Aus dem 1. Teil der was wäre wenn-Reihe:
Was wäre, wenn es keine Gefängnisse mehr gäbe?
Wer gegen das Einsperren von Menschen und den damit verbundenen Freiheitsentzug ist, steht meist im Verdacht, zu weit zu gehen. Wäre es aber nicht zutreffender, die Errichtung und nicht die Abschaffung von Gefängnissen als die eigentlich extreme Forderung zu begreifen? Meist wird jedoch die Sorge geäußert, dass mit dem Gefängnis eines der letzten rechtsstaatlichen Mittel aufgegeben wäre, das im „Fall der Fälle“ zur Anwendung kommt, um das gesellschaftliche Zusammenleben abzusichern. In der Linie dieses Arguments behält das Gefängnis seinen festen und irgendwie schon gerechtfertigten Ort in der Welt, auch wenn den meisten klar ist, dass es ein vergessener und kein schöner Ort ist, ganz am Rande der Gesellschaft.
Seit der Einführung des modernen Strafvollzugs vor mehr als 200 Jahren, der den Bestraften zeitweilig die Freiheit entzieht, aber nicht mehr ihre Körper martert oder foltert, gilt das Gefängnis als eine humane, auf das gesellschaftliche Gemeinwohl und auf die Möglichkeit der Einsicht in das eigene Fehlverhalten ausgerichtete Besserungsanstalt. Die Wiedereingliederung in die Gesellschaft, kurz: „Resozialisierung“, gilt als das oberste Ziel des Strafvollzugs. Wenn niemand mehr zur Verantwortung gezogen werden könnte, wenn Gesetzesbrüche folgenlos blieben, würden gesellschaftliche Konflikte unkontrollierbar. Daher, so die Folgerung, müsse Strafe sein und solle auch niemand seiner Strafe entkommen. Diese Rechtsauffassung prägt das rechtsstaatliche Selbstverständnis moderner Gesellschaften bis heute.
Der falsche Glaube an Abschreckung
All jene, die das Gefängnis abzuschaffen fordern, stehen daher unter einem enormen Druck, gute Gründe für ihre Kritik zu liefern. Der politische Streit für eine Gesellschaft, in der es keine Gefängnisse mehr gäbe, setzt zunächst an der Frage der Funktionalität der Strafinstitutionen an: was leisten Gefängnisse tatsächlich? Der verbreitete Glaube an den Erfolg von Strafen in ihrer Funktion als Abschreckung potenzieller Täter stand einer differenzierten Kritik des Gefängnisses und seiner sozialen Auswirkung zumeist im Wege. In der Studie Sozialstruktur und Strafvollzug von 1933 über den Zusammenhang von Kriminalitätsrate und Strafmaß, zeigten die beiden Sozialwissenschaftler Otto Kirchheimer und Georg Rusche, dass die Verschärfung von Strafen in keinem direkten Verhältnis zu einem Rückgang der Kriminalität steht. Dieser Zusammenhang wird auch von aktuellen Studien (so etwa in David Garlands Kultur der Kontrolle. Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart von 2001) gestützt.
In der Tradition der kritischen Sozialforschung wurden über die Kritik der Funktion des Strafrechts hinaus die soziale Zusammensetzung der Gefängnispopulation beschrieben und die Selektivität des Strafvollzugs im Sinne eines „punishing the poor“ („Bestrafung von Armut“) betont. Dabei steht die Dysfunktionalität des Gefängnisses, das heißt sein Scheitern am Anspruch der Resozialisierung, in Verbindung mit den in der Gesellschaft wirksamen Formen sozialer Ungleichheit. Unsere Kritik betrifft das Gefängnis insofern gleichermaßen in sozialpolitischer wie strafrechtskritischer Hinsicht. Sie begreift die Arten und Räume der Einsperrung – von Fußfessel und freiem Vollzug bis zur Sicherheitsverwahrung und Isolationshaft im Hochsicherheitsgefängnis – in ihrer Verschiedenheit und betont Zusammenhänge zwischen Deliktformen und dem sozialen Hintergrund der inhaftierten Personen. Dabei sind alle mit der Haft verbundenen und über sie hinausreichenden institutionellen Prozesse als Teil des Strafprozesses zu verstehen. Auch die Zeit nach der Haft geht mit einer umfassenden und tiefgreifenden Subjektivierung und Stigmatisierung einher, die genauso wie die Strafe selbst Teil des Gefängnisses sind. Erst so ergibt sich ein differenziertes Bild des Ortes namens Gefängnis, der abgeschafft werden soll.
Unsere Kritik des Gefängnisses zielt also, auch wenn sie kleinteilig und schrittweise vorgeht, stets aufs Ganze. Sie fordert den Rückbau von Gefängnissen, der in Anlehnung an die US-amerikanische Gefängniskritik, die decarceration oder, zu deutsch, die Entknastung der Gesellschaft insgesamt meint. Sie zielt nicht nur auf die Gewalt der Gefängnisse, die Unverhältnismäßigkeit dieser Strafpraxis, sondern stets auch auf den mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Schaden und die Suche nach alternativen Mitteln zur Bewältigung von gesellschaftlichen Konflikten. Sie setzt sowohl bei der negativen sozialen Auswirkung der Strafpraxis als auch der verfehlten Einlösung ihres Anspruchs ein.
Kein Spiegel der Gesellschaft
Nirgendwo wird dies so deutlich wie beim Zusammenhang von Sozialstruktur und Strafe, genauer: von Gefängnis und Armut. Denn aus den Gefängnissen kommen zum allergrößten Teil keine resozialisierten, geläuterten und nun gesetzeskonforme Menschen hervor, sondern sozial noch weiter depravierte und an den gesellschaftlichen Rand gedrängte Subjekte, die noch lange über die Haft hinaus mit den psychischen, sozialen und gesundheitlichen Folgen der Einsperrung zu kämpfen haben. Mit Blick auf den sozialen Hintergrund der Inhaftierten wird klar, dass in einer Gesellschaft ohne Gefängnisse die Verknüpfung von Armut, sozialer Ungleichheit und Freiheitsentzug gebrochen wäre, der die gegenwärtige gesellschaftliche Strafpraxis zu großen Teilen bestimmt.
Armut ist zwar kein Verbrechen und das Strafrecht verbürgt die „Gleichheit vor dem Gesetz“ – es soll die Straftat bewerten, nicht den Stand der Person. Ein Blick in deutsche Justizvollzugsanstalten zeigt gleichwohl schnell, dass Menschen aus einkommensarmen Schichten einen Großteil der Gefangenen ausmachen. Die Gefängnispopulation ist kein „Spiegel der Gesellschaft“, sie rekrutiert sich vielmehr aus Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen und niedrigem Einkommen, Arbeitslosen und Migrant*innen. Bei den Delikten, die diese Menschen im Gefängnis absitzen, geht es in den meisten Fällen nicht um Mord und Totschlag, auch wenn Gewaltverbrechen den strafrechtlichen Diskurs und die Vorstellungen vom Gefängnis in der Öffentlichkeit dominieren. Die größte Gruppe der Gefangenen, die derzeit in deutschen JVAs eingesperrt sind, um eine reguläre Freiheitsstrafe zu verbüßen, sitzt kurze Haftzeiten von bis zu neun Monaten ab. Freiheitsstrafen mit einer Dauer von neun Monaten bis zu zwei Jahren machen die zweitgrößte Gruppe aus.
„Armutsdelikte“ wie Diebstahl oder Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz sind die Straftaten, um die es dabei häufig geht. In den letzten Jahren werden neben den regulären Haftstrafen zudem immer mehr sogenannte Ersatzfreiheitsstrafen im Gefängnis abgegolten. Die Haft kommt hier als „Ersatz“ für Geldstrafen zum Einsatz, die nicht bezahlt werden können. Auch diese mittlerweile gängige Strafpraxis betrifft vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen, niedriger Rente und Arbeitslose. Die Vergehen, die mit einer Ersatzhaft geahndet werden, sind in den meisten Fällen das Nutzen des ÖPNV ohne Fahrschein oder kleinere Eigentumsdelikte wie Ladendiebstahl. Laut Statistischem Bundesamt sind über 70 Prozent der derzeit Inhaftierten bereits vorbestraft (davon die größte Gruppe bereits fünf bis zehnmal). Ein großer Teil der Gefangenen, die derzeit in Haft sind, sitzt nicht zum ersten Mal ein und wird auch in der Zukunft erneut eingesperrt werden.
Anders gesagt: Das Gefängnis ist ein Armenhaus. Es konzentriert soziale Milieus und prägt die gesellschaftliche Erfahrung von Armut. Aufgrund seiner vielfältigen desozialisierenden Wirkungen ist es darüber hinaus aber auch ein mächtiger Katalysator für die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit. Es macht die Gefangenen zur Zielscheibe eines doppelten gesellschaftlichen Struktureffektes: der Verweigerung umfassender sozialer Teilhabemöglichkeiten und dem expansiven Aufblähen der Strafeinrichtungen. Mit diesem Zusammenhang erkennt man das Gefängnis als einen Ort sozialer Segregation und Differenzierung, der nicht Lösung, Antwort oder Reaktion auf Kriminalität, sondern vielmehr den vielleicht zentralen Mechanismus ihrer Reproduktion darstellt.
Gesellschaft entknasten
Diesen Zusammenhang aufzubrechen würde aber nicht nur erfordern, das Gefängnis als Ort der Einsperrung abzuschaffen. Vielmehr muss die Entkriminalisierung der Armut mit der Einrichtung neuer Institutionen der sozialen, politischen und kulturellen Teilhabe einhergehen. Die Perspektive der Entknastung impliziert hier beispielsweise nicht nur die Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein, sondern auch die Bereitstellung eines Sozialtickets und somit die Ermöglichung grundlegender Mobilität wie auch die Teilhabe an städtischer Infrastruktur, den erschwinglichen Zugang zu öffentlichen Einrichtungen oder die Gewährung von gefördertem Wohnraum für sozial Marginalisierte.
Für die Etablierung solcher Formen der sozialen Partizipation würden gigantische materielle Ressourcen freiwerden, wenn das Gefängnis als Strafinstitution zurückgedrängt würde. Im Durchschnitt fallen für ein Tag Gefängnis, ohne die Prozesskosten eingerechnet, etwa 100 Euro pro Häftling an. Stehen damit schon die unmittelbaren Kosten der Haft in keinem Verhältnis zu den meisten Straftaten, so wird es angesichts der sozialen Folgekosten des Strafvollzugs erst recht unmöglich diese Praxis zu rechtfertigen. Der Rückbau der Gefängnisse wirft daher viel weiterreichende sozialpolitische Fragen auf. In einer Gesellschaft ohne Gefängnisse wären urbane Infrastrukturen ein öffentliches Gut, wären Rauscherfahrungen und der Handel mit Drogen entkriminalisiert und wäre die soziale Grundversorgung gesichert, so dass es für die meisten keinen Anlass für geringfügigen Ladendiebstahl gäbe – aber das wäre nur der Anfang. Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse wäre dadurch nicht schon frei von Konflikten, Gewalt oder Ungerechtigkeit – aber auch auf sie wäre das Gefängnis nicht mehr die letzte Antwort.
Autor*innen
K N A S [ ] — Initiative für den Rückbau von Gefängnissen setzt sich an der Schnittstelle von Theorie, Kunst und politischem Aktivismus mit der Analyse und Kritik des Gefängnissystems in der gegenwärtigen Gesellschaft auseinander. Sie plädiert für einen anderen Umgang mit krimineller Devianz.
Was wäre, wenn…
… es keine Gefängnisse mehr gäbe?
Im 1. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Gefängnisse. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alternativen für die Gesellschaft sichtbar zu machen und potenzielle Lösungen ins Zentrum zu rücken.
Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.
Weitere Artikel zum was wäre wenn-Thema “Gefängnisse”:
- „Das Gefängnis ist kein Ort der Resozialisierung“ – Interview: Lukas Hermsmeier
- Zwischen Opfer und Täter – Interview: Raven Musialik
- Der schöne Schein des Strafens – von Lena Kampf
- Ohne Gitter – von Azzurra Crispino
- Mein Mord und seine Folgen – von Pedro Holzhey
- Was wäre, wenn es keine Gefängnisse mehr gäbe? – von Georg Diez