Das Jahr 2011 markiert nicht nur die Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). Im selben Jahr, am 22. Juli, ermordete ein Rechtsterrorist auf der Insel Utøya und im Osloer Regierungsviertel 77 Menschen und verletzte Unzählige mehr. Ziel des Anschlags war das jährliche Sommerlager der Jugendorganisation der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Norwegens (AUF).
Während in Deutschland das Erinnern und die Aufarbeitung des NSU-Komplexes in erster Linie von Betroffenen und der Zivilgesellschaft vorangetrieben wird, wurden in Norwegen mehrere Bildungszentren und Gedenkorte geschaffen, teils mit staatlicher Förderung. Das Projektteam vom „Pilotvorhaben für ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen“ ist dafür im Juni 2024 nach Oslo und Utøya gefahren, um zu lernen – über Erinnerungskultur und die Bedeutung öffentlicher Räume für die Aufarbeitung rechter Gewalt.
Selbstorganisierung und Selbstermächtigung
Zum Auftakt trafen wir uns mit Lisbeth Røyneland, die seit neun Jahren die Nationale Selbsthilfegruppe leitet, in der sich bis heute 1.800 Betroffene in Regionalgruppen in ganz Norwegen organisieren. Die Gruppe sorgte für die psychosoziale Versorgung der Überlebenden und Angehörigen nach den Anschlägen. Darüber hinaus leistet die Nationale Selbsthilfegruppe politische Arbeit: Ihre Vertreter*innen sind in nationalen und europäischen Gremien im Kampf gegen Rechtsextremismus aktiv und wirken an den Gestaltungsprozessen zur Errichtung nationaler Gedenkstätten weltweit mit.
Wir trafen Lisbeth am „Eiserne Rosen“-Denkmal an der Osloer Domkirche. Nach den Anschlägen legten dort Tausende Blumen nieder. Der Künstler Tobbe Malm griff diese Bilder auf und lud Schmiede weltweit ein, Rosen aus Stahl und Bronze zu gestalten. Einige der rund 1.000 Rosen schmiedeten Überlebende und Angehörige selbst.
Erinnern, Lernen und Engagement auf Utøya
Wie können Tatorte zu Orten der Erinnerung und Bildung werden? Diese Frage führte uns nach Utøya, wo wir uns mit der Aufarbeitung und Neugestaltung der Insel nach dem rechtsterroristischen Anschlag beschäftigten.
Auf der Insel ist nach dem 22. Juli nur das Gebäude der Cafeteria erhalten geblieben. Die anderen Tatorte und physischen Spuren des Anschlags wurden auf Wunsch der Betroffenen weitestgehend entfernt. Die Räume, in denen die Jugendlichen teils starben, teils Schutz fanden, blieben erhalten. Der Gedenkort berücksichtigt diese Schicksale auch architektonisch: Eingerahmt von einer doppelten Holzstruktur tragen 69 Holzsäulen das Gewicht des Gebäudes – eine Säule für jede*n Ermordete*n. Weitere 495 Säulen umschließen das Gebäude und stehen symbolisch für die Zahl der Überlebenden.
Im Jahr 2015 wurde zudem ein Denkmal auf der Insel errichtet, welches an die 69 Opfer erinnert. Über einer kleinen Lichtung „schwebt“ ein silberner Edelstahlring. Die darin gelaserten Namen der Ermordeten zeichnen sich bei Sonnenschein als Schatten auf dem Boden ab. Dabei respektierte das beauftragte norwegische Architekturbüro 3RW den Wunsch mancher Angehöriger, über den Zeitpunkt der Integration des Namens ihres verstorbenen Kindes in das Denkmal selbst zu bestimmen. Als alltägliche Praxis des Erinnerns hat es sich auf Utøya etabliert, an den Geburtstagen der Ermordeten eine Blume am jeweiligen Namen im Ring anzubringen. Am Tag unseres Besuches erinnerten wir mit dieser Geste an Thomas Margido Antonsen. Er wäre 29 Jahre alt geworden.
Öffentliches Erinnern
Ein Jahr nach den Anschlägen beschloss die norwegische Regierung, zwei nationale Denkmäler in Erinnerung an den 22. Juli zu schaffen – auf Utøya und im Osloer Regierungsviertel. Letzteres wurde in einem breit angelegten Kunstwettbewerb, in Abstimmung mit der norwegischen Öffentlichkeit entwickelt. Trude Schjelderup Iversen, Senior Kuratorin bei Norwegens nationaler Behörde für Kunst im öffentlichen Raum, erklärte uns, dass in den Auswahlprozess auch die Nationale Selbsthilfegruppe und die AUF kontinuierlich involviert wurden. Zudem wurde der Prozess von einer öffentlichen Vortragsreihe begleitet, die künstlerisches Wissen sammelt und teilt. Sie stößt damit einen notwendigen Dialog an, wie Gedenkstätten heutzutage gestaltet werden können.
Dokumentation und Bildung: Das 22. juli-senteret
Das 22. juli-senteret in Oslo ist der zentrale Ort für die Bewahrung und Vermittlung von Wissen und Erinnerungen an den 22. Juli 2011. Neben einer Ausstellung und Bildungsangeboten erarbeitet das Zentrum derzeit den Aufbau eines Archivs zu den Anschlägen.
Direktorin Lena Fahre erklärt, weshalb auch Objekte des Attentäters, wie zum Beispiel seine gefälschte Polizeimarke, gezeigt werden. Diese Entscheidung dient insbesondere der Bekämpfung von Verschwörungserzählungen, die sich nach den Geschehnissen rasch in der norwegischen Gesellschaft verbreiteten. Die Aufklärung über Verschwörungstheorien, die einen relevanten Teil rechtsextremer Ideologie ausmachen, ist daher neben Erinnerung und Dokumentation ebenso wichtiger Bestandteil der Bildungsarbeit im 22. juli-senteret.
Besonders Schulklassen besuchen die Workshops zu Themen wie Demokratie und Engagement. Da immer mehr Teilnehmende keine aktive Erinnerung an den 22. Juli haben, hat das 22. juli-senteret ein Zeitzeug*innenprogramm entwickelt, erklärt Programmmanagerin Stine Furan. Überlebende und Angehörige teilen dort ihre Erlebnissen und Erinnerungen an die Tat. Die Zeitzeug*innen entscheiden selbst, wie oft sie an diesen Runden teilnehmen und welche Aspekte ihrer Geschichte sie teilen möchten. Selbstermächtigung bleibt dabei zentral in der Aufarbeitung.
Wissenschaftliche Perspektiven auf den 22. Juli
Auf der Osloer Halbinsel Bygdøy befindet sich das Norwegische Zentrum für Holocaust-Studien. Hier trafen wir uns mit Professorin Claudia Lenz (Norwegian School of Theology, Religion and Society), die unter anderem zur norwegischen Erinnerungskultur nach dem 22. Juli geforscht hat, und mit Research Professor Terje Emberland (Center for Holocaust Studies), der zur Geschichte des norwegischen Faschismus forscht und im Gerichtsprozess gegen den Attentäter als Sachverständiger ausgesagt hat. Im Gespräch mit den beiden erfuhren wir, dass es nach den Anschlägen eine intensive öffentliche Anteilnahme gegeben hatte, die jedoch mit einer tendenziellen Entpolitisierung einherging. So wurde viel darüber gesprochen, dass Liebe stärker sei als Hass und Gewalt. Der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg sagte damals in einer Rede, Oslo und Utøya seien ein Anschlag auf alle Norweger*innen gewesen. Die rechtsextreme Ideologie des Täters und seine Sozialisierung innerhalb der norwegischen Gesellschaft traten damit unweigerlich in den Hintergrund.
Einen Wandel markierte der 10. Jahrestag der Anschläge im Jahr 2021, als die AUF öffentlich klarstellte, dass die norwegische Arbeiterpartei und ihre Jugendorganisation explizit als Ziel der Anschläge ausgewählt worden waren und unter anderem für ihre migrationsfreundliche Politik abgestraft werden sollten.
Migrantische Selbstorganisierung in Oslo
Auf unserer Bildungsreise wurde immer wieder deutlich, dass die Auseinandersetzung mit strukturellem Rassismus und Kontinuitäten rechter Gewalt teilweise nur zögerlich durch die norwegische Gesellschaft angegangen wird. Beispielsweise wird der 22. Juli häufig als erster Terroranschlag auf norwegischem Boden seit der Besatzung durch die Nationalsozialisten benannt. In welchem Ausmaß Rassismus und rechte Gewalt Norwegen jedoch zwischen 1945 und 2011 geprägt haben, erfuhren wir bei unserem Treffen mit dem Antirasistisk Senter. Neben Sprachkursen, Beratungen und Jugendangeboten engagiert sich das Zentrum politisch in antirassistischen Kämpfen.
Als Reaktion auf den 22. Juli widmet sich das Zentrum seit 2011 verstärkt dem Monitoring rechtsextremer Aktivitäten.
Von Sofia Rana erfuhren wir zudem mehr über die Geschichte des Rassismus in Norwegen nach 1945 und entdeckten Gemeinsamkeiten zur deutschen Nachkriegsgeschichte, darunter ein Erstarken von Rassismus nach dem sogenannten Anwerbestopp von Vertragsarbeitenden in den 1970er Jahren und eine florierende rechtsextreme Skinhead-Bewegung in den 1990erJahren. Trotz einer klaren Kontinuität von Rassismus und rechter Gewalt in Norwegen bestätige die Erfahrung, dass eine engagierte antifaschistische Gesellschaft organisierten Rechtsextremisten Widerstand leisten kann.
Erinnerungskultur als Gemeinschaftsaufgabe
Unsere Reise nach Oslo hat es uns ermöglicht, als Projektteam gemeinsam zu lernen. Es bot uns die Chance, über die Gestaltung einer institutionalisierten Praxis der Bildung und Erinnerung in Norwegen zu reflektieren. Besonders beeindruckt hat uns der sensible und empathische Umgang mit den Überlebenden und Angehörigen durch das Team auf Utøya, deren jahrelange Beziehungsarbeit und Vernetzung mit den Betroffenen ein wichtiger Grund dafür ist, dass die Insel heute wieder ein hoffnungsvoller und gemeinschaftlicher Ort für junge Menschen sein kann. Angesichts einer stärker werdenden Rechten in Europa bedeutet es uns viel, uns mit anderen europäischen Organisationen und Aktivist*innen vernetzen zu können, die wichtige Bildungs- und Erinnerungsarbeit im Kontext rechter Gewalt leisten.
Wir danken allen, die sich mit uns in Oslo und auf Utøya getroffen haben und ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben. Wir hoffen, viele von euch zur Eröffnung des Dokumentationszentrums in Chemnitz im Mai 2025 begrüßen zu dürfen!