Europa fehlt was!

Auf etli­chen Ebe­nen leben wir schon euro­pä­isch. Die media­le Öffent­lich­keit endet aller­dings noch zu oft an Staa­ten­gren­zen. Daher braucht es eine Initia­ti­ve Euro­päi­sche Öffentlichkeit. Ein Text von André Wilkens.
eu öffentlichekit zusammenkommen
Aus dem 3. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn ganz Europa zuhörte?

Wir leben in beweg­ten Zei­ten und Euro­pa hat die Kri­se. Ist Euro­pas Kri­se zyklisch oder struk­tu­rell? Im bes­ten Fal­le ist es eine Art Mid­life Cri­sis, die wir irgend­wann durch gute The­ra­pie und neu­ge­won­ne­ne Alters­weis­heit über­win­den wer­den. Im schlech­tes­ten Fall zer­bricht Euro­pa an die­ser Kri­se weil sich die alten natio­na­lis­ti­schen Dämo­nen als stär­ker erwei­sen als unser rela­tiv neu­es euro­päi­sches Gemein­schafts­werk. Es steht aller­hand auf dem Spiel, Aus­gang offen.

Dabei hat Euro­pa doch fast alles, was ein moder­nes supra­na­tio­na­les Gebil­de so haben kann: einen Markt, eine Wäh­rung, eine Haupt­stadt, eine Zen­tral­bank, ein Par­la­ment, eine Art Regie­rung. Aber einen Geist, ein Gemein­schafts­ge­fühl, eine gemein­sa­me Iden­ti­tät hat es kaum. Denn dazu braucht es mehr als Koh­le, Stahl, Markt, Euro und Roa­ming. Dazu braucht es das tag­täg­li­che mit­ein­an­der Leben, das Strei­ten, das Aus­han­deln von Kon­flik­ten, das Ver­tra­gen, das Spie­len, das Fei­ern, das Mit­ein­an­der eben. Und nicht nur von ein paar poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Eli­ten, son­dern von der gro­ßen Mas­se, von uns allen.

Natio­na­le und media­le Filterblasen

Natür­lich gibt es auch schon aller­hand täg­li­ches Mit­ein­an­der in Euro­pa: Wir easy­jet­ten hin und her, der Tou­ris­mus boomt sich fast zur Pla­ge, Busi­ness läuft wun­der­bar ohne Gren­zen, es gibt die Cham­pi­ons League, Euro­vi­si­on und bald sind wie­der Euro­pa­wah­len. Ja, genau, auch die­se sind ein Teil vom euro­päi­schen Mit­ein­an­der, ein wich­ti­ger sogar, gera­de wenn‘s kracht.

Aber was uns fehlt ist eine euro­päi­sche Öffentlichkeit.

Wie­so Öffent­lich­keit? Haben wir nicht schon genug an der Backe und ist dies nicht auch schon wie­der so ein so typisch abs­trak­tes euro­päi­sches Schlag­wort? Ja, und nein. Ja, wir haben viel an der Backe und ja, wir haben kei­ne Zeit für luf­ti­ge Schein­de­bat­ten, die von rea­len Pro­ble­men ablen­ken. Und trotz­dem Nein, denn wir kom­men mit den rea­len euro­päi­schen Lösun­gen oft gera­de des­halb nicht vor­an, weil wir immer noch kei­nen funk­tio­nie­ren­den Mecha­nis­mus haben, Pro­ble­me euro­pä­isch aus­zu­han­deln. Jeden­falls nicht in der euro­päi­schen Mas­se, son­dern nur unter Eli­ten. Und das reicht nicht mehr.

Das natio­na­le Sein bestimmt zum größ­ten Teil auch unser Bewusst­sein. Wir sind immer noch gefan­gen in natio­na­len Fil­ter­bla­sen, in denen wir euro­päi­sche The­men wie Zuwan­de­rung, Euro, Daten­si­cher­heit, Ener­gie, Kli­ma­wan­del, Arbeits­lo­sig­keit und Steu­er­hin­ter­zie­hung aus natio­na­ler Sicht, mit natio­na­len Akteu­ren und aus natio­na­len Inter­es­sen rezi­pie­ren und auf­ar­bei­ten. Wie hät­te die Lösung der Euro­kri­se aus­ge­se­hen, wenn wir die­se wirk­lich euro­pä­isch aus­ge­han­delt hät­ten? Wäre es trotz­dem eine Schäub­le-Lösung gewor­den? Hät­ten die Deut­schen erst dann eine euro­päi­sche Flücht­lings­po­li­tik gefor­dert, wenn das The­ma schon Jah­re vor­her euro­pä­isch ange­gan­gen wäre, näm­lich dann, als Grie­chen­land und Ita­li­en mas­siv von Boots­flücht­lin­gen über­for­dert war und die EU statt­des­sen öffent­li­che Spar­pro­gram­me in die­sen Län­dern dik­tier­te? Könn­te sich Vic­tor Orbán mit sei­nen wahn­wit­zi­gen Ver­schwö­rungs­theo­ri­en behaup­ten, wenn die unga­ri­schen Bür­ger Teil einer ech­ten euro­päi­schen Debat­te, einer euro­päi­schen Öffent­lich­keit wären? 

Struk­tur­pro­ble­me der Öffentlichkeit

Die Digi­ta­li­sie­rung poten­ziert die­se Her­aus­for­de­rung noch. Das Inter­net könn­te ein idea­ler Hort eines glo­ba­len auf­klä­re­ri­schen Bewusst­seins sein — eigent­lich. Doch es droht zur anti­auf­klä­re­ri­schen Echo­kam­mer zu ver­kom­men. Die digi­ta­le Fil­ter­bla­se ver­engt den Hori­zont auf das eige­ne Soci­al-Media-Umfeld. Wer das Spiel mit den Fil­ter­bla­sen am bes­ten beherrscht gewinnt Auf­merk­sam­keit, Markt­an­tei­le und Wahlen. 

Eine funk­tio­nie­ren­de Öffent­lich­keit spielt in der Klick-Öko­no­mie kei­ne gro­ße Rol­le. Zugleich ero­diert die mate­ri­el­le Basis des Qua­li­täts­jour­na­lis­mus. Hier tun sich Lücken auf, die für Euro­pa sys­te­misch rele­vant und demo­kra­tie­ge­fähr­dend sind.

Hin­zu kommt, dass in eini­gen EU-Län­dern auch die natio­na­le Öffent­lich­keit poli­tisch unter Druck ist: Wenn die plu­ra­lis­ti­sche Medi­en­un­ab­hän­gig­keit in Län­dern wie Polen und Ungarn ver­schwin­det, hat das auch unmit­tel­ba­re Rück­wir­kung dar­auf, wie Euro­pa funktioniert.

Kein Wun­der also, dass wir kein gemein­sa­mes Bewusst­sein von Pro­ble­men, Kri­sen und auch Chan­cen ent­wi­ckeln, geschwei­ge denn ech­te euro­päi­sche Lösun­gen. Auf die Dau­er kann unse­re euro­päi­sche Gemein­schaft, unse­re euro­päi­sche Demo­kra­tie nur flo­rie­ren, wenn sie von einer euro­päi­schen Öffent­lich­keit beglei­tet und kon­trol­liert wird, anstatt von frag­men­tier­ten natio­na­len Öffentlichkeiten.

Von der Land­wirt­schaft lernen?

Was tun?

Euro­pa soll­te mas­siv in eine euro­päi­sche Öffent­lich­keit inves­tie­ren, die den Rah­men bie­tet für ech­tes euro­päi­sches Mit­ein­an­der, für Aus­tausch, für ech­te euro­päi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on, für alle. Die­se Auf­ga­be kann man nicht ein­fach der unsicht­ba­ren Hand des Mark­tes über­las­sen oder gleich ganz an Face­book, Star­bucks und Ali­ba­ba abtre­ten. Hier geht es um Iden­ti­tät, Demo­kra­tie, um die Zukunft des euro­päi­schen Modells. Das soll­te uns doch min­des­tens genau­so wich­tig sein wie die euro­päi­sche Land­wirt­schaft, in die wir jedes Jahr immer­hin rund 65 Mil­li­ar­den Euro stecken.

Neben einer ordent­li­chen Finan­zie­rung im oben ange­deu­te­ten Rah­men braucht es einem ver­nünf­ti­gen Mix aus Gover­nan­ce, For­ma­ten, Ver­brei­tung, Inno­va­ti­on, Spra­che und Regu­lie­rung. Was so ein­fach hin­ge­schrie­ben ist, wird in der Umset­zung die Qua­dra­tur des Krei­ses sein, oder opti­mis­ti­scher gesagt: eine extrem span­nen­de Aufgabe.

In einer Zeit, in der sowohl pri­va­te als auch öffent­lich-recht­li­che Medi­en mit den Her­aus­for­de­run­gen der digi­ta­len Trans­for­ma­ti­on zu kämp­fen haben, wäre eine Sub­ven­tio­nie­rung von euro­päi­schen Medi­en sinn­voll, nicht ganz unähn­lich wie wir es bis­her bei der euro­päi­schen Land­wirt­schaft tun. Die­se Finan­zie­rung kann zu wesent­li­chen Tei­len aus Gebüh­ren auf die gro­ßen digi­ta­len Platt­for­men wie Face­book, Goog­le und Twit­ter stam­men, die von der sys­te­ma­ti­schen Daten­ab­schöp­fung in Euro­pa enorm pro­fi­tie­ren, ohne sich an den Kos­ten für die inhalt­li­chen und poli­ti­schen Vor­aus­set­zun­gen für einen nach­hal­ti­gen Erfolg des digi­ta­len öffent­li­chen Rau­mes ange­mes­sen zu betei­li­gen. Euro­päi­sche Daten­si­cher­heit sowie eine über­schau­ba­re oder am bes­ten gar kei­ne Wer­be­be­las­tung kön­nen dabei erleb­bar Wett­be­werbs­vor­tei­le sein.

Mul­ti­lin­gu­al medial

Solch eine Initia­ti­ve für Euro­päi­sche Öffent­lich­keit muss Mei­nungs­un­ab­hän­gig­keit gewähr­leis­ten und dabei euro­päi­sche Viel­falt reprä­sen­tie­ren, ohne aber zu büro­kra­ti­schem Still­stand zu füh­ren. Dies darf kei­nes­falls ein Pro­pa­gan­da­in­stru­ment der Euro­päi­schen Uni­on wer­den, und dies muss in der Gover­nan­ce unzwei­deu­tig und glaub­wür­dig zum Aus­druck kom­men. Auch hier kann man para­do­xer­wei­se von der EU-Agrar­sub­ven­ti­on ler­nen, denn trotz der Aber­mil­li­ar­den Unter­stüt­zung sind die EU Land­wir­te wer weiß kei­ne EU-Pro­pa­gan­da­ma­schi­ne gewor­den, ganz im Gegenteil.

Die Initia­ti­ve Euro­päi­sche Öffent­lich­keit soll­te alle mög­li­che For­men för­dern, die Euro­päi­sche Öffent­lich­keit schaf­fen, digi­tal und ana­log und deren inno­va­ti­ve Kom­bi­na­ti­on. Dies schließt euro­päi­sche Medi­en ein, oder ganz neue Medi­en­platt­for­men wie ein euro­päi­sches Face­book/Net­flix/You­tube (aber natür­lich bes­ser), aber auch Fes­ti­vals, euro­päi­sche Events wie Euro­vi­si­on, Preis­ver­lei­hun­gen sowie Biblio­the­ken­netz­wer­ke und aller­lei ande­res, was wir uns bis­her noch gar nicht vor­stel­len können.

Als Tot­schlag­ar­gu­ment kommt dann noch das Spra­chen­pro­blem. Die EU hat 24 Amts­spra­chen und noch eine Rei­he halb­amt­li­cher Spra­chen. Das macht es in der Tat schwie­ri­ger eine Öffent­lich­keit her­zu­stel­len als in Gemein­we­sen mit nur einer Amts­spra­che. Euro­pa muss sich die­ser Her­aus­for­de­rung pro­ak­tiv stel­len und dabei von den dyna­mi­schen Ent­wick­lun­gen digi­ta­ler Über­set­zungs­tech­no­lo­gi­en pro­fi­tie­ren. Eine bewuss­te Inves­ti­ti­on in ein mul­ti­lin­gua­les Medi­um wird Spill­over-Effek­te in ande­re Wirt­schafts­be­rei­che schaf­fen und ist inso­fern auch ein nicht zu unter­schät­zen­des Ele­ment euro­päi­scher Innovationspolitik.

Regu­lier­te Plattformen

Die Chan­cen für eine euro­päi­sche Öffent­lich­keit wer­den ent­schei­dend ver­bes­sert, wenn Euro­pa nicht nur sub­ven­tio­niert son­dern par­al­lel auch regu­liert. Dabei kann man an euro­päi­sche Regu­lie­rung von digi­ta­len Platt­form­an­bie­tern den­ken. Platt­for­men im Sin­ne des Medi­en­ge­set­zes sind Unter­neh­men, die meh­re­re Pro­gram­me gebün­delt ver­mark­ten, wie das etwa der Bezahl­sen­der Sky tut, oder der Anbie­ter zat­too es für das digi­ta­le Strea­ming von Fern­seh­sen­dern über­nimmt. Oder eben You­tube oder Net­flix. Die­se soll­ten einen bestimm­ten Pro­zent­satz ihrer Medi­en­plät­ze, sagen wir vier­zig Pro­zent, für euro­päi­sche Inhal­te reser­vie­ren (“Must-Car­ry”), sowie eine all­ge­mei­ne Gebühr von fünf Pro­zent auf die euro­päi­schen Umsät­ze der gro­ßen Inter­net­platt­for­men. Die­se Gebühr wird Teil der Finan­zie­rung der Initia­ti­ve Euro­päi­sche Öffent­lich­keit und betei­ligt die digi­ta­len Platt­for­men, die schon jetzt von einem gren­zen­lo­sen Euro­pa pro­fi­tie­ren, an der Schaf­fung einer euro­päi­schen Öffentlichkeit.

Ein funk­tio­nie­ren­de euro­päi­sche Öffent­lich­keit zu schaf­fen, ist eine Mam­mut­auf­ga­be. Aber es geht ja auch um viel. Es geht um Iden­ti­tät, um Demo­kra­tie, um Frei­heit, es geht um die Zukunft des euro­päi­schen Modells. Wie eine Demo­kra­tie aus post-fak­tisch gefüll­ten Fil­ter­bla­sen her­aus aus­sieht, haben wir in den letz­ten Jah­ren mehr­fach erlebt. Nicht nur, aber auch des­halb brau­chen wir drin­gend eine Initia­ti­ve für eine euro­päi­sche Öffent­lich­keit, die euro­pä­isch klotzt statt kleckert. 


Autor*in

André Wil­kens ist Mit­be­grün­der und Vor­stands­mit­glied der Initia­ti­ve Offe­ne Gesell­schaft. Er hat vie­le Jah­re in Brüs­sel, Lon­don, Turin, Genf und Ber­lin in ver­schie­de­nen Posi­tio­nen für die EU, die UNO und meh­re­re Stif­tun­gen gear­bei­tet. Aktu­ell ist er Geschäfts­füh­rer der European Cul­tu­ral Foun­da­ti­on.

Was wäre, wenn…

… ganz Europa zuhörte?

Im 3. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Europa. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.

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