Aus dem 9. Teil der was wäre wenn-Reihe:
Was wäre, wenn die Gesundheitsversorgung frei wäre?
Gesundheitspolitik ist Generationenpolitik. Wir werden alle immer älter, damit verbunden sind andere Ansprüche und Erwartungen. Wie wollen die Menschen altern? Wer sorgt für sie? In der Vergangenheit waren oft Altersheime die Antwort, es war eine institutionelle Antwort auf individuelle Fragen und Probleme. Wie viele Institutionen sind auch die Altersheime in eine Art von Sinnkrise gekommen. Wollen wir das, als Gesellschaft, das Alter outsourcen, sozusagen? Aber was ist die Alternative?
Bei dieser Frage kommt man schnell zu einem Dilemma unserer Zeit: Wir suchen nach individuellen Antworten auf gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen, und Altersversorgung ist hier nur ein Beispiel, beim Klimaschutz, bei den Arbeitsrechten, in vielen Bereichen ist es ganz ähnlich – was allerdings fehlt, ist eine wirklich tragfähige gedankliche, ideelle, ideologische oder politische Grundlage für diese Überlegungen.
Anders gesagt: Im Zeitalter des pragmatischen Individualismus, wie es der Kapitalismus uns beschert hat, gibt es ein Missverhältnis von Anspruch und Verantwortung. Das Ergebnis ist ein vampirisches Gefühl der Überforderung, was auch und besonders die Frage der Altersversorgung betrifft.
Die Umkehr der Sorge
Ein Beispiel: Ein Sohn ringt sein Leben lang damit, dass er autonom oder autark sein will von seinen Eltern. Sie ermöglichen ihm viel, durch Geld, sie geben ihm wenig an Liebe und Vertrauen. Es bleibt ein lebenslanges Ungleichgewicht zwischen dem Anspruch der Eltern, die die Liebe ihres Sohnes wie eine Art Unterwerfung einfordern, und dem Streben des Sohnes danach, sich aus dieser Umklammerung zu lösen.
Dieser Prozess dauert Jahre, Jahrzehnte, es ändern sich die Umstände, Studium, Beruf, Ehe, Kinder, die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Sohn und Eltern verlieren für eine Weile an Schärfe, sie teilen sich auf und werden erträglicher. Aber sie sind nie fort. Und mit dem Alter der Eltern setzen sie wieder ein, mit anderer Dringlichkeit und Dynamik.
Jetzt sind es die Eltern, die klare Forderungen stellen: Wir sind alt, wir sind einsam, wir haben für dich gesorgt, nun wirst du für uns sorgen. Manchmal wird das sehr klar formuliert, manchmal ist es eher eine Projektion des Sohnes, der Kinder, die diese Sehnsucht der Eltern aufnehmen, auch weil sie wollen, in manchen Fällen, auch weil sie denken, dass sie können, was oft ein Irrtum ist.
Das Szenario geht dann so weiter: Die Eltern ziehen in die Nähe des Sohnes, der Kinder, diese Kinder wiederum sind selbst oft noch Eltern, weil sie spät Kinder bekommen haben, wie es heute oft der Fall ist. Sie stehen in der Mitte ihres Lebens, die Fliehkräfte der eigenen Ehe sind spürbar, die Anforderungen als Eltern, die ökonomischen Engpässe, die beruflichen Herausforderungen, Karriereknick, Stagnation oder eben gerade Neustart und Höhenflug – alles in allem ein ziemliches Durcheinander.
Altern in der post-industriellen Gesellschaft
Natürlich könnte es auch ein Ideal sein. Das Drei- oder Mehr-Generationen-Haus als Gegenwartsversion einer Form von Fürsorge, wie sie früher und vor allem in ländlichen Gegenden eher die Regel war, damals aber aus Tradition und anderen Zwängen eher weniger freiwillig definiert.
Das ist der Unterschied zu heute, wo diese Freiwilligkeit ein entscheidendes Element ist, das, so das Versprechen, viele Teile des Lebens regelt. Ob das tatsächlich so der Fall ist, das ist eine andere Frage. Oder auch nicht. Womöglich ist es die gleiche Frage, denn das Versprechen von individueller Wahl ist ja gerade an die Zwänge eines gesellschaftlichen und ökonomischen Systems gebunden, das diese Versprechen oft einschränkt.
Für die Generationenpolitik bedeutet das sehr konkret: Wir brauchen eine Debatte darüber, wie das Altern in der post-industriellen Gesellschaft aussehen soll – eine Debatte, die verknüpft ist einerseits mit den wesentlichen Fragen einer Gesellschaft mit anderen Arbeitsbedingungen und den Herausforderungen und Möglichkeiten der Robotik und Künstlichen Intelligenz, sehr konkret der Frage von Pflege von alten Menschen durch Maschinen.
Und andererseits muss es eine Debatte sein, die daraus Antworten zu finden versucht auf die grundlegenden Fragen des menschlichen Zusammenlebens, ausgehend nicht von Pflicht und Tradition, sondern von der Prämisse der Freiheit – und damit wird aus dieser Debatte auch eine über die Familie als Grundlage und Kern von Gesellschaft.
Vielfältige Generationenkonflikte
Wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen gab es in dieser Frage schon mal weitergehende Debatten, die mit Abschaffung und Auflösung der nuklearen Familie als Kernzelle des Kapitalismus und der bürgerlichen und so empfundenen Zwangsordnung zu tun hatten.
Es ist schwierig, an diese Debatten direkt anzuknüpfen, die seit den 1960er Jahren immer wieder geführt wurden; die Herausforderung wäre es, diese Debatten in die heutige Zeit zu führen, mit heutigen Fragen, mit heutiger Sensibilität und Erwartung, heutigen politisch-ökonomischen Fakten: Was wäre eine Alternative zum Generationenvertrag, wie er heute praktiziert wird?
Diese Frage verbindet sich mit drängenden anderen Generationsdebatten, die die Gesellschaft durchziehen und oft spalten. Am deutlichsten ist das in der Klimadebatte, wo die Wut der Jungen auf die Alten oder Mittelalten verständlich ist. Sie haben das ganze Schlamassel angerichtet durch ihre Fixierung auf Wachstum und Konsum und die Ausbeutung der Erde, was dazu führen könnte, dass der Generationenvertrag von den Jungen einseitig aufgekündigt wird.
Aber auch in anderen zentralen gesellschaftlich-politischen Debatten werden die Argumente oft entlang von Altersgrenzen geführt. Der Brexit ist so ein Beispiel, wo die älteren Wähler*innen sich mit ihrer regressiven Version von Zukunft gegen die jüngeren und oft urbanen Wähler*innen durchgesetzt haben. Die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich spiegelt dieses Land-Stadt-Problem auf andere Art, auch hier sind es im Grunde ein Konflikt der Generationen, die Jungen verlassen das Land und gehen in die Stadt, die Alten bleiben zurück, es entstehen Wut und Einsamkeit.
Wenn diese Debatten nicht offen und offensiv geführt werden, drängt das Unbehagen an anderen Stellen durch, und oft auf eine panisch-trivialisierte Art wie in der Schrumpfdebatte um das “Umweltsau”-Lied des WDR – der Vorwurf war “Altersdiskriminierung”, dabei machte das Lied ja nur deutlich, auf Grundlage von Fakten, Tatsachen, dem Konsum und dem Klimaschaden der Generation der 50- bis 80-Jährigen, dass die ältere Generation für die Klimakatastrophe verantwortlich ist.
Emanzipatorische Perspektive
Was wäre also, ganz im Geist dieses Magazins, eine andere Generationenverbundenheit, die die gegenseitige Verantwortung beachtet, sich an den gegenwärtigen Konfliktlinien orientiert, Altern, Klima, Zukunft, Wachstum, Nachhaltigkeit, und sich ausgehend von der individuellen Frage nach Nähe, Liebe, Zuneigung auffächert in andere Möglichkeiten von Wohnen, Pflege und wiederum Nähe und Liebe?
Diese Diskussion ist eingebettet in weitere gesellschaftliche Diskussionen über die Rolle und Verantwortung des Individuums, das Ausmaß kapitalistischer Kontrolle über wesentliche Prozesse unseres Lebens, eine andere Vision von Staat, die weniger institutionell und mehr bürgerschaftlich ist, die Fragen von Rassismus, Gender-Ungleichheit und jeder anderen Form von Diskriminierung, einem anderen Verständnis von Arbeit und letztlich dem, was das gute Leben ausmacht.
Eine emanzipatorische Gesellschaft würde den Einzelnen befreien von der direkten Verantwortung für die Eltern, implizit oder explizit; die Offenheit wäre da, aber keine Verpflichtung. Das ist das Gegenteil von Kälte. Es ist eine Empathie, die von der Prämisse und der Möglichkeit von Freiheit ausgeht.
Autor*in
Georg Diez ist Journalist und Buchautor. Er schrieb die Kolumne „Der Kritiker“ auf Spiegel Online, war Nieman Fellow in Harvard und ist Mitgründer der Graduierten-Schule School of Disobedience, die Seminare im Grünen Salon der Berliner Volksbühne anbietet. Zuletzt erschien von Diez “Das andere Land. Wie unsere Demokratie beschädigt wurde und was wir tun können, um sie zu reparieren”.
Was wäre, wenn…
… die Gesundheitsversorgung frei wäre?
Im 9. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Gesundheitsversorgung. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alternativen für die Gesellschaft sichtbar zu machen und potenzielle Lösungen ins Zentrum zu rücken.
Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.
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