“Es gibt eine Hierarchie der Kulturen”

Wer den Kanon kennt, gilt als gebildet. Welche Kriterien hat er, was sagt er über die Gesellschaft? Wir sprachen mit drei Frauen, die als Vermittlerinnen viel mit ihm in Berührung kommen. Das Interview führte Asal Dardan.
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Aus dem 7. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn Bildung nie aufhörte?

Ihr alle habt in eurer Arbeit mit kanonischen Texten zu tun. Erinnert ihr euch noch daran, wie ihr das, was man Kanon nennt, kennengelernt habt?

Mahret Ifeoma Kupka: Dass es so etwas wie einen konkreten Kanon gibt, wurde mir erst im Studium wirklich bewusst. Davor habe ich einfach alles so genommen, wie es mir vorgelegt wurde, es war für mich einfach normal. An der Uni dämmerte mir dann, dass da möglicherweise was fehlt, dass es nicht allein an mir liegt, wenn ich mit vielem nichts anfangen konnte oder wenn die Inhalte wenig mit meiner Lebensrealität zu tun hatten.

Nadire Y. Biskin: Bei mir fing das auch viel später an. Es gab immer Sachen, die alle empfohlen haben und ich dachte, warum berührt mich das nicht? Ich habe mir so gewünscht, dass dieser Kanon mich anspricht, weil es bedeutet, einer Norm zu entsprechen. Das Problematische am Kanon ist, dass er nicht transparent ist. Man kennt die Kriterien nicht und darum ist es schwer, gezielt einen Einwand zu haben. Wenn man in prekären Umständen ist, muss man sich außerdem über die zeitlichen Ressourcen Gedanken machen. Ich war nicht privilegiert genug, um mich vom Kanon distanzieren zu können. Es gibt Leute, die das können, weil davon ausgegangen wird, dass sie eben aus dem Kreis derer kommen, die das alles sowieso wissen. Ich kann immer noch nicht einfach sagen, okay, ich mache jetzt etwas komplett anderes. In einem freieren Raum gäbe es mehr Entfaltung und eine größere Bandbreite.

Berit Glanz: Ich finde das mit der Zeitökonomie sehr interessant. Man muss tatsächlich entscheiden, was man in der wenigen Zeit macht, die man hat. Da kommt der Kanon ins Spiel. Welche Bücher will ich lesen? Was ist mir wirklich wichtig? Es war auch bei mir ein langer Weg von dem Schritt, dass mir bewusst wurde, was ein Kanon ist, dahin zu merken, dass ich ihn als ausschließend empfinde. Ich hatte nicht sofort das Selbstbewusstsein zu fordern, dass sich daran etwas ändert und zum Beispiel andere Texte in Seminarpläne aufgenommen werden. Ich merke das heute auch in meinen Seminaren. Am Anfang frage ich immer, ob die Leute etwas anderes lesen möchten. Man sollte diese Tür öffnen, ich habe mich ja selbst auch nicht getraut, sie damals von alleine zu öffnen. Aber da kommt selten etwas.

Wie würdet ihr Kanon überhaupt definieren?

Mahret Ifeoma Kupka: Da fällt mir sofort die Liste ein, die in meinem Germanistikinstitut hing, die 100 Bücher, die alle Germanist*innen kennen müssen. Ein paar der Bücher hatte ich bereits in der Schule gelesen, trotzdem hat mich das unter Druck gesetzt. Ich dachte, ich muss jetzt dieses ganze Zeug lesen, von dem interessiert mich aber vieles gar nicht. Das sind Dinge, die sich kulturell durchgesetzt haben und andere Dinge werden dann aus irgendwelchen Gründen vergessen. Eine Art Topliste der jeweiligen Disziplin, die nicht immer ganz bewusst und reflektiert übernommen wird, weil sie schon immer da war. Es wird ja selten etwas gestrichen oder ersetzt. Es gibt nirgends ein Komitee, das den Kanon verbindlich zusammenstellt, aber es wird immer Werke geben, die auf jeder Liste zu finden sind.

Berit Glanz: Kanonisierung ist ein Prozess, in dem eine Kultur aushandelt, was ihr wichtig ist. Welche Texte und Quellen sagen uns etwas und welche sagen uns nichts mehr? Früher war der Kanon fester definiert, heute muss man stärker suchen.

Nadire Y. Biskin: Aber gleichzeitig weiß man das schon. Kanon ist immer das, wo das Gegenüber entrüstet reagiert, wenn man etwas nicht gelesen hat.

Mahret Ifeoma Kupka: Oh ja, das kenne ich. Da hört man dann „du hast doch Germanistik studiert, wie kannst du das nicht kennen?“

“Kanon ist auch eine Form der Hierarchisierung”

Bisher klingt es so, als sei Kanon etwas Freudloses, etwas, das mit Zwang und dem Gefühl von Ausschluss verbunden ist.

Berit Glanz: Die erste Erfahrung ist, dass man etwas abarbeiten muss und das empfindet man erst einmal als anstrengend. Wenn ich auf das blicke, was ich als kanonisches Wissen werten würde, dann weiß ich vor allem da viel, wo ich mich entweder selbst für etwas begeistern konnte oder jemanden getroffen habe, der sich sehr begeistert hat. Ich habe teilweise Lücken in meinem Wissen und das sind fast immer die Themen, für die sich niemand in meinem Umfeld interessiert hat und für die ich mich auch nicht begeistern konnte. Wenn jemand einem gegenübersitzt, der daran Spaß hat, kann Kanon auch Spaß machen. Das ist also auch eine Frage der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden.

Mahret Ifeoma Kupka: Die Idee eines Kanons ist toll, wenn ich mir vorstelle, ich kriege eine Liste und lese dann hundert Bücher, die alle etwas mit mir zu tun haben und mir die Welt erklären. Schwierig wird es, wenn es nicht so ist und ich mich als Lesende permanent fragen muss, ob ich überhaupt Teil dieser Kultur bin, wenn ich nirgendwo gemeint bin oder abgebildet werde. Wenn man Kanon betrachtet als Zusammenstellung von Texten und Werken, die beispielhaft für eine Kultur sind, die man draufhaben sollte, dann verändert sich bestenfalls auch der Kanon, wenn sich die Kultur verändert.

Berit Glanz: Die Idee, es an Menschen zu binden, finde ich schön. Also, dass man nicht passiv etwas abarbeitet, sondern dass man über das Gespräch herausfindet, warum man etwas liest. Ich lese jetzt Dinge, da erkenne ich Welten und Zusammenhänge, die ich gern vorher gekannt hätte. Aus diesem Grund ist Kanon für mich im Moment mit einer leisen Trauer verbunden, dass ich manches nicht gesehen und gelesen habe, dass ich Weltsichten nicht kennengelernt habe. Aber es gibt auch feste Texte, das sind Bildungsziele, und die muss man eben lernen. Das stelle ich mir aber in der Vermittlung als Lehrerin besonders schwer vor.

Nadire Y. Biskin: Mittlerweile ist man davon abgekommen, zu sagen, wen man gelesen haben sollte und sagt nun, dass es bestimmte Inhalte gibt, die man vermitteln muss. Im Fremdsprachenunterricht richtet man sich beispielsweise häufig nach den Schulbüchern, weil die sehr gut aufgebaut sind und man auch nicht endlos Zeit hat, alles anders zu machen. Aber dann wird in solchen Büchern zum Beispiel das Familienbild Patchwork vermittelt und ich denke, nun gut, das ist für euch alternativ und divers, für mich ist das weiße Mittelschicht. Aber was soll ich daran ändern, wenn es noch so viele andere Sachen gibt, die man berücksichtigen muss?

Funktioniert Kanon also vor allem, wenn er Möglichkeiten der Identifikation bietet?

Nadire Y. Biskin: Ich habe Antigone geliebt, ich glaube, das hat etwas mit Identifikation zu tun. Die war da mit ihrer Familie und hat dann rebelliert. Im Gegensatz zu Emilia Galotti, die durchgehend ehrenhaft und tugendhaft war. Deshalb gibt es diesen Kanon der Anderen, an dem sie festhalten, weil sie sich mit ihm identifizieren. Kanon ist auch eine Form der Hierarchisierung. Wenn er nicht begründet ist oder an willkürlichen Merkmalen hängt, ist es unfair. Es ist wichtig zu schauen, wer, wie und worüber. Die Strukturen dahinter sind nicht explizit aber wichtig.

“Es ist eben nicht immer Emilia Galotti, sondern manchmal auch die Netflix-Serie”

Mir scheint, dass neben der Gründung neuer Studiengänge und Fachrichtungen vor allem das Internet Wege bietet, Wissen neu zu strukturieren und neue Perspektiven einzubringen. Es gibt diverse Hashtags wie #DieKanon, #Dichterdran, #tddlkanon und #frauenlesen, die das versuchen. Ihr habt an einigen davon mitgewirkt, was sind eure Erfahrungen damit?

Mahret Ifeoma Kupka: Bei #DieKanon haben wir erst einmal ganz klassisch gesammelt, welche Autorinnen uns spontan als essentiell einfallen. Dann haben wir begonnen zu diskutieren, haben versucht, Kategorien zu schaffen und sind schnell auf die ersten Schwierigkeiten gestoßen. Welche neuen Ausschlüsse werden durch eine Fokussierung auf Frauen geschaffen? Wo liegen unsere blinden Flecken? Es sollte ja nicht darum gehen, einen Kanon unter gedrehten Vorzeichen zu reproduzieren. Wir standen auch unter Zeitdruck. #DieKanon war als unmittelbare Reaktion auf den sehr homogenen Bildungskanon in Die Zeit entstanden und wir hatten die Möglichkeit groß etwas bei Spiegel Online zu veröffentlichen. Wir haben #DieKanon trotz der Unklarheiten publiziert, weil uns in einem ersten Schritt wichtig war, dass der Zeit-Kanon nicht einfach unkommentiert durchrutscht. Als standfester Gegenkanon funktionierte #DieKanon nicht, aber eine Diskussionsgrundlage war geschaffen. Für mich war es ein interessantes Experiment, allein um herauszufinden, wie man einen Kanon definieren und begründen kann, wenn er nicht gesetzt ist sondern ausgewählt werden soll.

Berit Glanz: Beim Bachmannpreis und #tddlkanon war es sehr lustig, dass viele mitgemacht und gesammelt haben. Wenn die Jury Referenzen nennt, ist das eine Praxis der Kanonisierung. Spannend war, wie viel Film und Fernsehen in einem Wettbewerb zu einem Literaturpreis herangezogen wurde. Das Leitmedium verschiebt sich, dieser Medienwandel ist interessant zu beobachten. Ich finde das gar nicht schlimm. Es sagt aber etwas über unsere Referenzen aus. Es ist eben nicht immer Emilia Galotti, sondern manchmal auch die Netflix-Serie.

Hat das tatsächlich etwas mit Bildung zu tun, so eine Serie zu kennen?

Berit Glanz: Ja, ich glaube, dass es gerade im akademischen Kontext Referenzen sind, bei denen man Bescheid wissen muss. Das ist das Fiese, es wird immer komplexer und differenziert sich immer weiter aus. Man verliert da schnell den Überblick.

Ihr habt alle Einblick in mehr als einen Kulturraum. Inwiefern hat das beeinflusst, wie ihr auf das Konzept Kanon schaut?

Berit Glanz: In Island gibt es wichtige kanonische Texte, an denen man nicht vorbeikommt. Aber dort gilt man auch als gebildet und kann beispielsweise an Abendgesprächen teilnehmen ohne sich zu blamieren, wenn man gewisse Texte nicht gelesen hat. In Deutschland kommt man eben oft ins Schwimmen und muss verbergen, dass man etwas nicht kennt.

Nadire Y. Biskin: Ich lese spanischsprachige und mittlerweile auch türkische Literatur, aber ich kann gar nicht sagen, wie der Kanon in diesen Kulturen gehandhabt wird. Es ist aber so, dass ich vor allem den Kanon lese. Ein türkischer Hintergrund ist ja nicht cool, nicht hip. Bis auf schöne Haare und schönes Essen gibt es kaum etwas aus der türkischen Kultur, das in Deutschland geschätzt wird. Vielleicht wollte ich darum auch lange Zeit nicht so viel damit zu tun haben. Deshalb ist es ein weiterer Schritt hin zur Akzeptanz, dass ich nun auch türkischsprachige Literatur lese. Darüber hinaus ist es seltsam, dass im deutschen Kanon wenig bis gar nichts stattfindet, das die vielen türkisch- oder polnischstämmigen Menschen, die bereits seit Jahrzehnten in Deutschland leben, repräsentiert.

Mahret Ifeoma Kupka: Da sieht man, wie national so ein Kanon ist. Es stimmt, dass manches kulturell abgewertet wird. Meine Mutter ist in Nigeria aufgewachsen und hat, wie es im kolonial geprägten Nigeria üblich war, eine klassische Commonwealth-Schulausbildung genossen, die ihr eine unterschiedliche Wertigkeit von Wissen vermittelte. Deswegen drückte sie meinem Bruder und mir vor allem den britischen Kanon auf, das war nützlicher und das hatte sie selbst so gelernt. Inzwischen wird immer bekannter, dass das Land eine interessante Literaturszene hat und auch schon immer hatte. Man kannte vielleicht Wole Soyinka oder Chinua Achebe, aber damit hörte es auch schon auf.

Berit Glanz: Es gibt eben eine Hierarchie der Kulturen. Wir haben in der Schule nichts gelesen, das nicht aus Frankreich, Großbritannien oder Deutschland kam. Das könnte man doch ohne Probleme ändern!

“Hybride Wesensmerkmale kommen nicht so gut an”

Kann man Kanon vom nationalen Rahmen lösen? Geht das überhaupt, andere Identifikationsmöglichkeiten zu bieten als die nationale Kultur?

Nadire Y. Biskin: Ich denke, dass zumindest Identifikation im Sinne von Himmelsrichtungen notwendig ist. Das muss nicht unbedingt national sein, es gibt ja übersetzte Bücher, die auch Pflicht sind. Tatsächlich ist es ja so, dass in anderen Ländern der europäische Kanon bekannter ist als andersherum. Es gibt universal einen Kanon, der aus einer gewissen Richtung kommt. Ein Beispiel dafür ist Elif Şafak. Sie lebt in London, ist privilegiert, wurde unter anderem in Europa sozialisiert, der Bezug zu Europa und der westlichen Welt ist sehr dominant. Es gibt natürlich andere Texte, eine andere Literatur, aber die kommt eben viel schwerer hier an.

Mahret Ifeoma Kupka: Wir müssen mehr Literatur thematisieren, die unabhängig entsteht und nicht nur durch die Adelung der deutschen Übersetzung Aufmerksamkeit erhält.

Berit Glanz: In Skandinavien hat beispielsweise Arbeiterliteratur eine viel größere Tradition als in Deutschland, aber diese Werke werden kaum übersetzt. Das kommt also auch nicht nach Deutschland.

Ist Bildung ohne Kanon möglich?

Berit Glanz: Mir hat es bei meinem Einstieg in die schwedische Literatur geholfen, dass es einen gibt. Die Verabschiedung von einem Kanon verunsichert auch. Wir sind alle durch ein System geschleust und geformt worden und wir haben diese Listen abgearbeitet und dazu verhalten wir uns. Es gibt keinen Nullpunkt. Aber wenn man offen darüber spricht, warum man welche Bücher liest, dann kann eine Öffnung entstehen. Das Gespräch ist das Entscheidende. Ich glaube nicht, dass die Listen das Entscheidende sind, sondern der Austausch.

Nadire Y. Biskin: Aber man kann das schon anstreben. Ich verstehe, dass man eine Orientierung haben möchte, aber Stück für Stück sollte es eine Öffnung geben. Ich habe das Gefühl, dass gerade in Deutschland der rote Faden und die Schubladen und Etiketten sehr eindeutig funktionieren müssen. Hybride Wesensmerkmale kommen nicht so gut an.

Berit Glanz: Das, was als literarische Norm gilt, ist eben da, und dadurch werden und wurden ganz viele Arten zu schreiben und diverse Stimmen ausgeschlossen. Aber dass so viel darüber diskutiert wird, ist auch ein Zeichen dafür, dass sich etwas ändert. Plötzlich erscheint die Leseliste, die wir alle noch hingenommen haben, als verhandelbar. Ich merke, dass ich im Umgang mit Studierenden mehr Wert darauf lege, dass sie auch auf andere Kulturen blicken und selbst schauen, was sie finden. Ein offener Blick wird wichtiger und ich glaube, das wurde vor zehn oder fünfzehn Jahren noch anders kommuniziert.

“Viele verschiedene Blickwinkel auf die Realität”

Seht ihr diesen positiven Trend auch, Nadire und Mahret?

Nadire Y. Biskin: Wenn es gesellschaftliche Veränderungen gibt und neue Fächer eingeführt werden oder neue Literaturformen entstehen, da gibt es einen Widerstand, der klingt irgendwie nicht vernünftig. Es macht doch viel mehr Sinn, die Literatur an die gesellschaftlichen Umstände anzupassen. Ich meine, was für ein Ziel verfolgen Kanon und Bildung? Möchte man mit der Zeit mithalten oder an Dingen festhalten, nur weil sie einem besser gefallen haben? Das bringt natürlich diese Unsicherheit mit sich, dann wird gesagt: jetzt darf man gar nichts mehr sagen, gar nichts mehr lesen.

Mahret Ifeoma Kupka: Ja, wenn zum Beispiel der Kinderbuchkanon überarbeitet wird und diskutiert wird, ob noch bestimmte Wörter darin stehen dürfen oder nicht. Zugleich wundere ich mich schon sehr, wer sich alles dazu äußert. Ich frage mich dann, worum es eigentlich geht: darum Kindern und Jugendlichen Werte eines respektvollen und vielfältigen Miteinanders zu vermitteln oder um die Angst vor dem Verlust der eigenen als unschuldig geträumten Kindheit? Und diese persönlichen Befindlichkeiten sollten nun wirklich nicht Teil einer Diskussion um einen gesellschaftlich bedeutsamen Kanon sein!

Wenn ihr an einen Kanon der Zukunft denkt, was müsste er erfüllen? Was wäre seine ideale Funktion?

Mahret Ifeoma Kupka: Er soll Orientierung geben und helfen, Prozesse und Zusammenhänge zu verstehen, Kontinuitäten begreiflich machen und Empathie lehren. Er darf auch gerne Spaß machen.

Berit Glanz: Kanon sollte ermöglichen, viele verschiedene Blickwinkel auf die Realität zu bekommen. An Texten aus dem Barock muss man sich zum Beispiel erst einmal abarbeiten, die sind eben fremd. Diese Differenz, dass man mit anderen Perspektiven und Erzählweisen arbeitet, die einem fremd sind und mit denen man sich vielleicht sogar unwohl fühlt, da muss auch in der Gegenwartsliteratur viel mehr passieren. Da benötigen wir mehr Diversität.

Nadire Y. Biskin: Ja, es müsste vielfältiger werden, aber ich bin da pessimistisch. Es gibt Literaturagenturen, Verlage, Redaktionen und Buchläden, die immer wieder entscheiden, was ein Kanon ist. Meine Kritik am Kanon ist auch eine Herrschaftskritik, weil ich denke, dass die Wahl oft unbegründet ist. Da geht es um Prestige, also weiß ich nicht, ob es gelingen kann, den Kanon zu erweitern, um allen gerecht zu werden oder ob man ihn einfach abschaffen muss. In ganz anderen Bereichen stellt man sich auch diese Fragen, beispielsweise, versucht man alle Geschlechter einzubeziehen oder man versucht, grundsätzlich das Konzept Geschlecht zu dekonstruieren? Entweder wird das Konzept des Kanons hinterfragt und sowas wie ein Kanon aufgelöst oder man erweitert den Kanon. Für beides muss es mehr Stimmen geben, die vielfältige Ansichten zum Thema Literatur vertreten.


Interview

Nadire Y. Biskin hat Philosophie, Ethik und Spanisch an der Humboldt Universität zu Berlin studiert und hat das Lehramtsreferendariat mit dem zweiten Staatsexamen abgeschlossen. Sie schreibt journalistische Texte sowie Prosa und Lyrik. Sie ist eine der Autorinnen des kürzlich im Verbrecher Verlag erschienenen Bandes „FLEXEN: Flâneusen* schreiben Städte“. [Foto: Ksenia Lapina]

Dr. Mahret Ifeoma Kupka schreibt, spricht, lehrt und macht Ausstellungen zu den Themen Mode, Körper und Performatives. Sie studierte Volkswirtschaftslehre in Heidelberg, sowie Kunstwissenschaft/Medientheorie, Philosophie und Ausstellungsdesign an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Seit 2013 ist sie Kuratorin am Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main.

Berit Glanz ist Autorin und Literaturwissenschaftlerin. Als Skandinavistin arbeitet sie am Institut für Fennistik und Skandinavistik der Universität Greifswald und forscht dort zu Modernisierungserzählungen der skandinavischen Romantik und zum Medienwandel. Im Sommer 2019 erschien ihr Debütroman „Pixeltänzer“ bei Schöffling & Co.

Asal Dardan ist Kulturwissenschaftlerin und Teil des Netzwerks Tabletalk Europe. Als Autorin beschäftigt sie sich unter anderem mit Pluralismus, Migration und der deutschen Erinnerungskultur. Derzeit arbeitet sie an ihrem ersten Essayband.

Was wäre, wenn…

… Bildung nie aufhörte?

Im 7. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Bildung. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.

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