Fal­le der Soci­al-Media-Platt­for­men ver­mu­te ich, dass es tat­säch­lich mehr Über­ein­stim­mung zwi­schen Arbeiter*innen und Nutzer*innen gibt, als ange­nom­men wird. Die Mitarbeiter*innen gro­ßer Tech-Unter­neh­men befür­wor­ten oft eben­so Daten­schutz, Sicher­heit und Usability. 

Eini­ge Leu­te, wie zum Bei­spiel die Präsidentschaftskandidat*innen Eliza­beth War­ren und Ber­nie San­ders, wol­len Unter­neh­men wie Ama­zon auf­bre­chen. Ande­re wol­len Face­book ​„ver­staat­li­chen“. Man­che Nutzer*innen löschen aus Pro­test ihre Accounts, ande­re for­dern eine Reform, was auch immer das dann bedeu­tet. Ben, du sag­test auf einer Ver­an­stal­tung in Ber­lin, dass ​„eini­ge die­ser Tech-Unter­neh­men viel­leicht ein­fach gar nicht exis­tie­ren soll­ten“. Könn­test du das etwas näher erläutern?

Tarn­off: Nur, weil eine bestimm­te Tech­no­lo­gie exis­tiert, bedeu­tet das ja nicht, dass sie wei­ter exis­tie­ren soll­te. Unter den Optio­nen, die uns zur Ver­fü­gung ste­hen – Kar­tell­recht, Genos­sen­schaf­ten, Ver­staat­li­chun­gen und so wei­ter – befin­det sich auch eine, die wir die Lud­di­ten-Opti­on nen­nen könn­ten. Grund­sätz­lich geht es dar­um, eine Orga­ni­sa­ti­on oder ein Werk­zeug zu dekon­stru­ie­ren, weil die sozia­len Schä­den die Vor­tei­le über­wie­gen. Man kann beob­ach­ten, dass die­se Idee in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten momen­tan grö­ße­re Krei­se zieht, zum Bei­spiel beim The­ma Gesichts­er­ken­nungs­soft­ware. Es wird argu­men­tiert, dass die­se Tech­no­lo­gie ganz beson­de­re Gefah­ren bringt, ins­be­son­de­re für die Klas­se der Arbeiter*innen und Peop­le of Color. Ich hal­te die­se Ein­schät­zung für kor­rekt. Und ich fra­ge mich, wel­che ande­ren Tech­no­lo­gi­en in die­se Kate­go­rie fal­len könnten. 

Ihr seid gera­de erst durch Deutsch­land gereist. Was ist der Ein­druck von der deut­schen Tech-Worker-Bewegung? 

Tarn­off: Es war auf­re­gend zu sehen, wie groß das Inter­es­se an die­sem The­ma ist! Wir haben vie­le inter­es­san­te Gesprä­che mit Tech-Arbeiter*innen und Informatikstudent*innen in Ber­lin und Leip­zig geführt. Und ich durf­te am ers­ten Mee­ting des Ber­li­ner Chap­ters der Tech Workers Coali­ti­on teil­neh­men, die mit Sicher­heit gro­ße Sachen machen wird. Aber ich muss zuge­ben, dass ich die deut­sche Tech-Land­schaft nicht all zu gut ken­ne, inso­fern freue ich mich dar­auf, mehr von mei­nen neu­en deut­schen Freund*innen zu lernen. 


Interview

Ben Tarn­off arbei­tet als frei­er Jour­na­list in den USA und schreibt unter ande­rem für The Guar­di­an und Jaco­bin. Er ist Mit­grün­der des Tech­no­lo­gie-Maga­zins Logic.

Moi­ra Weigel ist Jour­na­lis­tin, Buch­au­torin und Post­dok­to­ran­din an der Har­vard Uni­ver­si­tät. Sie ist Mit­be­grün­de­rin des Tech­no­lo­gie-Maga­zins Logic. [Foto: Jean Ervasti]

Was wäre, wenn…

… Social Media den Nutzer*innen gehören würde?

Im 5. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Social Media Nutzer*innen. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

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