Geteilte Verantwortung, doppelte Perspektiven mit Co-Leadership

Co-Geschäftsführerin Hannah Göppert über Erfahrungen, Herausforderungen und das Potenzial der geteilten Führung.

Vor über 4 Jahren haben Hannah Göppert und Max Bohm die Co-Geschäftsführung der Initiative Offene Gesellschaft (IOG) übernommen. Im Interview mit unserer Kollegin Bianca teilt Hannah, Soziologin und Politikwissenschaftlerin, ihre Perspektiven auf den Arbeitsalltag und die Dynamik einer geteilten Geschäftsführung.

Co-Leadership: So funktioniert’s in der IOG

Bianca: Warum habt ihr euch für Co-Leadership entschieden?

Hannah: Als wir die Rollen übernommen haben, haben wir schnell gemerkt, dass wir beide Lust darauf hatten, ohne uns intensiv mit dem Konzept auseinandergesetzt zu haben. Wir wussten, dass wir ein gutes Team sind, weil wir vorher schon zusammengearbeitet haben und haben die Vorteile in der geteilten Verantwortung und der Perspektivenvielfalt gesehen.

Bianca: Welche Vorteile und welche Herausforderungen begegnen euch bei der geteilten Geschäftsführung? Gibt es manchmal Probleme oder unklare Verantwortlichkeiten?

Hannah: Ich möchte zuerst auf die Vorteile eingehen, da sie die Herausforderungen überwiegen. Besonders für eine Organisation wie unsere, die gesellschaftliche Teilhabe und demokratische Prinzipien fördert, macht es Sinn, unterschiedliche Blickwinkel und Stärken in der Führung zu haben. Zwei Personen können sich gegenseitig gut ergänzen und als Korrektiv dienen. Auch bei schwierigen Entscheidungen nicht allein zu sein, schätze ich sehr. Natürlich gibt es Herausforderungen wie den erhöhten Kommunikationsaufwand und gelegentliche Unklarheiten in der Zuständigkeit, aber das sind Dinge, die man durch regelmäßige Abstimmung lösen kann. Ich könnte mir gar nicht vorstellen, so eine Rolle zu machen, wenn es nicht in Co-leadership wäre.

Bianca: Wie teilt ihr die Aufgaben unter euch auf?

Hannah: Anfangs, als die Organisation noch kleiner war, war alles sehr fluide, aber mit der Zeit haben wir die meisten Projekte und viele Rollen fest unter uns aufgeteilt.  Gleichzeitig gibt es weiterhin viele Dinge, die wir gemeinsam im Blick behalten und verantworten, zum Beispiel die Finanzen und alles Vertragliche. Und tatsächlich merkt man auch teilweise gegenderte Rollenverteilungen, beispielsweise ist Max bei IT-Fragen der Ansprechpartner, während ich mich um HR kümmere.

Genderbias im Co-Leadership

Bianca: Spielt der Genderbias eine Rolle in eurer Führung?

Hannah: Ich würde sagen Jein. Das passiert durchaus. Eine Zeit lang wurde ich oft für Panels angefragt mit dem Beisatz, dass sie noch eine Frau “bräuchten”, während Max häufiger als „der alleinige Geschäftsführer“ wahrgenommen wurde, vor allem von Organisationen, die von Männern geführt werden. Das ist dann so die Perspektive: „Ich sehe eine Person, die mir möglichst ähnlich ist und klassischerweise einen weißen Mann als die kompetente Führungsperson an.“ Wir versuchen das teilweise zurückzuspiegeln und darauf hinzuweisen, wenn solche Anfragen kommen, um ein Umdenken anzuregen und sichtbar zu machen, dass Führung heute anders aussehen kann. In anderen Situationen haben wir solche Biases auch schon bewusst versucht zu nutzen und beispielsweise Max in ein Gespräch geschickt, wo er als Mann wahrscheinlich mehr auf Resonanz stößt und schneller etwas erreichen kann. Am liebsten treten wir jedoch als Duo auf.

Bianca: Wie beeinflusst das eure Beziehung?

Hannah: Wenn uns solche Situationen auffallen, reflektieren wir das gemeinsam und manchmal können wir auch nur darüber lachen. Ich finde, Max achtet darauf, Macht zu teilen und anderen im Team eine Bühne zu geben.

Bianca: Du hast am Women Leadership Lab von Fair Share of Women Leaders teilgenommen. Wie hat sich das auf eure Führung ausgewirkt?

Hannah: Das Netzwerk und der Austausch mit vielen weiblichen Führungskräften waren und sind sehr bereichernd. Es hat mir geholfen, Leadership und Co-Leadership bewusster zu reflektieren und typische Machtstrukturen zu analysieren. In früheren Jobs war ich selbst durch eine klassische männlich konnotierte Führungskultur geprägt. Im Programm habe ich viele Anregungen für eine zeitgemäße und feministische Führung gefunden, die auf kollektiver Verantwortung, gegenseitigem Empowerment, Diversitätsbewusstsein und Achtsamkeit gegenüber den Bedürfnissen anderer basiert. Ich möchte alle im Team mitnehmen, Raum für Emotionen schaffen und an einem Strang ziehen, ohne Konkurrenz oder Top-Down-Druck zu erzeugen. Vieles davon habe ich bereits vorher praktiziert, aber das Programm hat mir die passenden Worte und Konzepte dafür gegeben.

Co-Leadership als Chance für mehr Vielfalt?

Bianca: Siehst du im Co-Leadership besonderes Potenzial, struktureller Diskriminierung entgegenzuwirken?

Hannah: Ja, teilweise. Max und ich sind immer noch zwei weiße able-bodied cis-Personen, denen Perspektiven fehlen und die „Blindspots“ haben. Dennoch bringen wir gemeinsam mehr Perspektiven ein, als es eine Person allein könnte. Co-Leadership ermöglicht es uns, Entscheidungen reflektierter zu treffen, innezuhalten und uns gegenseitig auf Diskriminierungen und unbewusste Biases aufmerksam zu machen. Unabhängig vom Co-Leadership ist es uns als Individuen und im gesamten Team wichtig, uns weiterzubilden, möglichst diskriminierungssensibel zu handeln und solidarisch mit Betroffenen zu sein.

Bianca: Was braucht es, damit Co-Leadership Erfolg hat? Hast du praktische Tipps?

Hannah: Regelmäßige Reflexion auf einer Metaebene und ein guter Informationsaustausch sind entscheidend. Es hilft, sich als Team persönlich gut zu kennen und regelmäßig Zeit für Absprachen und Planung zu haben. Sowohl strukturierter als auch unstrukturierter Austausch ist wichtig. Wir haben einen festen Tag in der Woche als „Geschäftsführungstag“ geblockt, an dem wir uns treffen, gemeinsam arbeiten und auch mal ein Feierabendgetränk trinken, um Dinge zu besprechen, für die sonst keine Zeit ist.

Bianca: Vielen Dank, Hannah, für das Interview.