Aus dem 1. Teil der was wäre wenn-Reihe:
Was wäre, wenn es keine Gefängnisse mehr gäbe?
Als die tschechische Architektin Andrea Seelich damit begann, Gefängnisse zu bauen, war es ihr wichtig, die Enge einmal selbst zu erleben. Eineinhalb Jahre wohnte sie auf neun Quadratmetern in einer Mietwohnung im Zentrum von Prag. Dabei fiel ihr auf, wie wichtig der Blick aus dem Fenster für sie wurde. Frische Luft und Tageslicht seien zentral für die Sinne und Gesundheit der Inhaftierten, stellte sie bei ihrem Experiment fest.
Mehr als hundert Gefängnisse hat Seelich, die mittlerweile in Wien arbeitet, seitdem besucht, analysiert und mitentwickelt. In den von ihr gebauten Anstalten sollen Inhaftierte und Personal sich so gut es geht wohlfühlen, dann gelinge auch die Resozialisierung besser. Als Materialien verwendet Seelich nur Holz, Metall und Beton – anstatt Plastik; ihre Zellen sind mindestens zwölf Quadratmeter groß. Auch die Auswahl der Farben sei wichtig, sagt Seelich. In vielen anderen Gefängnissen käme Farbe nämlich nur zum Einsatz, um Bereiche zu markieren, etwa blau für die Insassen, grün für die Bediensteten oder rosa im Frauenknast.
Anders als in Gefängnissen, die aus Containern gebaut sind, sollen Häftlinge an der Reparatur mitwirken können, so gebe es gleich eine Wechselwirkung zwischen Material und Pädagogik. „Im Knast habe ich die maximale Möglichkeit, auf Menschen einzuwirken. Und gleichzeitig die größte Verantwortung, damit die sich nicht die Köpfe einschlagen!“, sagte sie dem Südwestrundfunk.
„Strafvollzug kümmert kaum noch jemanden“
Gefängnisse werden – was die Architektur betrifft – humaner. Das ist nicht nur in Deutschland der Trend der vergangenen Jahre. Die Bemühungen, die bauliche Gestaltung der Gefängnisse zu verbessern, steht jedoch im Gegensatz zu anderen regressiven Entwicklungen im Strafvollzug. Während sich einige Bundesländer in Deutschland mit schicken Bauten schmücken, bleibt das oft inhumane System Knast bestehen. Debatten über Sinn und Unsinn von Strafe und die Frage, wie in Deutschland mit Gefangenen umgegangen wird, seien fast vollständig aus der Öffentlichkeit verschwunden, beklagen Experten und Expertinnen.
Von einem auf Resozialisierung, also der Wiedereingliederung von Gefangenen in die Gesellschaft, angelegten Strafvollzug gibt es eine Rückentwicklung hin zu härteren Strafen und restriktiverem Strafvollzug. Das hat auch der Jurist und Sozialwissenschaftler Bernd Maelicke beobachtet. Den Tiefpunkt habe seiner Meinung nach der Koalitionsvertrag der Bundesregierung vom Februar 2018 gebildet – dort komme das Wort Resozialisierung nicht einmal mehr vor.
Bernd Maelicke hat das 2015 erschienene Buch „Das Knastdilemma. Wegsperren oder Resozialisieren“ geschrieben, eine Streitschrift, in der er der Politik vorwirft, sich beim Thema Strafjustiz von der Stimmungslage und Medien leiten zu lassen. Laut Maelicke habe sich seit der Strafvollzugsreform von 1976 in Deutschlands Knästen nicht viel verbessert. Strafvollzug sei politisch ein „Looser-Thema“ geworden, sagt er. Ähnlich beschreibt es der Journalist und Autor Heribert Prantl: „Strafvollzug kümmert kaum noch jemanden, Resozialisierung ist kein Thema mehr. Es gilt das Motto: aus den Augen, aus dem Sinn.“
Seitdem mit der Föderalismusreform von 2006 die Kompetenz in Sachen Strafvollzug vom Bund auf die Länder überging, werden in Deutschland kaum noch Konzepte diskutiert, wie mit Straftäterinnen und ‑tätern besser oder anders umgegangen werden sollte. Zwar blieb der von Anwälten gefürchtete Wettbewerb der „Schäbigkeiten“, ein Unterbietungswettlauf zwischen den Bundesländern um immer billigere Gefängnisse, aus, eine substanzielle, bundesweite Debatte um die Zukunft des Strafvollzugs wurde allerdings genauso wenig geführt. Das sei kurzsichtig, weil „bloßes Einsperren“ gar nichts löse, so Prantl. „Gefangene bleiben nicht ewig Gefangene. Morgen sind sie wieder Nachbarn.“
„Eine angsterfüllte Gesellschaft will wegsperren“
Rund 63.000 Menschen sitzen derzeit in Deutschland in Haft. Während die Zahl der Verurteilungen seit mehr als zehn Jahren deutlich abnimmt, verringert sich die Zahl der Strafgefangenen kaum. Auch in Deutschland lässt sich etwas beobachten, was der französische Soziologe Didier Fassin als eine repressive Wende, ein kulturell und politisch bedingtes „Moment des Strafens“ beschreibt: Obwohl Kriminalität in Deutschland stark rückläufig ist, sinkt gleichzeitig das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung.
Das Gefängnis ist dabei zu einem Symbol von Sicherheit und Kontrolle geworden, denn Weggesperrte können zumindest draußen keine weiteren Straftaten begehen. Die Angst stehe laut Fassin in keiner Korrelation zur Entwicklung von Kriminalität und Delinquenz, schlage sich aber in längeren Haftstrafen und höheren Zahlen von Untersuchungshaft nieder. Diesen Trend hat Fassin für Europa, die USA, sowie Brasilien ausgemacht.
Auch Jurist Maelicke hält die Entwicklung in den letzten Jahren für fehlgeleitet, weil sich die Politik zu sehr von der allgemeinen Stimmung der Verunsicherung treiben lassen würde: „Eine offene Gesellschaft kann sich mehr Offenheit in der Resozialisierung leisten, eine angsterfüllte will wegsperren“, sagt er. Und so mache die gegenwärtige Gefängnispolitik das Land nicht sicherer, sondern unsicherer.
Tatsächlich kommt eine 2016 veröffentlichte Studie des Bundesjustizministeriums zu dem Schluss, dass fast die Hälfte aller verurteilten Straftäter in Deutschland wieder rückfällig wird. Die höchsten Rückfallraten werden bei Jugendstrafen ohne Bewährung und Jugendarrests registriert: 64 Prozent. Ob Rückfälle durch restriktivere Politik zunehmen, darüber gibt es allerdings keine wissenschaftliche Untersuchungen. In seinem Buch zitiert Maelicke internationale Studien, die zeigen, dass der Ausbau des offenen Vollzugs die Rückfallquoten erheblich senkt.
Berlin ist Vorbild beim offenen Vollzug
Der offene Vollzug ist seit den Reformbemühungen der 70er Jahre ein wichtiger Baustein. Die Gefangenen können sich auf dem Gelände der Haftanstalt frei bewegen, arbeiten tagsüber außerhalb des Gefängnisses und können auch ihre Freizeit teilweise in gewohntem Umfeld verbringen. Selbst manche konservative Politiker wie der ehemalige Berliner Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) halten diese Form der Strafverbüßung für ein Erfolgsmodell. In Berlin sind es mittlerweile rund 30 Prozent der Strafgefangenen, die im offenen Vollzug sind. Bundesweit sind es jedoch nur rund 16 Prozent.
Seit der Föderalismusreform 2006 ist in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich geregelt, welche Gefangenen für den offenen Vollzug in Frage kommen. Maelicke spricht von einem deutlichen Nord-Süd-Gefälle, das „rechtsstaatswidrig“ sei, weil es grundsätzlich in nördlichen Bundesländern einfacher sei, in den offenen Vollzug zu kommen, als in südlichen Bundesländern. Vorbildlich seien laut Maelicke allein Berlin und Nordrhein-Westfalen.
Die Essener Strafverteidigerin Jenny Lederer beobachtet in ihrer Arbeit, dass die „Lockerungswilligkeit“ der Justiz nachlasse. Es komme immer öfter vor, dass ihre Mandanten die Endstrafe absitzen, also keine vorzeitige Haftentlassung auf Bewährung erhalten. Auch würden weniger begleitete oder unbegleitete Ausgänge gewährt, die aber notwendig seien, um ein Leben in Freiheit vorzubereiten. „Das wird sehr restriktiv gehandhabt“, sagt Lederer. Insgesamt würde weniger Unterstützung bei den Entlassungsvorbereitungen gegeben, also etwa dabei, eine Wohnung zu finden. Dabei müsse die Phase der sozialen Integration mindestens mit gleichem Aufwand vorbereitet, rechtlich, finanziell, organisatorisch und personell abgesichert werden, fordert auch Maelicke.
Viel Gewalt, wenig Therapie
„Als Daueraufgabe bleibt die Suche nach etwas Besserem als Strafrecht und Strafvollzug“, so Maelicke. Keine Anstalt sei drogenfrei, es bildeten sich Subkulturen, kriminelle Netzwerke und starke Hierarchien, Sexualität werde unterdrückt, außerdem gebe es keine Privatsphäre. Inhaftiertsein sei ein Prozess der Verrohung, sagt Maelicke und wird dabei von Statistiken unterstützt. Laut einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, die 2012 veröffentlicht wurde, hatten 16,8 Prozent der befragten Inhaftierten in den zurückliegenden vier Wochen Gewalt erlebt. So wurden sie etwa geschlagen, gequält oder getreten. Die Zahlen im Jugendvollzug waren doppelt so hoch.
Der hohen Gewalt steht ein sehr begrenztes Angebot an therapeutischen Möglichkeiten entgegen: Unter den mehr als 190 Justizvollzugs- und Jugendarrestanstalten in Deutschland gibt es zurzeit lediglich 71 spezielle sozialtherapeutische Einrichtungen oder Abteilungen. Diese praktizieren die am besten wissenschaftlich abgesicherten Behandlungskonzepte und verfügen über die höchsten Personalausstattungen. Laut Maelicke haben diese Anstalten die geringsten Rückfallquoten und dies bei überwiegend als besonders schwierig geltenden Strafgefangenen wie Sexual- und Gewalttätern. Der Anteil der verfügbaren Plätze in diesen Einrichtungen stieg zwar von 1,9 Prozent im Jahr 2003 auf 3,3 Prozent im Jahr 2017 (insgesamt 2.453 Plätze in ganz Deutschland). Das sei aber nicht genug, so Maelicke. „Die Sozialtherapie ist im Prinzip allen Gefangenen zu wünschen, bei denen schwere Verhaltensstörungen in ihrer Biografie begründet sind und immer wieder zu erneuter Straffälligkeit führen.“ Er fordert mehr Therapiemöglichkeiten im Regelvollzug, auch wenn das mehr koste.
Ein weiteres Problem ist die Überlastung. Einem Bericht der Funke Mediengruppe von 2018 zufolge lag die Auslastung in sechs Bundesländern bei über 90 Prozent. Weil die Gefangenen nach Geschlecht und Gefährlichkeit getrennt untergebracht werden müssen, sprechen Experten und Expertinnen schon bei einer Auslastung von 85 bis 90 Prozent von Vollbelegung. Anstatt aber den Strafvollzug zur reformieren – oder bestimme Delikte nicht mehr mit einer Freiheitsstrafe zu ahnden, wird meist nur mehr Geld für „Sicherheit“ gefordert: Man habe festgestellt, dass in den Gefängnissen vieles schief läuft, sagte der rheinlandpfälzische CDU-Fraktionschef Christian Baldauf beispielsweise im Frühjahr 2018. Seine Forderung: Mehr Aufseher und Spürhunde.
Während einige Gefängnisse in Deutschland offenbar aus den Nähten platzen, glänzen andere: Beispiele für humanere Knastarchitektur sind die JVA Oldenburg und die JVA Heidering bei Berlin. In Heidering verbindet ein lichtdurchfluteter, verglaster Gang alle Gebäudeteile. Die Zellenfenster sind bodentief, die Gefangenen können auf Balkonen im begrünten Innenhof frische Luft atmen. „Wir bauen streng menschenwürdig“, sagte Direktorin Anke Stein zur Eröffnung im Jahr 2013. „Wir haben nichts zu verbergen. Es gibt keine dunklen Ecken, keiner soll sich verstecken können.“ Transparenz sei damals das Mantra gewesen.
Transparenz fordert auch der Strafvollzugsexperte Maelicke. Nicht nur im baulichen Sinne, sondern auch darüber, was Gefängnisse bringen – und was nicht.
Autor*in

Lena Kampf, 34 Jahre alt, arbeitet als investigative Journalistin und schreibt über Sicherheits- und Justizthemen. Sie wohnt in Berlin und hat dort zuvor Politikwissenschaften studiert.
Was wäre, wenn…
… es keine Gefängnisse mehr gäbe?
Im 1. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Gefängnisse. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alternativen für die Gesellschaft sichtbar zu machen und potenzielle Lösungen ins Zentrum zu rücken.
Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.
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