Die Zukunft der toten Shopping Mall

Der Stadt­pla­ner Vic­tor Gru­en ent­wi­ckel­te die ers­ten moder­nen Ein­kaufs­zen­tren der USA. Sei­ne Visi­on glitt ihm aus den Hän­den, doch sei­nen Ide­en sind für die Kri­se nützlich. Ein Beitrag von Anette Baldauf.
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Aus dem 6. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn Städte gut für das Klima wären?

Es ist eine der selt­sa­men Iro­ni­en des Schick­sals, dass Vic­tor Gru­en (gebo­ren Vik­tor David Grün­baum, Wien 1903 – 1980) als Erfin­der der Shop­ping Mall bekannt wur­de, obwohl er sich zeit­le­bens mit aller Vehe­menz für eine vita­le Urba­ni­tät und öko­lo­gi­sche Aus­rich­tung der Stadt einsetzte. 

Der kurz nach dem Anschluss in die USA emi­grier­te jüdi­sche Archi­tekt und Kaba­ret­tist ent­warf dort in den 1950er Jah­ren nach dem Vor­bild dicht inte­grier­ter, euro­päi­scher Stadt­zen­tren die Shop­ping Mall. Für die aus den Down­towns flie­hen­de wei­ße Mit­tel­schicht (“white flight”) soll­te die Mischung aus Kom­merz und zivil­ge­sell­schaft­li­cher Ein­rich­tun­gen in den zer­frans­ten Agglo­me­ra­tio­nen ein sozia­les und kul­tu­rel­les Zen­trum bie­ten. In den 1960er Jah­ren ver­such­te Gru­en dann die ver­nach­läs­sig­ten Stadt­zen­tren in den USA und spä­ter auch in Euro­pa mit­tels Kon­sum zu bele­ben, über­trug die Mall-Matrix auf die Innen­städ­te und führ­te weit­läu­fi­ge Fuß­gän­ger­zo­nen ein. In jedem die­ser Schrit­te wur­de Gru­en vom uner­schüt­ter­li­chen Glau­ben an die inte­gra­ti­ve Macht des Markt­plat­zes als Ort der sozia­len Inte­gra­ti­on geleitet. 

Gru­ens grund­le­gen­de visio­nä­re Kraft lag in einem Den­ken, das von einer Mischung aus Gigan­to­ma­nie und Krea­ti­vi­tät gelei­tet wur­de, die stets die Zukunft vor­weg­zu­neh­men ver­such­te. Ein beein­dru­cken­des Bei­spiel für die­sen Weit­blick war Gru­ens Ant­wort auf eine 1943 von der Zeit­schrift Archi­tec­tu­ral Forum for­mu­lier­te Ein­la­dung, sich an dem Ent­wurf einer Modell­stadt für das Jahr ​“194x” zu betei­lig­ten, also für jenes unbe­kann­te Jahr, in dem der Zwei­te Welt­krieg zu Ende gehen sollte.

Umwelt­pla­nung statt Weltuntergang

“194x” soll­ten von aner­kann­ten Moder­nis­ten wie Mies van der Rohe und Charles Eames ent­wor­fen wer­den; Vic­tor Gru­en und Elsie Krum­meck waren ein­ge­la­den, einen Pro­to­typ für ein regio­na­les Ein­kaufs­zen­trum zu ent­wer­fen. Die bei­den reagier­ten mit einem Ent­wurf, der die von den Herausgeber*innen vor­ge­ge­be­ne Grö­ße und Funk­ti­on des Zen­trums weit über­traf. Ihr Vor­schlag schlug zwei räum­li­che Inter­ven­tio­nen vor: das Auto und die Ein­kau­fen­den soll­ten getrennt, Kon­sum- und zivil­ge­sell­schaft­li­che Räu­me unter einem umfas­sen­den Dach zusam­men­ge­führt wer­den. ​“194x” mar­kiert den Auf­takt in der Geschich­te der Shop­ping Mall – wenn­gleich die Herausgeber*innen den Ent­wurf mit Ver­weis auf die über­zo­ge­ne Grö­ße ablehnten. 

Ange­sichts der öko­lo­gi­schen Kri­se, wie sie heu­te sicht­bar wird – wel­che Visio­nen hät­te Vic­tor Gru­en für das Jahr 201x, jenes unbe­kann­te Jahr, in dem Stadt­ver­wal­tun­gen sich ver­ant­wort­lich zei­gen und mit Taten auf die Kli­ma­kri­se reagieren? 

Gru­ens Werk bie­tet zahl­rei­che Ansatz­punk­te für die­ses spe­ku­la­ti­ve Gedan­ken­spiel: Mit­te der 1960er Jah­re begann Gru­en sich ver­stärkt für Öko­lo­gie zu inter­es­sie­ren; 1968 grün­de­te er in Los Ange­les das Cen­ter for Envi­ron­men­tal Plan­ning und 1973 in Wien das Zen­trum für Umwelt­pla­nung. Bei­de Insti­tu­te ziel­ten dar­auf ab, Expert*innendiskurse für eine kri­ti­sche Öffent­lich­keit auf­zu­be­rei­ten und eine Schnitt­stel­le zwi­schen den Dis­zi­pli­nen her­zu­stel­len. Er schrieb das Buch ​“Ist Fort­schritt ein Ver­bre­chen? Umwelt­pla­nung statt Weltuntergang”(1975) und ver­fass­te die ​“Char­ta von Wien” (1973), die er als Gegen­ent­wurf zu Le Cor­bu­si­ers ​“Char­ta von Athen” ver­stand und die Prin­zi­pi­en einer men­schen­ge­rech­ten Stadt mit höchs­ter Kom­pakt­heit und größt­mög­li­cher Ver­flech­tung pries. 

Kom­merz als Motor bringt… Kommerz

Wäh­rend sich die Shop­ping Mall in den USA als fixer Bestand­teil des Ame­ri­can Way of Life durch­setz­te, distan­zier­te sich Gru­en immer schär­fer davon. Er bezeich­ne­te die von den zivil­ge­sell­schaft­li­chen Ein­rich­tun­gen ent­le­dig­ten Gebäu­de als ​“Ver­kaufs­ma­schi­nen”, ​“stritt die Vater­schaft ein für alle Mal ab” und wei­ger­te sich, ​“Ali­men­te für die­se Bas­tard­pro­jek­te zu bezah­len”. Gru­en erkann­te, dass in einer von Kon­zer­nen regier­ten Welt die Gier der Ent­wick­ler und Spe­ku­lan­ten kei­nen Platz für Biblio­the­ken, Club­räu­me, Zoos, etc. vor­sah. Kom­merz als Motor brach­te kei­ne viel­schich­ti­ge Urba­ni­tät her­vor, so wie er das vor­ge­se­hen hat­te, son­dern ledig­lich mehr Kommerz. 

In den 1950er Jah­ren rich­te­ten sich Gru­ens Inter­ven­tio­nen gegen Auto­kon­zer­ne, wel­che die Stadt­ent­wick­lung in den USA domi­nier­te. Er stell­te das ​“auto­mo­bil­rei­che Nach­kriegs­ame­ri­ka” in Fra­ge, das in sei­ner Fixie­rung auf das Auto mensch­li­che Inter­ak­ti­on radi­kal ein­schränk­te. Waren es in den 1950er Jah­ren die Auto­mo­bil­kon­zer­ne Ford, Gene­ral Motors und Chrys­ler, die in den USA poli­tisch den Ton anga­ben, sind es heu­te Tech-Gigan­ten wie Face­book, Goog­le, Apple und Ama­zon, wel­che die all­ge­mei­ne Ori­en­tie­rung der Städ­te maß­geb­lich prägen. 

Städ­te, die in den ver­gan­ge­nen Jah­ren mit Steu­er­erleich­te­run­gen um die Ansied­lung der Tech-Kon­zer­ne kon­kur­rier­ten, legi­ti­mier­ten ihre Anbie­de­rung gegen­über den Bürger*innen mit post­in­dus­tri­el­len Arbeits­ver­hält­nis­sen, die mit öko­lo­gi­schen Lebens­be­din­gun­gen (Stich­wort: qua­li­ty of life) gleich­ge­setzt wur­den. Ihre stra­te­gi­sche Kurz­sich­tig­keit ver­schlei­ert den Blick auf die mate­ri­el­le Basis der imma­te­ri­el­len Pro­duk­ti­on, wel­che nach wie vor im glo­ba­len Raub­zug gesi­chert wird, wenn nötig mili­tä­risch. In der Visi­on von Gru­en, der zeit­le­bens in glo­ba­len Maß­stä­ben dach­te, wis­sen Städ­te um die glo­ba­le Ein­bet­tung loka­ler Fak­to­ren und agie­ren ent­spre­chend verantwortungsvoll. 

Tech-Kon­zer­nen als trei­ben­de Kraft der Stadt­ent­wick­lung wür­de Gru­en auch aus einem ande­ren Grund skep­tisch gegen­über ste­hen. Gru­en sah in der Stadt eine Büh­ne, durch­aus im Sin­ne von Han­nah Arendt als Ort der Erschei­nung. Für ihn lag das Ange­bot der Stadt in der mög­li­chen Flucht aus den Rou­ti­nen des All­tags, der spie­le­ri­schen Insze­nie­rung von Iden­ti­tä­ten und dem Zugang zu einem attrak­ti­ven Anders­wo. Für Gru­en setz­te die­se Kon­stel­la­ti­on die kör­per­li­che Prä­senz ver­schie­de­ner Akteur*innen vor­aus, sei­ne Visi­on einer öko­lo­gi­schen Stadt basier­te auf Dif­fe­renz, Viel­falt und Dich­te. Ist es mög­lich an die­sen Grund­wer­ten des Urba­nen fest­zu­hal­ten, sie aber von der Macht inter­na­tio­na­ler Spe­ku­lan­ten, glo­ba­ler Kon­zer­ne und, all­ge­mei­ner gespro­chen, dem hei­li­gen Para­dig­ma des Wirt­schafts­wachs­tums zu entkoppeln?

Shop­ping Malls als Experimentierfeld

Eine der­ar­ti­ge Visi­on einer Stadt, die gut fürs Kli­ma ist, geht weit über die Auf­for­de­rung zur Bepflan­zung von Bäu­men, die Ein­füh­rung von Elek­tro­au­tos und Car­sha­ring oder auch einer Reduk­ti­on des indi­vi­du­el­len Kon­sums hin­aus. Sie bedarf einer über­zeug­ten poli­ti­schen Ver­ant­wor­tung und setzt gleich­zei­tig einen brei­ten Kon­sens vor­aus. Sie bedarf ver­mit­teln­de Instan­zen, ähn­lich jenen Insti­tu­ten, die Gru­en in Los Ange­les und Wien grün­de­te um öko­lo­gi­sche Anlie­gen zur Dis­kus­si­on zu brin­gen. Als Aus­tra­gungs­ort für die­se Debat­ten bie­tet sich eine vor­ma­lig mäch­ti­ge Kul­tur­in­sti­tu­ti­on an, die aktu­ell ihre Auf­ga­be als Traum­ma­schi­ne ver­lo­ren hat: die Shop­ping Mall. 

Gru­en selbst sah Shop­ping Malls stets als Expe­ri­men­tier­feld für die Stadt; sie illus­trie­ren auf anschau­li­che Wei­se die Funk­ti­ons­wei­se eines urba­nen Gefü­ges, des­sen Logis­tik, Infra­struk­tur, Ver­net­zung, Koor­di­na­ti­on und Kom­mu­ni­ka­ti­on. Und ähn­lich wie die vor mehr als ein Hun­dert Jah­ren von Wal­ter Ben­ja­min beschrie­be­nen Arka­den mar­kie­ren sie auch die Gren­zen kon­ven­tio­nel­ler Kon­sum­kul­tur: Finanz­kri­sen, Online-Shop­ping, vor allem die aggres­si­ve Preis­po­li­tik von Ama­zon, trie­ben klei­ne, alter­na­ti­ve Anbie­ter eben­so wie gro­ße Ket­ten, Kauf­häu­ser und auch Shop­ping Malls in den Bankrott. 

Inku­ba­to­ren der öko­lo­gi­schen Stadt

2020 soll in den USA jede vier­te Mall tot sein. Tote Malls bie­ten daher eine idea­le Expe­ri­men­tier­flä­che für die neue, kli­ma-freund­li­che Stadt. Wäh­rend sich Deve­lo­per und Stadt­ver­wal­tun­gen seit Jah­ren um das Retro­fit­ting der Big-Box-Gebäu­de bemü­hen, in dem sie den Retro-Futu­ris­mus der Malls für Senio­ren­hei­me, Kir­chen, Col­la­ge oder Tech-Cam­pu­ses nutz­bar machen (z.B. der Goog­le Cam­pus ​“Buil­ding RLS1” im Mary­field Mall in Moun­tain View, Cali­for­nia) oder nach ihrer Pla­nie­rung für Life-Style Deve­lop­ments zur Ver­fü­gung stel­len, könn­ten zivi­le Initia­ti­ven die in Vor- wie Innen­städ­ten rot­ten­den toten Malls als Inku­ba­to­ren einer öko­lo­gi­schen Stadt instru­men­ta­li­sie­ren: Hier könn­ten lebe­haf­te Dis­kus­sio­nen statt­fin­den, zu jenen Wer­ten, die die neue öko­lo­gi­sche Stadt aus­ma­chen. Hier könn­ten Aus­bil­dungs­stät­ten ange­sie­delt wer­den, die ver­lern­te und nun uner­läss­li­che Fähig­kei­ten wie jene der Ver­ge­mein­schaf­tung, der Repa­ra­tur oder des Upcy­clings wie­der ent­de­cken und abseits von Kon­zer­nen den Aus­tausch von Ange­bo­ten, Gütern und Fähig­kei­ten, direkt vor Ort unter öko­lo­gi­schen Aspek­ten organisieren.

Wem die­se Idee gänz­lich unrea­lis­tisch erscheint erin­ne­re sich dar­an, dass es glo­ba­le Mar­ken sind, die urba­ne Wer­te kan­ni­ba­li­siert haben, und nicht umge­kehrt. In den 1990er Jah­ren such­ten Nikes Cool­hun­ter inner­städ­ti­sche Sport­plät­ze auf um die Vita­li­tät afro-ame­ri­ka­ni­scher Jugend­li­cher zu koop­tie­ren und Cool­ness als Ware zu fas­sen. Ama­zon prä­sen­tiert sich heu­te noch ger­ne als urban sophisti­ca­ted, nicht zuletzt des­halb setzt der Kern­wert des Gigan­ten auf das kul­tu­rel­le Kapi­tal von Büchern. Wes­halb also sol­len Städ­te nicht Kon­zer­ne als Kan­ni­ba­len des urba­nen Lebens zurück­wei­sen und die geleb­te Urba­ni­tät auf Sport­plät­zen, in Biblio­the­ken, Coops, Tausch­zen­tra­len, Werk­stät­ten, Thea­tern, Schu­len, etc. als Wert, und nicht Ware, im krea­ti­ven Aus­tauschs för­dern. Zum Bei­spiel in toten Shop­ping Malls. 


Autor*in

Anet­te Bald­auf ist Pro­fes­so­rin für Epis­te­mo­lo­gie und Metho­do­lo­gie an der Aka­de­mie der Bil­den­den Küns­te in Wien. Bis 2005 arbei­te­te sie an der New School for Soci­al Rese­arch in New York. Ihr Buch ​“Vic­tor Gru­en. Shop­ping Town. Memoi­ren eines Stadt­pla­ners” erschien im Böhlau Ver­lag. [Foto: Maria Ziegelböck] 

Was wäre, wenn…

… Städte gut für das Klima wären?

Im 6. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Städte und Klima. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

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