Selbst, vermessen

Statt der versprochenen Alltagsoptimierung droht durch Geräte wie die Apple-Watch ein Modus ständiger Kontrolle. Was hilft? Kein Tech-Pessimismus, sondern neue Formen der Datensouveränität. Ein Beitrag von Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski.
smart watch elektronik uhr
Aus dem 9. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn die Gesundheitsversorgung frei wäre?

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.

Rainer Maria Rilke

Technische Innovationen neigen häufig dazu, gesellschaftliche Normen zu überholen, ihre Wirksamkeit und Gültigkeit still zu hinterfragen und etablierte Welt- und Selbstverständnisse schlicht zu verändern. Denn Technik selbst schlägt sich, mit Bruno Latour gesprochen, als “gehärtete” Maxime und Tatsache, als ein (Arte-) Faktum nieder, das selbst neue Fakten schafft. Einmal eingeführt, entfaltet sie häufig eine gewisse Eigendynamik, sodass das, was einst neu, künstlich oder undenkbar schien, sukzessive in die Lebenswelt dringt, sich normalisiert – schließlich selbst zur Norm wird.

Das Silicon Valley hat diese Wirkmächtigkeit der Technik längst erkannt, gar zu einem ganz eigenen Geschäftsmodell erhoben. Stets zielt man auf “disruptive Innovationen”, erhöht und kapitalisiert die Geschwindigkeit des Fortschritts und lässt so alles Stehende und Analoge verdampfen. Nur logisch scheint es da, dass sich auch der Aggregatzustand seiner Vor- und Herstellungen beständig wandelt; dass, was zunächst als Möglichkeit, Potential oder befreiendes Ideal beworben wurde, eine neue Verbindlichkeit erfährt – dass, um es in puncto digital health konkret zu machen, Unternehmen wie Google in Real-Life-Experimenten nicht nur tausende Menschen mit Wearables ausstatten, um die Zukunft der Gesundheit neu zu ‚vermessen‘, sondern zuletzt auch smarte Krankenversicherungen ihre Leistungen an die Pflicht des Tragens einer Apple Watch oder eines anderen Tracking Devices koppeln.

Smarter Wellness-Panoptismus

Als Vorreiter dieser Entwicklung kann sich aktuell die US-amerikanische Versicherung John Hancock behaupten, die den Fitness-Tracker am Handgelenk im Rahmen ihres “Vitality”-Programms seit 2018 für jeden Neukunden obligatorisch macht und die beständige Selbstvermessung in ein lukratives Geschäftsmodell übersetzt. Denn wer sich entschließt, “Vitality PLUS”-Mitglied zu werden und sich freizügig vermessen lässt (eine Apple Watch gibt es dafür schon ab 25 Dollar Zuzahlung), findet sich in einer ganz eigenen Form des Reality Minings wieder, das heißt in einer komplett punktierten, durchkommerzialisierten Umwelt, in der jeder Schritt via Smart Watch als “Aktivitätsring” aufgezeichnet und wie jeder gesunde Einkauf in einem zentralen Gesundheitsscore – einer sanften Version des chinesischen Sozialkreditsystems – gespeichert und “honoriert” wird. Bei guten Leistungen (500 Punkte müssen es mindestens sein) können die Kosten der Versicherung dann um 15 Prozent schrumpfen, nach 10 Workouts darf via App sogar ein digitales „Glücksrad“ gedreht werden, sodass attraktive Gutscheinoptionen – etwa für den Apple App Store, Amazon Prime oder Walmart – jede Anstrengung versüßen.

An diesem durchdringenden System zu Förderung des “größten Glücks der größten Zahl” hätte der utilitaristisch gesinnte Erfinder des “Geschäft[s] der Kontrolle” und Vordenker disziplinarischer “Besserungsanstalten”, Jeremy Bentham, seine wahre Freude gehabt: Das von ihm Ende des 18. Jahrhunderts konzipierte Panoptikum versprach als Gefängnis- und Erziehungsbau totale Überwachung, ist zu einer Metapher der Moderne geworden und erfährt in den digitalen Versicherungsmodellen eine zeitgenössische Interpretation. Denn im Namen des “besseren Lebens” unterstehen auch hier sämtliche Bereiche des Alltags einer ständigen Beobachtung, etablieren einen dezentraleren Wellness-Panoptismus, in dem mit allerlei Prämien eine angeleitete Selbstkontrolle forciert, die Smart Watch zu einem umsorgenden “Beschützer” wird. Dass sich die oder der Einzelne damit immer mehr in den präformierten, abgesteckten Feldern der Handelsketten und Online-Dienste bewegt, sich stets dem urteilenden Rankingsystem und behavioristischen Konditionierungen ausgesetzt weiß, markiert zwar einen fast polizeilichen, stets misstrauischen Blick auf die Existenz – wird aber als erwünschter Dienst am Kunden wahr- bzw. angenommen.

Idealistische Motive spielen in diesem Programm freilich kaum eine Rolle. Es geht ganz materialistisch – und durchaus spieltheoretisch – um individuelle Vorteile, die über sanfte, aber in der Totalität massive Anreizsysteme massiert werden. Erreicht der Versicherte etwa über 24 Monate seine Aktivitätsziele, behält er die Apple-Watch ohne weitere Zuzahlung. Wird er hingegen träge, bleiben nicht nur – no pain, no gain – allerlei Vergünstigungen und Spielereien aus; er ist auch verpflichtet, seine Smart Watch nachträglich abzubezahlen. Die Versicherung hofft, dass die Verlustaversion den Kunden in die richtige Richtung nudged und das Statussymbol Apple-Watch seine überzeugende Wirkung voll entfaltet. Keine falsche Taktik, wie es scheint – bei Testläufen gaben 29 Prozent der TeilnehmerInnen an, dass die Smart Watch “einer der Hauptfaktoren” sei, sich dem “Vitality-Programm” anzuschließen. John Hancock hat also begriffen, dass es bei der angebotenen Leistung auch auf die feinen Unterschiede ankommt, und so kann sich der oder die Einzelne, gerade weil Gesundheit aus Firmensicht weniger ein individuelles Potenzial als ein Risiko bedeutet, beständig von den fremden Blicken geschmeichelt fühlen.

Für den Versicherer selbst besteht im beständigen Monitoring ein enormes Potential. Man hat erkannt, dass die permanente Aufzeichnung des Kundenverhaltens im Zusammenspiel mit gezielt gesetzten Anreizen ein effizientes Instrument ist, um ein neues Handeln zu etablieren, einen gesünderen Lebensstil – in der Branche nennt man das ‘behavioral underwriting’ – zu initiieren und dies scheinbar so freiwillig wie selbstständig. Zwar wirken hier kaum die traditionellen Mechanismen von Überwachen und Strafen, doch das Regime angeleiteter (Selbst-)Kontrolle ist nicht frei von Disziplinierung. Denn wer sich schlecht führt, nicht sportlich-präventiv einem “besseren Ich” nachhechelt um gesundheitlich vorzusorgen oder nur zu wenig gesunde Dinge konsumiert, muss damit rechnen, mehr für seine Versicherung zu zahlen. So heißt es alsbald womöglich: Ein ungesundes, unproduktives, schlechteres Leben muss man sich leisten können.

Die Gesellschaft der Wearables

Ein solch präventivgesellschaftliches Szenario scheint angesichts der neuesten Innovationen nicht allzu fern. Denn nimmt man die Punktestände oder Konsumgewohnheiten, und kombinierte sie, dystopisch gedacht, noch mit klinischen und anderen persönlichen Daten – vom sequenzierten Genom oder der Krankenhistorie bis zum Wohnort, dem Hobby oder Likes bei Facebook und Co. – ließen sich hochprädiktive Risikoprofile für jeden Einzelnen erstellen, die in letzter Konsequenz sogar dazu führen könnten, dass, wie die Medizinethikerin Alena Buyx erklärt, so mancher “kaum mehr versicherbar” wäre. Während sich die Entwicklung in Deutschland – vor allem aufgrund des rechtlich verbrieften Solidarprinzips – zögerlicher als in den USA vollzieht, erste Versicherungen ‘lediglich’ wearable-basierte Bonusmodelle für ein “aktives Gesundheitsmanagement” anbieten, ist man in Singapur noch einen Schritt weiter.

Dort verkündetet das “Health Promotion Board” (HPB) der Regierung im Sommer 2019, dass man mit der kürzlich von Google gekauften Firma Fitbit zusammenarbeiten wolle, um zukünftig bis zu einer Million Bürger*innen mit dem “Inspire Band” auszustatten. Nötig dazu ist allein, sich für 10 Dollar im Monat dem Premium Service Fitbits, einem app-gestützten, individuellen Gesundheits-Coaching, anzuschließen, bei dem es neben alltäglichen motivierenden Gesundheitsratschlägen das Wearable kostenlos gibt. Unter dem Motto “discover a healthier you” wolle man dem Einzelnen dann auf Basis der erhobenen Daten dabei helfen, seine Gesundheit besser zu managen und die Aktivität der Bürger*innen fördern. Was als freiwilliges Angebot im Zeichen des Empowerments gelabelt ist, lässt sich schnell als datafizierte Biopolitik entziffern, denn die individuellen Gesundheitsdaten werden selbstverständlich mit dem HPB geteilt, d.h. in einer zentralen Datenbank erfasst, verwaltet, kontrolliert. Im Wettlauf um eine bessere Gesundheit wird jeder Einzelne via Wearable also nicht nur zum “Komplizen des Erkennungsdienstes” (Andreas Bernard), in der Gesellschaft der Wearables scheinen Freiheit und Kontrolle derart miteinander verbunden, dass sie fast ununterscheidbar geworden sind: “Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.” (Rilke)

Der eingebaute Zweck der Technologie

Wird Selbstvermessung zumeist mit den Werten der Autonomie, Transparenz, Emanzipation oder einer leistungsbewussten Selbstverwirklichung beworben, scheint die gruppendynamische, gesellschaftliche Realisierung dieser Ideale mindestens widersprüchlich. Aus der verführerischen Anrufung eines fitteren und “gesünderen Ichs” wird schnell eine Art Imperativ, der neben den Modi der Fremdkontrolle und der mal mehr, mal weniger sanften Überwachung vor allem den fortschreitenden Selbst-Anschluss an die Geräte forciert. Immer klarer wird, dass digitale Technologien zwar nach wie vor, wie der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard erklärt, mit den “Freiheitsversprechen der Pionierjahre” aufgeladen werden, dass sie aber nicht, wie in der Frühphase des Internets, dem Spiel mit multiplen Identitäten dienen, sondern verstärkt darauf abzielen, das Subjekt “dingfest zu machen.” So bleibt die Vermutung, dass man gerade angesichts der kontrollgesellschaftlichen Technologien der Vernetzung die freie, individuelle Verfügungsgewalt über Technik nicht vorschnell unterstellen sollte: Denn wer kann von sich heute noch behaupten, sich nicht anzuschließen, nicht den Regeln der Vernetzung und Quantifizierung folgen zu müssen (oder zu wollen) – nicht vom motivierenden Spiel der Anreize, von der “peer pressure” erfasst zu werden?

In dieser Optik ist es dann auch kaum hinreichend, die Frage nach Freiheit und Kontrolle im digitalen Zeitalter allein mit Blick auf den isolierten Tracker seiner Selbst zu stellen, der vielleicht nichts zu verbergen hat und ganz selbstbewusst der eigenen Vermessungslust frönt. In dem Moment, in dem die Schnittstellen der Digitalität das Zwischenmenschliche, und damit kein isoliertes Ich, sondern ein verbundenes Wir berühren; in dem Augenblick also, in dem das Selbst Teil der Funktion einer größeren Gemeinschaft, ihrer Ziele und Interessen, ihrer Normen und Machtkonstellationen wird, verschwimmen die Konturen der Autonomie und damit scheinbar auch die Gründe jeder eigeninitiativ gefällten Entscheidung.

So lässt sich die Technik dann auch kaum aus den Verbindlichkeiten des Sozialen subtrahieren, wirkt damit – entgegen der im Silicon Valley verbreiteten Annahme, dass die “Technik neutral sei” (Ex-Google-CEO Eric Schmidt) – nicht kontextunabhängig, a-sozial oder a-historisch. Schon Herbert Marcuse erklärte, dass Technik eine Materialisierung gesellschaftlicher Verhältnisse sei, dass “bestimmte Zwecke und Interessen der Herrschaft […] nicht erst nachträglich und von außen der Technik oktroyiert [sind]”, sie vielmehr bereits in “die Konstruktion des technischen Apparats selbst” eingehen. Der Technik sind ihre Entstehungsbedingungen, spezifische Welt- und Menschenbilder – heute vor allem kapitalistische – also stets inhärent, sodass sich ihre teleologischen Zurichtungen auf Produktivität oder Effizienz und ihre numerischen Dynamiken nicht nur immer weiter fortschreiben, sondern auch expansiv das Selbst- und Weltverhältnis formen. Jeder bonusaffine Self-Tracker trägt, ob gewollt oder nicht, zu diesen Entwicklungen bei, die in erfassungslogischer Konsequenz alle Schichten des Realen sondieren, maschinenleserlich integrieren und letztlich – und das ist ein entscheidender Wendepunkt – befähigen, auch das noch Unidentifizierte und in diesem Sinne Mangelhafte als solches zu markieren.

Totalitäre Potentiale

Alex Pentland, MIT-Professor, Google-Berater und bekannt als “Godfather der Wearables” (The Verge), macht diese grenzwertige Logik mit Blick auf das sogenannte “real-time flu tracking” in seinem Bestseller Social Physics besonders anschaulich:

“Die Fähigkeit, Krankheiten wie die Grippe auf individueller Ebene zu tracken, böte uns echten Schutz gegen Pandemien, weil wir Schritte unternehmen könnten, um infizierte Menschen zu erreichen, noch bevor sie die Krankheit verbreiten. Das ‘real-time flu tracking’ würde funktionieren, indem man Informationen zweier Quellen miteinander verbindet: Erstens Daten über die Änderungen im Verhaltensmuster von Individuen (…); und zweitens Standortdaten, denn physische Interaktionen mit anderen bilden die Hauptmechanismen für die Ausbreitung ansteckender (…) Krankheiten.”

Das über die permanente Datenerhebung via Wearable aufgezeichnete Wissen ließe sich darüber hinaus so dazu verwenden, jedem Individuum eine ‘Krankheitswahrscheinlichkeit’ zuzurechnen, sodass schließlich in Echtzeit Karten zu erstellen wären, in denen kranke Individuen besser erkannt und gesunde abgesteckte No-Go-Areas meiden könnten. Pentland geht es bei solchen Gedankenspielen um eine erhöhte “soziale Effizienz”, um eine “data-rich society” – eine Gesellschaft, die im Namen der Gesundheit eine stetige Kontrolle und ständige Überwachung installiert (eine Studie mit 200.000 FitBit-UserInnen zur wearable-basierten Identifizierung von Grippekrankheiten, d.h. “real-time surveillance of influenza-like illness”, wurde gerade veröffentlicht). Was hier mit der Faszination der Machbarkeit aufgeladen wird, lässt jedoch schnell totalitäre Potentiale erahnen.

Spätestens vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass digitale Devices keine bloßen Alltagsgegenstände sind, die dienstbeflissen helfen, das Leben besser zu organisieren, den Körper zu formen oder die Gesundheit zu fördern; sie sind Vorboten einer möglichen Gesellschaft. So könnte die technikphilosophische Einsicht, dass kein Mittel nur ein isoliertes Mittel beschreibt, sondern stets in Relationen, Interessen, Ziele und soziopolitische Kontexte eingebunden und, wie der Technikphilosoph Günther Anders es beschrieb, “durch die bloße Tatsache seines Funktionierens bereits eine Weise seiner Verwendung ist”, neue Schlussfolgerungen eröffnen. Denn es ließe sich erkennen, dass eine bestimmte Technik eine bestimmte Nutzung nicht determiniert, aber vorstrukturiert; dass eine Technik, die jeden Schritt und Pulsschlag misst, vernetzt und kontrolliert, die auf eine numerische Steigerungslogik zielt, ein spezifisches Verhaltensmuster nahe und immer näher legt und damit ganz grundsätzlich, wie Anders erklärte, “immer schon ein bestimmtes Verhältnis zwischen uns und den Mitmenschen, zwischen uns und den Dingen, zwischen den Dingen und uns voraussetzt oder ‘setzt’.” Technik ist, um ein bekanntes Bonmot zu paraphrasieren, weder gut noch schlecht, doch sie ist keineswegs neutral. Heute, in Zeiten invasiver Sensorik und ubiquitärer Vernetzung, vielleicht weniger denn je.

Ein emanzipativer Gebrauch von Technik

Obgleich Technik also nicht neutral ist, obgleich man sich mit ihrer Verwendung immer auch in ein bestimmtes Selbst- und Weltverhältnis ein- und dieses beständig fortschreibt, hieße es zugleich, einer einseitigen Ablehnung des Technischen vorzubeugen. Denn ohne prothetische Verlängerungen, ohne Hilfsmittel und technische Erweiterungen ist die menschliche Existenz kaum denkbar. Die Freiheit des Menschen besteht daher nicht in der Abkehr von der Technik und der Flucht in ein illusionäres vor-technisches Habitat. Sie bestünde in der Fähigkeit und dem Versuch, angesichts der Machbarkeitsethik der Monopolisten und einiger Forscher*innen, den Möglichkeitssinn zunächst auf die Gestaltung einer anderen Technik zu richten; einer Technik, die demokratischer und vielstimmiger verfasst wäre.

So ließen sich durchaus Alternativen denken, die die Stichworte der Datensouveränität, der Commons, der Transparenz und Dezentralität wirklich beherzigen und den überwachungskapitalistischen Praxen der Tech-Konzerne widersprechen. Midata.coop etwa, eine dem Genossenschaftsmodell folgende Plattform, auf der der/die Einzelne Gesundheitsdaten verwalten, aber auch mit Ärzt*innen und Forscher*innen teilen kann, wäre eine solche. Hier entscheidet jeder selbst, für welche Zwecke die sensiblen (auch mit dem Wearable gesammelten) Daten verwendet werden sollen, wer Zugang zu diesem Pool erhält und wer nicht. Midata.coop versucht so, die Prinzipien der informationellen Selbstbestimmung mit den Möglichkeiten von Big Data zu verbinden, bietet eine Art Gegenmodell zu der elektronischen Patientenakte (ePA) oder einer zentralen Datenbank aller gesetzlich Versicherten, wie sie Jens Spahn – “Hacker hin oder her” – derzeit plant. Zudem unterstützt sie BürgerInnen mit einer vergleichsweise – auf dem Hackerkongress 36C3 Ende Dezember wurde wieder einmal gezeigt, dass ePA unter erheblichen Datenschutzmängeln ‘leidet’ – sicheren Infrastruktur bei der Gründung von kommunalen, regionalen oder nationalen Kooperativen. Solche Initiativen skizzieren Möglichkeiten, wie sich einerseits der Datenrausch unserer Tage selbstbestimmt demokratisieren ließe, Daten individuell geschützt, aber kollektiv genutzt werden könnten, und wie man andererseits weder der digitalen Totalisierung noch den Ambitionen einzelner Player auf den Leim gehen müsste.

Darüber hinaus gälte es im Zeichen einer wirklich emanzipativen, progressiven Politik aber auch ganz grundlegend, ein anderes kritisches Denken ins Werk zu setzen; ein Denken, das sich angesichts der Verfahren individueller Profilierung und der numerischen Erfassung der Existenz in Unfügsamkeit übt. Denn anstatt das Individuum als technisch Berechenbares und Verwertbares zu bestimmen, hieße es immer auch, die Wirkmächtigkeit der technischen Berechnungen selbst zu befragen: Wo schränken sie ein, wo schneiden sie auf Bestimmtes zu? Wo verhärten ihre Systeme so sehr, dass man ein Anderes weder verstehen noch sich vorstellen kann? Wann verführt das Technisch-Mögliche die realen Gegebenheiten so nachhaltig, dass seine Folgen und Auswirkungen unreflektiert bleiben?

Oder, konkreter gefragt: Helfen uns Tracking-Technologien aus dem Valley wirklich, eine neue Form der Freiheit, gar eine intensive Autonomie zu erfahren oder normalisieren wir mit ihnen nicht auch einen so anschmiegsamen wie enganliegenden Modus ständiger Kontrolle?

In einer Zeit, in der Zukunftsvorstellungen immer auch an smarte Herstellungen gebunden scheinen, in der uns die tragbare Kontrolle immer nachhaltiger auf den Leib rückt, wird sowohl die Herausforderung als auch ein utopisches Moment darin bestehen, dass wir die Welt, in einer Abwandlung von Marx, nicht nur immer weiter verändern, sondern sie auch wieder verstärkt interpretieren; dass wir uns nicht nur der digitalen Aufklärungsapparaturen bedienen, sondern uns über diese aufklären. In dem Versuch, die “Elastizität unseres Vorstellens und Fühlens den Größenmaßen unserer eigenen Produkte anzumessen” (Günther Anders), das Gemachte mit seinen Möglichkeiten, aber auch seinen Verfänglichkeiten zu verstehen, steckt noch immer großes emanzipatives Potential – ein Potential, um die Welt schließlich anders zu verändern.

Dieser Essay basiert in Teilen auf dem fünften Kapitel des kürzlich erschienenen Buches “Die Gesellschaft der Wearables” (Nicolai Publishing and Intelligence).


Autor*innen

Anna-Verena Nosthoff ist Autorin, Philosophin und politische Theoretikerin. Derzeit lehrt sie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und forscht zur Kybernetisierung des Politischen bzw. den politischen Konsequenzen der Digitalisierung. Neben akademischen Publikationen schreibt sie regelmäßig Essays u.a. für die Republik, NZZ, Spex und FAS. Zuletzt erschien ihr Buch “Die Gesellschaft der Wearables” im Nicolai Verlag (2019, geschrieben mit Felix Maschewski).

Felix Maschewski ist Literatur-, Kultur- und Wirtschafts­wissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftsgestaltung Berlin und Mitglied des PhD-Nets “Das Wissen der Literatur” der Humboldt-Universität zu Berlin/Princeton University. Als freier Autor schreibt er regelmäßig Essays u.a. für die FAS, Republik, NZZ, Spex, Agora42. Zuletzt erschien von ihm das Buch “Die Gesellschaft der Wearables” im Nicolai Verlag (2019, geschrieben mit Anna-Verena Nosthoff).

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