Aus dem 1. Teil der was wäre wenn-Reihe:
Was wäre, wenn es keine Gefängnisse mehr gäbe?
Ist eine Welt ohne Gefängnisse utopisch? Als Thomas More seinen Roman „Utopia“, in dem eine perfekte Gesellschaft beschrieben wird, im 16. Jahrhundert verfasste, war das Wortspiel im Titel beabsichtigt. Das Präfix „U“ weist auf eine Negation hin und der griechische Begriff „topos“ bedeutet so viel wie „Ort“ oder „Platz“. Was More damit sagen wollte? Dass dieser Platz, diese perfekte Gesellschaft nur in der Literatur existierte und in der Realität nicht möglich sei. Ich glaube, dass eine Welt ohne Gefängnisse nicht utopisch im Sinne einer Unerreichbarkeit ist. Ich glaube, dass die Abschaffung von Gefängnissen ein umsetzbares Ziel ist.
Warum wir dieses Ziel verfolgen sollten, ist in den Vereinigten Staaten am deutlichsten sichtbar. In keinem anderen Land auf der Welt sind mehr Menschen eingesperrt, dementsprechend heftig sind auch die Proteste gegen das bestehende System. Nach Angaben der Bürgerrechtsorganisation NAACP machen die Vereinigten Staaten etwa fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber 21 Prozent der Gefangenen aus. Der Großteil (56 Prozent) der Inhaftierten sind Afroamerikaner und Hispanics – obwohl deren Anteil an der US-Bevölkerung nur bei 32 Prozent liegt.
Diese Diskrepanz hat nicht etwa damit zu tun, dass Nicht-Weiße mehr Drogen konsumieren – denn Drogen gehören zu den häufigsten Haftgründen. Die Diskrepanz begründet sich vielmehr damit, dass People of Color öfter kontrolliert werden, für die gleichen Vergehen schärfere Urteile erhalten als Weiße, sich die Kaution von wenigen Hundert Dollar oft nicht leisten können und deshalb monate- oder sogar jahrelang im Gefängnis bleiben. Wie tief rassistisch das Strafjustizsystem ist, kann man gut in Ava DuVernays Dokumentation „13“ und in Michelle Alexanders Buch „The New Jim Crow“ nachvollziehen.
Doch einen Schritt zurück. Wie kommt es, dass die USA so massenhaft wegsperren? Liegt es daran, dass die Menschen dort weniger gesetzeskonform sind? Nein, es liegt daran, dass das Gefängnissystem eine Industrie ist. Menschen verdienen Geld damit, dass andere Menschen im Knast sitzen. Jede Menge Geld.
Reformen werden nicht ausreichen
Ich lebe in Texas, einem der größten Bundesstaaten der USA, in den besonders viele Gefangene aus anderen Bundesstaten „importiert“ werden. Und zwar aus reinem Profitinteresse. Die einzelnen Staaten können für jeden Inhaftierten rund 45.000 US-Dollar an Bundesmitteln verlangen. Fast doppelt so viel werden fällig, wenn es sich um Einzelhaft handelt.
Als es 1971 in einem Gefängnis in Attica, New York, zum blutigen Aufstand kam, glaubten viele, dass der Höhepunkt der Proteste gegen das Strafjustizsystem erreicht worden war. Über 1000 Insassen hatten damals mehrere Tage lang für bessere Haftbedingungen protestiert und dabei zahlreiche Wärter als Geiseln genommen. Am Ende der „Attica Prison Riots“ standen 33 tote Gefangene und zehn tote Wärter. Doch die Proteste sollten sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten im ganzen Land fortsetzen. Denn zu einer richtigen Industrie wurde das Gefängnissystem erst nach 1971. Lag die Gesamtzahl der Insassen zum Zeitpunkt des Attica-Aufstandes bei rund 200.000, sind es heute rund 2,2 Millionen. Der größte Gefangenenstreik in der Geschichte der Vereinigten Staaten fand schließlich im Jahr 2016 statt. Über 24.000 Insassen im ganzen Land schlossen sich zwei Monate lang zu einem Hunger- und Arbeitsstreik zusammen.
Ich glaube nicht, dass es möglich ist, das Gefängnissystem in den Vereinigten Staaten zu reformieren. Reformen sorgen dafür, dass die Strukturen aufrecht erhalten bleiben, weshalb selbst die Trump-Regierung gewisse Reformbemühungen vorgibt. Wir müssen das System an sich abschaffen und neu beginnen. Doch diese Forderung, das weiß auch ich, wirft eine ganze Reihe von Fragen auf. Zuallererst: Wie können wir dieses Ziel erreichen? Und was machen wir mit Menschen, die Recht brechen, wenn wir sie nicht einsperren?
Menschen einzusperren, hält niemanden in Sicherheit
Für mich beginnt der Prozess mit dem Verständnis darüber, dass alle Menschen Würde und Respekt verdienen. Und mit der Erkenntnis, dass alle Menschen schon einmal etwas „Falsches“ gemacht haben. Die meisten von uns verstoßen ständig gegen irgendwelche Gesetze. Oder wie Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn es in „Der Archipel Gulag“ formulierte: „Wenn es nur so einfach wäre! — dass irgendwo schwarze Menschen mit böser Absicht schwarze Werke vollbringen und es nur darauf ankäme, sie unter den übrigen zu erkennen und zu vernichten. Aber der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen. Und wer mag von seinem Herzen ein Stück vernichten?“
Menschen einzusperren, hält niemanden in Sicherheit. Wer jahrzehntelang in einem Käfig verrottet, ist danach kein besserer Mensch. Er wird dort nicht mit Fähigkeiten zum Weiterleben ausgestattet.
Wie aber könnte eine Welt ohne Gefängnisse aussehen? Man kann davon ausgehen, dass es immer noch Menschen geben wird, die stehlen, morden und vergewaltigen. Wie gehen wir mit denen um?
Im Fall von Diebstahl und Sachbeschädigung liefert das Prinzip der „restorative justice“ (zu deutsch: wiederherstellende Gerechtigkeit) Antworten. Das Ziel ist es dabei, so gut es geht die Zustände vor der Tat wiederherzustellen. Ein Prinzip, das wir aus der Bibel und anderen religiösen Texten kennen. Wer Feuer legt, ist für die Reparatur verantwortlich, heißt es zum Beispiel im zweiten Buch Mose. Geschädigte profitieren davon genauso wie die Täter. Das Prinzip wirkt abschreckend, weil niemand umsonst arbeiten möchte und es hilft bei der Bildung von dauerhaften Beziehungen innerhalb der Community. Die Reparatur kann man also auch als Sozialarbeit betrachten. Was aber, wenn ein Mensch ein ganzes Haus niederbrennt? Was, wenn der Schaden so groß ist, dass eine Person es nicht alleine stämmen kann? Dann braucht es die schnelle Hilfe der Gemeinschaft. Und die verantwortliche Person könnte seine Schulden über Jahre hinweg abarbeiten.
Das aktuelle System belohnt Leugnung
Wenn es zu Gewaltverbrechen kommt, genügt „restorative justice“ nicht. Wir können weder eine Vergewaltigung rückgängig machen, noch einen Toten wieder zum Leben erwecken. Hier hilft das Konzept der „transformative justice“, bei dem immer die verletzte Person und ihre Genesung im Mittelpunkt steht. Die Geschädigten müssen sich gehört fühlen und wissen, dass der oder die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Man spricht von „transformativer Gerechtigkeit“, weil das Ziel nachhaltige Veränderungen sind. Es geht um die Folgen und sozialen Bedingungen der Tat. Konflikte finden niemals nur zwischen zwei Menschen statt. Sie sind immer auch durch größere Faktoren beeinflusst, sei es die Familie, Schule, psychische Erkrankungen, Sucht oder historische Strukturen wie das Patriarchat und Rassismus.
Zum Prinzip der „transformative justice“ gehört, dass es keine einheitliche Lösung gibt. Verschiedene Situationen verlangen verschiedene Antworten, und es ist wichtig, dass die Betroffenen mitentscheiden können, welche konkreten Maßnahmen getroffen werden. Im Fokus steht nachhaltige Prävention, das heißt, es muss garantiert werden, dass die Täter ihre Tat nicht wiederholen und auch die Community sicher ist.
Wenn wir uns darauf einigen, dass das Wegsperren der „schlechten Menschen“ niemandem wirklich hilft, beginnen wir auch zu verstehen, auf welche Weise die Gesellschaft ihre Individuen unterstützen kann und sollte. Die meisten Täter haben selbst Traumata erlebt, ihnen muss geholfen werden, und das geschieht hinter Gittern kaum.
Eine der größten Schwachstellen unseres derzeitigen Systems besteht darin, dass es sich lohnt, seine Taten zu leugnen, um Haftstrafen zu vermeiden. Wer übernimmt schon Verantwortung, wenn Verantwortung Gefängnis bedeutet? In einer Welt ohne Anreize zur Leugnung könnten Menschen zu ihren Taten stehen, um daraus zu lernen.
Keine Tat entsteht im Vakuum
Dass in US-Gefängnissen inhumane Bedingungen herrschen, ist bekannt. Doch selbst gut geführte Knäste helfen der Gesellschaft nicht weiter. Stattdessen sollte es mehr und bessere sozialtherapeutische Einrichtungen geben. Die dort behandelten Menschen würden ihre Autonomie bewahren und das Recht haben, die Einrichtung zu verlassen – solange die Community bereit ist, sie wieder aufzunehmen. In der Folge könnten sie bei der Präventionsarbeit helfen. Wichtig ist, dass die Heileinrichtungen am Ende nicht wie Gefängnisse unter anderem Namen funktionieren. Keine Mauern. Kein Stacheldraht. Keine Türme. Keine Waffen. Keine Käfige.
Kommen wir zu einem Punkt, der nach meiner Meinung eine große Rolle spielt: Vergebung. Menschen, die glauben, dass Vergebung bei bestimmten Taten wie zum Beispiel einer Vergewaltigung nicht möglich ist, möchte ich sagen, dass es sich immer um einen Prozess handelt. Das Geschehene begreifen, sich in Vergebung versuchen, diesen Willen wiederholen und schließlich erkennen, dass keine Tat im Vakuum entsteht. Für das Opfer nicht. Und für den Täter nicht.
Ich weiß, dass diese Art von Prozess nicht für jeden möglich oder wünschenswert ist. Auch deshalb darf das Prinzip der „transformative justice“ nie wie ein Korsett wirken, sondern muss flexibel bleiben.
Kurz gesagt: „Transformative justice“ zielt darauf, die Betroffenen zu heilen, die Situation zu lösen und die Gemeinschaft zu verändern. Wie wirksam dieses Konzept sein kann, könnte man in Zukunft daran messen, wie oft Menschen ihre Tat wiederholen. Allein an den hohen Rückfallquoten nämlich erkennt man, wie wenig das aktuelle System funktioniert.
Beschreibe ich also eine Utopie, wenn ich eine Welt ohne Gefängnisse beschreibe? Vielleicht in dem Sinne, dass diese Gesellschaft noch nicht existiert. Aber es gab auch mal eine Zeit, in der noch keine Wolkenkratzer standen und Sklaverei akzeptierte Praxis war.
Autor*in

Azzurra Crispino unterrichtet am Austin Community College (Texas) Philosophie und ist Mitbegründerin der Hilfsorganisation „Prison Abolition & Prisoner Support“, die unter anderem Briefkontakt zu Gefängnisinsassen herstellt. Crispino kommt aus Neapel, Italien, und wohnt seit ihrer Jugend in den USA.
Was wäre, wenn…
… es keine Gefängnisse mehr gäbe?
Im 1. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Gefängnisse. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alternativen für die Gesellschaft sichtbar zu machen und potenzielle Lösungen ins Zentrum zu rücken.
Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.
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