Aus dem 3. Teil der was wäre wenn-Reihe:
Was wäre, wenn ganz Europa zuhörte?
Wir leben in bewegten Zeiten und Europa hat die Krise. Ist Europas Krise zyklisch oder strukturell? Im besten Falle ist es eine Art Midlife Crisis, die wir irgendwann durch gute Therapie und neugewonnene Altersweisheit überwinden werden. Im schlechtesten Fall zerbricht Europa an dieser Krise weil sich die alten nationalistischen Dämonen als stärker erweisen als unser relativ neues europäisches Gemeinschaftswerk. Es steht allerhand auf dem Spiel, Ausgang offen.
Dabei hat Europa doch fast alles, was ein modernes supranationales Gebilde so haben kann: einen Markt, eine Währung, eine Hauptstadt, eine Zentralbank, ein Parlament, eine Art Regierung. Aber einen Geist, ein Gemeinschaftsgefühl, eine gemeinsame Identität hat es kaum. Denn dazu braucht es mehr als Kohle, Stahl, Markt, Euro und Roaming. Dazu braucht es das tagtägliche miteinander Leben, das Streiten, das Aushandeln von Konflikten, das Vertragen, das Spielen, das Feiern, das Miteinander eben. Und nicht nur von ein paar politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten, sondern von der großen Masse, von uns allen.
Nationale und mediale Filterblasen
Natürlich gibt es auch schon allerhand tägliches Miteinander in Europa: Wir easyjetten hin und her, der Tourismus boomt sich fast zur Plage, Business läuft wunderbar ohne Grenzen, es gibt die Champions League, Eurovision und bald sind wieder Europawahlen. Ja, genau, auch diese sind ein Teil vom europäischen Miteinander, ein wichtiger sogar, gerade wenn‘s kracht.
Aber was uns fehlt ist eine europäische Öffentlichkeit.
Wieso Öffentlichkeit? Haben wir nicht schon genug an der Backe und ist dies nicht auch schon wieder so ein so typisch abstraktes europäisches Schlagwort? Ja, und nein. Ja, wir haben viel an der Backe und ja, wir haben keine Zeit für luftige Scheindebatten, die von realen Problemen ablenken. Und trotzdem Nein, denn wir kommen mit den realen europäischen Lösungen oft gerade deshalb nicht voran, weil wir immer noch keinen funktionierenden Mechanismus haben, Probleme europäisch auszuhandeln. Jedenfalls nicht in der europäischen Masse, sondern nur unter Eliten. Und das reicht nicht mehr.
Das nationale Sein bestimmt zum größten Teil auch unser Bewusstsein. Wir sind immer noch gefangen in nationalen Filterblasen, in denen wir europäische Themen wie Zuwanderung, Euro, Datensicherheit, Energie, Klimawandel, Arbeitslosigkeit und Steuerhinterziehung aus nationaler Sicht, mit nationalen Akteuren und aus nationalen Interessen rezipieren und aufarbeiten. Wie hätte die Lösung der Eurokrise ausgesehen, wenn wir diese wirklich europäisch ausgehandelt hätten? Wäre es trotzdem eine Schäuble-Lösung geworden? Hätten die Deutschen erst dann eine europäische Flüchtlingspolitik gefordert, wenn das Thema schon Jahre vorher europäisch angegangen wäre, nämlich dann, als Griechenland und Italien massiv von Bootsflüchtlingen überfordert war und die EU stattdessen öffentliche Sparprogramme in diesen Ländern diktierte? Könnte sich Victor Orbán mit seinen wahnwitzigen Verschwörungstheorien behaupten, wenn die ungarischen Bürger Teil einer echten europäischen Debatte, einer europäischen Öffentlichkeit wären?
Strukturprobleme der Öffentlichkeit
Die Digitalisierung potenziert diese Herausforderung noch. Das Internet könnte ein idealer Hort eines globalen aufklärerischen Bewusstseins sein — eigentlich. Doch es droht zur antiaufklärerischen Echokammer zu verkommen. Die digitale Filterblase verengt den Horizont auf das eigene Social-Media-Umfeld. Wer das Spiel mit den Filterblasen am besten beherrscht gewinnt Aufmerksamkeit, Marktanteile und Wahlen.
Eine funktionierende Öffentlichkeit spielt in der Klick-Ökonomie keine große Rolle. Zugleich erodiert die materielle Basis des Qualitätsjournalismus. Hier tun sich Lücken auf, die für Europa systemisch relevant und demokratiegefährdend sind.
Hinzu kommt, dass in einigen EU-Ländern auch die nationale Öffentlichkeit politisch unter Druck ist: Wenn die pluralistische Medienunabhängigkeit in Ländern wie Polen und Ungarn verschwindet, hat das auch unmittelbare Rückwirkung darauf, wie Europa funktioniert.
Kein Wunder also, dass wir kein gemeinsames Bewusstsein von Problemen, Krisen und auch Chancen entwickeln, geschweige denn echte europäische Lösungen. Auf die Dauer kann unsere europäische Gemeinschaft, unsere europäische Demokratie nur florieren, wenn sie von einer europäischen Öffentlichkeit begleitet und kontrolliert wird, anstatt von fragmentierten nationalen Öffentlichkeiten.
Von der Landwirtschaft lernen?
Was tun?
Europa sollte massiv in eine europäische Öffentlichkeit investieren, die den Rahmen bietet für echtes europäisches Miteinander, für Austausch, für echte europäische Kommunikation, für alle. Diese Aufgabe kann man nicht einfach der unsichtbaren Hand des Marktes überlassen oder gleich ganz an Facebook, Starbucks und Alibaba abtreten. Hier geht es um Identität, Demokratie, um die Zukunft des europäischen Modells. Das sollte uns doch mindestens genauso wichtig sein wie die europäische Landwirtschaft, in die wir jedes Jahr immerhin rund 65 Milliarden Euro stecken.
Neben einer ordentlichen Finanzierung im oben angedeuteten Rahmen braucht es einem vernünftigen Mix aus Governance, Formaten, Verbreitung, Innovation, Sprache und Regulierung. Was so einfach hingeschrieben ist, wird in der Umsetzung die Quadratur des Kreises sein, oder optimistischer gesagt: eine extrem spannende Aufgabe.
In einer Zeit, in der sowohl private als auch öffentlich-rechtliche Medien mit den Herausforderungen der digitalen Transformation zu kämpfen haben, wäre eine Subventionierung von europäischen Medien sinnvoll, nicht ganz unähnlich wie wir es bisher bei der europäischen Landwirtschaft tun. Diese Finanzierung kann zu wesentlichen Teilen aus Gebühren auf die großen digitalen Plattformen wie Facebook, Google und Twitter stammen, die von der systematischen Datenabschöpfung in Europa enorm profitieren, ohne sich an den Kosten für die inhaltlichen und politischen Voraussetzungen für einen nachhaltigen Erfolg des digitalen öffentlichen Raumes angemessen zu beteiligen. Europäische Datensicherheit sowie eine überschaubare oder am besten gar keine Werbebelastung können dabei erlebbar Wettbewerbsvorteile sein.
Multilingual medial
Solch eine Initiative für Europäische Öffentlichkeit muss Meinungsunabhängigkeit gewährleisten und dabei europäische Vielfalt repräsentieren, ohne aber zu bürokratischem Stillstand zu führen. Dies darf keinesfalls ein Propagandainstrument der Europäischen Union werden, und dies muss in der Governance unzweideutig und glaubwürdig zum Ausdruck kommen. Auch hier kann man paradoxerweise von der EU-Agrarsubvention lernen, denn trotz der Abermilliarden Unterstützung sind die EU Landwirte wer weiß keine EU-Propagandamaschine geworden, ganz im Gegenteil.
Die Initiative Europäische Öffentlichkeit sollte alle mögliche Formen fördern, die Europäische Öffentlichkeit schaffen, digital und analog und deren innovative Kombination. Dies schließt europäische Medien ein, oder ganz neue Medienplattformen wie ein europäisches Facebook/Netflix/Youtube (aber natürlich besser), aber auch Festivals, europäische Events wie Eurovision, Preisverleihungen sowie Bibliothekennetzwerke und allerlei anderes, was wir uns bisher noch gar nicht vorstellen können.
Als Totschlagargument kommt dann noch das Sprachenproblem. Die EU hat 24 Amtssprachen und noch eine Reihe halbamtlicher Sprachen. Das macht es in der Tat schwieriger eine Öffentlichkeit herzustellen als in Gemeinwesen mit nur einer Amtssprache. Europa muss sich dieser Herausforderung proaktiv stellen und dabei von den dynamischen Entwicklungen digitaler Übersetzungstechnologien profitieren. Eine bewusste Investition in ein multilinguales Medium wird Spillover-Effekte in andere Wirtschaftsbereiche schaffen und ist insofern auch ein nicht zu unterschätzendes Element europäischer Innovationspolitik.
Regulierte Plattformen
Die Chancen für eine europäische Öffentlichkeit werden entscheidend verbessert, wenn Europa nicht nur subventioniert sondern parallel auch reguliert. Dabei kann man an europäische Regulierung von digitalen Plattformanbietern denken. Plattformen im Sinne des Mediengesetzes sind Unternehmen, die mehrere Programme gebündelt vermarkten, wie das etwa der Bezahlsender Sky tut, oder der Anbieter zattoo es für das digitale Streaming von Fernsehsendern übernimmt. Oder eben Youtube oder Netflix. Diese sollten einen bestimmten Prozentsatz ihrer Medienplätze, sagen wir vierzig Prozent, für europäische Inhalte reservieren (“Must-Carry”), sowie eine allgemeine Gebühr von fünf Prozent auf die europäischen Umsätze der großen Internetplattformen. Diese Gebühr wird Teil der Finanzierung der Initiative Europäische Öffentlichkeit und beteiligt die digitalen Plattformen, die schon jetzt von einem grenzenlosen Europa profitieren, an der Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit.
Ein funktionierende europäische Öffentlichkeit zu schaffen, ist eine Mammutaufgabe. Aber es geht ja auch um viel. Es geht um Identität, um Demokratie, um Freiheit, es geht um die Zukunft des europäischen Modells. Wie eine Demokratie aus post-faktisch gefüllten Filterblasen heraus aussieht, haben wir in den letzten Jahren mehrfach erlebt. Nicht nur, aber auch deshalb brauchen wir dringend eine Initiative für eine europäische Öffentlichkeit, die europäisch klotzt statt kleckert.
Autor*in
André Wilkens ist Mitbegründer und Vorstandsmitglied der Initiative Offene Gesellschaft. Er hat viele Jahre in Brüssel, London, Turin, Genf und Berlin in verschiedenen Positionen für die EU, die UNO und mehrere Stiftungen gearbeitet. Aktuell ist er Geschäftsführer der European Cultural Foundation.
Was wäre, wenn…
… ganz Europa zuhörte?
Im 3. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Europa. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alternativen für die Gesellschaft sichtbar zu machen und potenzielle Lösungen ins Zentrum zu rücken.
Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.
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- Was wäre, wenn ganz Europa zuhörte? – von der www-Redaktion
- „Wir sind da und das ist ein Akt des Widerstands“ – Interview: Asal Dardan