“Utopie sollte ein Menschenrecht sein”

Politische Bildung ist gelungen, wenn sie die Menschen zum Denken in Alternativen ermächtigt. Warum das so oft misslingt, erklärt die Erziehungswissenschaftlerin Julika Bürgin. Ein Interview geführt von Lukas Hermsmeier.
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Aus dem 7. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn Bildung nie aufhörte?

Liebe Frau Bürgin, wenn wir über politische Bildung sprechen, sollten wir vielleicht mit dem Begriff beginnen. Ist die Unterscheidung zwischen Bildung und politischer Bildung bereits ein Problem, weil dadurch suggeriert wird, dass die “normale” Bildung unpolitisch ist?

Julika Bürgin: Wenn man politische Bildung als abgetrenntes Gebiet betrachtet und, wie es die Schule dominant tut, als ein Unterrichtsfach versteht, dann kann man daraus schließen, dass alles andere unpolitisch ist. Wenn man aber, und diesem Flügel in der Diskussion gehöre ich an, davon ausgeht, dass sich Fragen des Politischen auch in allen anderen Feldern des sozialen Lebens von Menschen befinden, dann gibt es keinen Bereich, den mal als unpolitisch wegdefinieren kann. Wobei ich damit wiederum nicht einer Entgrenzung das Wort rede, dass irgendwie ja alles politisch sei und deshalb auch politische Bildung automatisch überall stattfinde. Im Gegenteil erfordert politische Bildungsarbeit spezifische Konzepte und auch Wissen.

Das Dilemma der Kurzfristigkeit

Ist das aktuelle Bildungssystem denn zu unpolitisch?

In der Schule finden wir meist eine Fachgebietslogik, nach der Politik nur im Fach Politik unterrichtet wird, oder im Fach “Politik und Wirtschaft” teilweise hinter die Wirtschaft gestellt wird. Das ist erstmal zu problematisieren. Viel öfter als andere Fächer wird der Politikunterricht fachfremd unterrichtet. Vor allem in Hauptschulen erhalten Schüler*innen auch nur sehr wenig Politikunterricht, was ich absolut fatal finde. Diese sehr geringe Wertschätzung politischer Bildung setzt sich an den Hochschulen und im außerschulischen Bildungsbereich fort.

Zudem kann man feststellen, dass immer dann nach politischer Bildung gerufen wird, wenn es demokratisch kriselt. Dann werden große Förderprogramme ausgerufen. Wenn es kriselt, sollen die außerschulischen Akteure also mithelfen, die Systemprobleme der Demokratie zu lösen. Die berühmte Feuerwehrfunktion. Es werden allerdings kaum Voraussetzungen geschaffen, dass sich Bildungsprozesse von unten, pluralistisch und langfristig entwickeln können, dass Schulen, Hochschulen und freie Träger dauerhaft genug Ressourcen dafür haben.

Wie und wo drückt sich diese fehlende Wertschätzung für politische Bildungsarbeit noch aus?

Wir sehen auch in anderen Feldern einen ähnlichen Prozess, den ich und andere als “Programmierung” bezeichnen. Der Staat stellt zwar Geld zu Verfügung, aber die Mittel sind an sehr, sehr, sehr spezifische Verwendungszwecke gebunden. Damit steuert er natürlich massiv, zumal gleichzeitig die institutionelle Förderung abgebaut wird. Gerade die kleinen Träger sind hochgradig davon abhängig, welche Programme der Staat gerade auflegt. Zum Beispiel sind die Demokratieförderprogramme mittlerweile fast ausnahmslos eingebettet in eine Extremismuspräventionslogik und viele Träger sagen, das wollen sie nicht, sich vor einen Karren der Geheimdienste spannen lassen, was die Konzepte angeht. Aber wenn sie es nicht tun, kriegen sie beispielsweise für rassismuskritische Workshops auch kein Geld.

“Kritik ist die andere Seite der Utopie”

Wann ist politische Bildung in Ihren Augen gelungen? Für die Gesellschaft und für jeden Einzelnen?

Gelungen sind politische Bildungsangebote aus meiner Sicht dann, wenn Menschen sich dadurch die Welt – oder Ausschnitte davon – aneignen können. Das ist der allgemeinste Bildungsbegriff, auf den ich mich in meiner Arbeit beziehe: Aneignung von Welt und der eigenen Situation in der Welt. Und bei der politischen Bildungsarbeit geht es um die Dimensionen des Politischen in der Welt. Diese Analysefähigkeit, dieses Weltverständnis, das geht zunehmend verloren. Wenn es aber gelingt, es zu ermöglichen, dass Menschen dadurch auch ihre eigenen Interessen einbringen und handlungsfähiger werden, dann ist politische Bildungsarbeit gelungen.

Der brasilianische Politikwissenschaftler Roberto Unger schreibt in seinem Buch “The Knowledge Economy”, aus dem wir für was wäre wenn ein Kapitel übersetzt haben: “Die zentrale Spannung im Bildungsbereich in einer Demokratie ist der Konflikt zwischen der Vorbereitung des Menschen darauf, auf der Grundlage der gegenwärtigen Bedingungen zu handeln, und dem Vermitteln der Fähigkeit, diese Bedingungen zu überwinden.” Wie kritisch darf oder muss politische Bildung sein? Sollte sie, zum Beispiel, auch so etwas wie die soziale Marktwirtschaft in Frage stellen?

Also, kritisch ist Bildungsarbeit aus meiner Sicht nicht dann, wenn sie schon festgelegt, was in Frage zu stellen ist, sondern dann, wenn sie es insgesamt ermöglicht, die Verhältnisse anders zu sehen, als sie sind. Es geht aus meiner Sicht nicht darum, eine Gegenposition zu promoten, sondern prinzipiell das Verständnis dafür zu stärken, dass die sozialen Verhältnisse, die wir vorfinden, menschengemacht sind und durch Menschen veränderbar sind. Kritik ist die andere Seite der Utopie. Wenn ich das Bestehende kritisiere, dann öffnet das den Blick für das Utopische. Und umgekehrt, wenn ich mir die Verhältnisse anders vorstellen kann, dann kann ich auch die vorgefundenen klarer analysieren. Das sehe ich sogar als Menschenrecht: Jeder Mensch sollte sich die Dinge anders vorstellen können, als sie sind.

2015 schrieben Sie in einem Artikel von einer “Krise der Voraussetzungen für emanzipatorische Bildung”. Hat sich seither etwas verändert? Oder herrscht weiterhin eine Stimmung der Alternativlosigkeit?

Ich muss sagen, dass mich Fridays for Future wieder ein bisschen hoffnungsvoller gemacht hat. Weil das für mich das erste Beispiel seit Jahren dafür ist, dass Menschen sich von unten organisieren und nachdrücklich zu einer der existentiellsten Fragen unserer Gesellschaft etwas unternehmen. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen gehen ja nicht auf die Straße, weil sie Hoffnung haben, sondern weil sie verzweifelt sind und eine Zukunft politisch einfordern. Das macht mir Hoffnung, weil die aktuelle Klimapolitik nicht mehr als alternativlos akzeptiert wird. Dieser Protest könnte ja auch ein Anlass dafür sein, Bildungsprozesse rundherum zu organisieren, aber, da sind wir wieder beim Punkt von eben, für Bildungsarbeit zum Thema Klima gibt es gerade kein Förderprogramm, damit auch keine Ressourcen. Statt dessen lässt das Hessische Kultusministerium verlauten, eine Teilnahme von Schüler*innen am weltweiten Klimastreik verstoße gegen das “Neutralitätsgebot”.

Bildung als soziale Praxis

Wir erleben einerseits die von Ihnen angesprochene Klimabewegung. Andererseits steht die AfD in manchen Bundesländern bei rund 30 Prozent. Ist das eine wie das andere Ausdruck von politischer Bildungsarbeit? Ist der Erfolg der AfD auch ein Ausdruck gescheiterter politischer Bildung?

Ich sehe das nicht so. Aus meiner Sicht wäre das eine Überbetonung dessen, was politische Bildungsarbeit leisten kann und eine Unterbetonung dessen, was gesellschaftliche Verhältnisse als solche ausmachen. Und wenn wir von der AfD sprechen, da besteht die Spitzenmannschaft ja vornehmend aus Juristen und anderen hochgebildeten Menschen.

Ein Problem ist, dass der Bildungsbegriff oft auf Prozesse, die im Kopf passieren, verengt wird. Ich denke aber, dass ein anderer Aspekt oft vergessen wird, und zwar, dass Bildung aus meiner Sicht immer auch bedeutet, etwas herauszubilden, also eine soziale Praxis ist. Es ist nämlich nicht immer so, dass man sich erst bildet und dann handelt, oft ist es genau umgekehrt: Man handelt erst, weil man ein Problem sieht, und im Prozess des Handelns fängt man dann an, richtig nachzudenken. Fridays For Future ist da ein gutes Beispiel. Die Schüler*innen sagen auch selbst, was sie alles gelernt hätten, seitdem sie auf die Straße gehen.

Sie sprachen davon, dass es Kern politischer Bildungsarbeit sei, Alternativen aufzuzeigen. Gibt es denn Bereiche oder Punkte, wo politische Bildung auch autoritär sein muss? Ist es didaktisch sinnvoll, einem AfD-Wähler zu sagen, dass er die “falsche” Partei wähle?

Die einzelnen Menschen sind ja – zum Glück – in gewisser Weise unverfügbar. Menschen machen immer etwas mit den Impulsen und Einwirkungen, die sie erhalten. Insofern greifen autoritäre Versuche immer nur begrenzt. Keiner will sich belehren und bekehren lassen und erst recht nicht autoritär zurichten lassen. Im Zweifel schalten die Leute da auf Durchzug, das lernen wir alle ja schon in der Schule. Natürlich aber finde ich, dass es zur Bildungsarbeit gehört, zu widersprechen und aufzuklären. Konkret, wenn es um die AfD geht, versuchen Gewerkschaften darüber aufzuklären, dass die AfD für Arbeitnehmer*innen eigentlich nicht viel anzubieten hat, weil diese Partei unter dem Strich für eine neoliberale Politik steht, und davon haben Arbeitnehmer*innen eben nichts. Das ist wichtig, ebenso wie falsche Tatsachenbehauptungen zurückzuweisen. Wir wissen allerdings auch, dass politisches Verhalten nicht nur von den Sachinformationen abhängt, das markiert auch eine Grenze der Möglichkeit von Aufklärung. Und wenn Menschen anderen Menschen das Existenzrecht oder andere grundlegende Rechte aberkennen, dann ist es auch manchmal schwierig, pädagogisch weiter zusammen zu arbeiten.

Führt gute politische Bildungsarbeit also nicht automatisch zu einer besseren, gerechteren Demokratie?

Wenn aus dieser guten Bildungsarbeit eine Bildung entsteht, sich also etwas herausbildet, dann würde das auch die Demokratie verbessern, davon bin ich überzeugt. Eine gutmotivierte Bildungsarbeit, die die Leute aber nicht erreicht, die führt im Zweifelsfall zu gar nichts. Wie kommt man in einen Dialog? Wie kann man sich als Pädagog*in als Reibungsfläche anbieten? Das heißt auch, Position zu beziehen, gute Argumente vor zu bringen, die Dinge selbst zu verstehen, das gehört zu guter Bildungsarbeit.

Symptom Bildungswiderstand

Die Grundsätze der politischen Bildungsarbeit wurden in den 70er Jahren mit dem Beutelsbacher Konsens festgelegt. Sind die drei Prinzipien – Indoktrinationsverbot, Kontroversität, Schüler*innenorientierung – immer noch zeitgemäß oder überholt?

Ich kann mit diesen Dimensionen etwas anfangen, wenn sie als Gesamtpaket gedacht und behandelt werden. Und das sage ich deshalb, weil die Bezugnahme auf den Beutelsbacher Konsens gerade bei denen, die ihn am vehementesten einfordern, unheimlich selektiv ist. Die Forderung, Schüler*innen nicht zu überwältigen, wird meist nur an die Lehrer*innen gerichtet, die politisch Position beziehen. Das Kontroversitätsgebot wird schon viel weniger berücksichtigt. Das Kontroversitätsgebot, das ja meint, dass alle kontroversen Themen der Gesellschaft auch im Unterricht kontrovers behandelt werden sollten, müsste auch bedeuten, dass Minderheitenthemen überhaupt erst einmal aufgegriffen werden.

Interessant fand ich deshalb auch Ihre Debatte zu den Gefängnissen: Was wäre, wenn Gefängnisse abgeschafft würden? Ich glaube, dass diese Frage in keiner Schule jemals diskutiert wird. Und das wäre ja durchaus kontrovers. Ist es richtig, Menschen so wegzusperren – viele nur deshalb, weil sie zu arm sind, um ihre Geldstrafe zu zahlen? Und der dritte Bestandteil, der zwar unter dem Wort Schüler*innenorientierung referiert wird, aber eigentlich ein Aufruf zur handlungsorientierten Interessenanalyse ist, dieser Punkt spielt in der Schule in der Regel gar keine Rolle.

Weil Sie die verschiedenen sozialen Perspektiven ansprechen. Muss sich politische Bildung über die Grundsätze hinaus immer auch an die Bedingungen der Einzelnen anpassen?

Ja, und es ist eine komplexe Herausforderung, möglichst viel Welt verfügbar zu machen und trotzdem zu berücksichtigen, dass sich die Welt für jede*n unterschiedlich darstellt. Ein Jugendlicher, der in Armut aufgewachsen ist, wo sich die Eltern vielleicht nicht mal die Reparatur des Fahrrads leisten können, lebt in einer anderen, auch politischen Welt als ein Kind aus akademischem Elternhaus, bei dem die Abschlüsse das Einstiegsticket für eine relativ privilegierte Lebensführung sind. Und ja, ich bin der Meinung, dass die politische Bildungsarbeit an Lebenslagen orientiert sein muss. Das heißt auch zu berücksichtigen, dass es auch gute Gründe für Widerstand gegen Bildungsauforderungen gibt. Gerade Menschen, die erfahren, dass sie permanent aufgefordert werden, anders zu leben, sich noch mehr zu bilden, gerade diese Menschen entwickeln einen Widerstand gegen übergriffige institutionelle Bildung. Kritische Bildung bedeutet für mich auch, ihnen diesen Widerstand nicht austreiben zu wollen, sondern zu fragen, ob er auf Handlungsbedarf – auch politischen – an anderer Stelle hinweist.

Die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak schreibt davon, dass Privilegien ein Verlust sein können, wenn sie einengend wirken. Kann man das auch auf den Bildungsbereich beziehen? Kann eine bestimmte Form der Bildung ein Verlust sein?

Ich teile die Kritik an der Vorstellung eines feststehenden Bildungskanons. In unserem Bildungssystem wird Wissen oft nur dafür erworben, mit den entsprechenden Abschlüssen bestimmte Positionen in der Gesellschaft anzustreben. Unter anderem deshalb wollen ja auch so viele Eltern, dass ihre Kinder unbedingt ein Gymnasium besuchen. Ich erzähle eine kleine Anekdote: Letztens beim Sport beanstandete eine Mutter, dass in der Grundschule, die ihr Kind besucht, jetzt fast alle eine Gymnasialempfehlung bekommen. Sie fürchtet offenbar darum, dass ihr Kind den erhofften Vorteil gegenüber anderen verliert. Oft geht es also gar nicht um die Inhalte von Bildung, sondern um das Zertifikat, um die Eintrittskarte, und dann die nächste Eintrittskarte und die nächste. Ich weiß nicht, ob der Erfolg als Verlust betrachtet wird, aber zumindest blicken viele Schüler*innen mittlerweile recht kritisch auf die Akkumulation toten Wissens, die sie als Bulimie-Lernen bezeichnen.

Die übergeordnete Frage, die wir als Redaktion für das Bildungsthema ausgesucht haben, ist ja die nach der lebenslangen Bildung. Sie schrieben in Ihrer ersten Email an mich, dass diese Vorstellung wohl für viele ein Albtraum sei. Wieso?

Weil keineswegs alle Menschen die Schule mit dem Wunsch verlassen, weiterzulernen. Für viele war und ist das eine solche Zumutung, dass sie mit Bildung nichts mehr zu tun haben wollen. Im Sinne von: Hört auf, meine Lebenswelt zu kolonisieren, mich ständig als defizitär zu betrachten! Ich bin erwachsen, ich möchte nicht mehr auf die Schulbank! Und wir wissen aus Studien, dass sich vor allem diejenigen mit stabilem Bildungshintergrund später weiterbilden.

Aber natürlich ist es dringend notwendig, die Erwachsenenbildung für alle zugänglich zu machen, insbesondere diejenigen, die keinen guten schulischen Start hatten und/oder sozial benachteiligt sind. Es gibt zum Glück immer mehr Weiterbildungsträger, die sich selbstkritisch fragen, ob sie offen genug sind oder sich eben doch subtil an ein bildungsbürgerliches Milieu wenden. Die Ermöglichung von Bildungsteilhabe darf aber kein Zwang werden, auch nicht indirekt durch die Androhung des Arbeitsplatzverlustes. Hier finden subtile Veränderungen statt. So stehen auch etwa Senior*innen immer häufig im Fokus der Bildungsarbeit, dass sie zum Beispiel auf dem neuesten Stand der digitalen Technik sein sollen. Was noch als Option angepriesen wird, davon wird vielleicht schon bald die Nutzung sozialer und medizinischer Dienstleistungen abhängen. Ich trete hingegen für ein Recht auf eine analoge Lebensführung für Menschen im höheren Alter ein. Nur wenn es eine entsprechende sozial- und gesundheitspolitische Infrastruktur gibt, können Menschen wirklich freiwillig entscheiden, ob sie beispielsweise den Umgang mit Hard- und Software erlernen wollen.

Das Recht auf analoge Lebensführung

Die Arbeitsverhältnisse haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer spricht von “Flexibilitätsdruck” und “Umstellungszumutungen”. Sollte sich politische Bildungsarbeit darauf anpassen – oder womöglich gegensteuern?

Auch hier geht es darum, den Menschen zu ermöglichen, die Arbeitsverhältnisse und ihre eigene Interessenlage darin zu verstehen und handlungsfähig zu werden. Zum Beispiel sollten sie verstehen, wie Managementsysteme funktionieren und was diese damit zu tun haben, dass man als Arbeitnehmer*in gar nicht mehr aus dem Hamsterrad rauskommt. Viele enden irgendwann im Burnout, was in einer Erwerbsarbeitsgesellschaft fatale Folgen hat. Das gehört für mich zur politischen Allgemeinbildungsarbeit.

Zum Schluss noch eine etwas allgemeinere Frage: Wenn von Bildung gesprochen wird, haben die meisten Menschen wohl die Institutionen, allen voran Schule und Universität, im Kopf. Welche Bereiche, in denen gebildet wird, werden Ihrer Meinung nach unterschätzt?

Also aus meiner Perspektive als Professorin in einem Fachbereich Soziale Arbeit würde ich zunächst mal sagen, dass der ganze Bereich des Sozialen Lebens unterschätzt wird. Räume, in denen Menschen Alltagsfragen wälzen. Ich wünsche mir eigentlich keine stärkere Institutionalisierung der Bildungsarbeit, sondern, dass Menschen dort, wo sie miteinander als soziale Wesen agieren, dort, wo politische Fragen auftauchen, sie auch die Möglichkeit haben, darüber nachzudenken, die Welt und ihre eigene Position darin besser zu verstehen. Das beinhaltet immer die Frage nach individuellen und kollektiven Handlungsmöglichkeiten. Also eigentlich geht es mir um eine stärkere Bildungsarbeit in den sozialen und politischen Alltagsprozessen. Das mindert nicht die Bedeutung von Bildungsträgern. Vor allem stellt es hohe Anforderungen an Menschen, die hauptberuflich zu Bildungsprozessen beitragen können. Im Gegensatz zum toten Wissen ist bei ihnen lebendiges Wissen gefragt, ebenso wie Begeisterung für gemeinsame Denkprozesse.

Bildung als Alltagspraxis, das betont auch der Lehrer Dejan Mihajlovic, der in einem Beitrag für unser Magazin schreibt: “Im Prinzip müssten einige Elemente vom Lernen im Netz in den physischen und kommunalen Raum übertragen und geformt werden: Ein offener Zugang zu Informationen und Expert*innen, attraktive Gelegenheiten, davon zu erfahren oder auch diverse Möglichkeiten für Vernetzung, Austausch und Kollaboration.” Können Sie damit etwas anfangen?

Auf jeden Fall. Vor allem deshalb, weil sich ja viele Menschen so an die elektronische Kommunikation klammern, weil sie zu wenig reale soziale Kontakte haben. Teilweise fehlen auch die Räume, also die Orte, in denen Menschen ohne Konsumzwang miteinander in Kontakt kommen können.


Interview

Julika Bürgin ist Professorin mit Schwerpunkt Bildung am Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Sie war zuvor lange Zeit ehrenamtlich und hauptberuflich in der gewerkschaftlichen und gesellschaftspolitischen Jugend- und Erwachsenenbildung tätig. Bürgin ist im Forum kritische politische Bildung aktiv. Ein gegenwärtiger Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Politik der Demokratiebildung.

Was wäre, wenn…

… Bildung nie aufhörte?

Im 7. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Bildung. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.

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