Was wäre, wenn ganz Europa zuhörte?

Damit sich ein Kon­ti­nent neu erfin­den kann, müs­sen sich nicht nur poli­ti­sche Struk­tu­ren, son­dern auch die Erzäh­lun­gen ändern. Das beginnt mit einem offe­nen Ohr für alle Stimmen. Ein Beitrag von der www-Redaktion.
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Aus dem 3. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn ganz Europa zuhörte?

Geht es um Euro­pa, schei­nen zwei Hal­tun­gen beson­ders ein­fach und beson­ders beliebt: Auf der einen Sei­te Kul­tur­pes­si­mis­mus, auf der ande­ren Zweck­op­ti­mis­mus. Die Wahr­heit muss kei­nes­falls dazwi­schen zu fin­den sein, wie ein schlech­ter Kom­pro­miss. Viel­mehr soll­te sie offen­siv dar­über hin­aus gesucht wer­den. Für poli­ti­sche Pro­jek­te gilt aller­dings sel­ten, dass sie nur auf­zu­fin­den wären. Viel­mehr müs­sen sie auch erfun­den wer­den, trans­por­tiert durch neue Erzäh­lun­gen, die Mitstreiter*innen gewinnen.

Ein zen­tra­les Dilem­ma der anste­hen­den Euro­pa-Wah­len ist, dass die Wich­tig­keit die­ser Wah­len ver­ord­net, aber zu sel­ten mit Leben gefüllt wird. Die Euro­päi­sche Uni­on ist ein Fort­schritt, wis­sen oder ahnen die meis­ten, spü­ren es aber kaum. Wert und Wer­te der EU begrün­den sich viel­mehr in der bru­ta­len His­to­rie die­ses Kon­ti­nents als in sei­ner Gegen­wart. Was spricht eigent­lich heu­te noch mal für die­sen Ver­bund, außer dass wir wis­sen, dass es frü­her schlim­mer war? Was haben die Mit­glieds­län­der gemein, außer dass sie sich frü­her bekriegt haben?

Das ver­gan­ge­ne Jahr­zehnt hat vor allem die inne­ren Pro­ble­me und Wider­sprü­che der Uni­on offen­bart. An den Außen­gren­zen, ins­be­son­de­re im Mit­tel­meer, ster­ben Jahr für Jahr Tau­sen­de Geflüch­te­te. In vie­len Staa­ten sit­zen rechts­ex­tre­me Par­tei­en in den Par­la­men­ten oder sogar in den Regie­run­gen. Von gemein­sa­men Visio­nen im Kampf gegen den Kli­ma­wan­del oder sozia­le Unge­rech­tig­keit hört man kaum. Vie­le Europäer*innen emp­fin­den die Insti­tu­tio­nen als zu bür­ger­fern und bürokratisch.

Wie gelingt prak­ti­sche Gemeinschaft?

Brüs­sel und Straß­burg fun­gie­ren dabei als Chif­fren für die­se Ungreif­bar­keit euro­päi­scher Poli­tik. Zwi­schen den EU-Par­la­men­ta­rie­rin­nen und den Bür­gern scheint eine Lücke zu klaf­fen, die die Men­schen irri­tiert, ver­är­gert oder, viel­leicht noch schlim­mer, von vie­len eher schul­ter­zu­ckend zur Kennt­nis genom­men wird. Dage­gen blie­ben alle insti­tu­tio­nel­len Refor­men macht­los, wie Jür­gen Haber­mas schon 2001 kon­sta­tier­te: ​„Das Demo­kra­tie­de­fi­zit kann frei­lich nur beho­ben wer­den, wenn zugleich eine euro­päi­sche Öffent­lich­keit ent­steht, in die der demo­kra­ti­sche Pro­zess ein­ge­bet­tet ist.“ Es bedarf eines geteil­ten Reso­nanz­rau­mes, indem sowohl die poli­ti­sche Gemein­schaft gegen­wär­tig wird, als auch eine neue, grenz­über­schrei­ten­de Wahr­neh­mung einer euro­päi­schen Gesell­schaft eta­bliert wer­den kann. 

Wie also kann Euro­pa offe­ner, gerech­ter, weni­ger hier­ar­chisch, dafür soli­da­ri­scher wer­den? Müss­ten wir dafür nicht offen sein für die Erzäh­lun­gen, die wir von vie­len ver­schie­de­nen Orten bekom­men, statt sie je schon mit einer eige­nen zu verdecken?

Unse­re Fra­ge – was wäre, wenn ganz Euro­pa zuhör­te? – soll daher meh­re­re dis­kur­si­ve Ebe­nen bedie­nen: Was wäre, wenn Euro­pa denen zuhört, die unter Euro­pa lei­den? Was wäre, wenn Euro­pa kon­struk­tiv nach neu­en Ide­en und neu­en Nar­ra­ti­ven sucht? Wie wäre es, wenn die Euro­päi­sche Uni­on für sämt­li­che Bürger*innen nicht nur eine Gemein­schaft auf dem Papier wäre, son­dern als sol­che auch gefühlt, all­täg­lich, prak­tisch wür­de? Was wäre, wenn Euro­pa eine gemein­sa­me Öffent­lich­keit hät­te, in der alle Stim­men vor­kom­men? Und ange­nom­men, ganz Euro­pa hör­te zu: Was wür­den wir über­haupt erzählen? 

Offen für neue Erzählungen

Unse­re Bei­trä­ge nähern sich auf unter­schied­li­che Wei­se und aus sehr ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven her­aus dem The­ma Euro­pa. And­re Wil­kens, Poli­tik­wis­sen­schaft­ler und Grün­der der Initia­ti­ve Offe­ne Gesell­schaft, erklärt, wie eine neue euro­päi­sche Öffent­lich­keit auf­ge­baut und umge­setzt wer­den könn­te, und zwar digi­tal und ana­log. Die Kul­tur­wis­sen­schaft­le­rin und Autorin Asal Dar­dan hat ein aus­führ­li­ches Gespräch mit drei Schwar­zen Frau­en geführt, die mit ihren Lebens­ge­schich­ten ein trans­na­tio­na­les, femi­nis­ti­sches und post-kolo­nia­les Euro­pa reprä­sen­tie­ren, das es zwar jetzt schon gibt, aber nicht län­ger die Aus­nah­me sein soll­te. Der Jour­na­list und Autor Georg Diez hat meh­re­re The­sen zu Euro­pa for­mu­liert und die Demo­kra­tie- und Euro­pa­for­sche­rin Ulri­ke Gué­rot gebe­ten, auf die­se zu ant­wor­ten. Der deutsch-grie­chi­sche Jour­na­list Pana­jo­tis Gav­ri­lis ist vier Jah­re nach Refe­ren­dum und Revo­lu­ti­ons­stim­mung nach Grie­chen­land gereist und beschreibt in sei­nem repor­tier­ten Essay, dass sich das Land nach neu­en Nar­ra­ti­ven sehnt und bereits dabei ist, sie zu pro­du­zie­ren. Die bri­ti­sche Wis­sen­schaft­le­rin Beth Thomp­son zeigt auf meh­re­ren Ebe­nen die inter­na­tio­na­len Ver­bin­dun­gen in der For­schung, die so essen­zi­ell wie durch den dro­hen­den Bre­x­it gefähr­det sind. Wei­te­re Tex­te zum The­ma Euro­pa wer­den folgen.

Damit die Euro­päi­sche Uni­on von allen als leben­di­ge Gemein­schaft erfah­ren wird, muss sie sich neu erfin­den. Des­halb möch­ten wir einen Bei­trag dazu leis­ten, dass die­ser Kon­ti­nent jen­seits sei­ner Gren­zen denkt, meta­pho­risch wie auch ganz real. Begin­nend mit einem offe­nen Ohr.


Autor*in

die WWW-Redaktion

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… ganz Europa zuhörte?

Im 3. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Europa. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.

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