Innovationen statt Profite: Wir brauchen eine Reform der Pharma-Forschung

Weil wirtschaftliche Interessen die Industrie bestimmen, werden lebensentscheidende Arzneimittel oft nicht produziert oder sind unbezahlbar. Zeit für ein System, das dem Menschen dient. Ein Text von Paul Schnase.
pharma entwicklung krakheit
Aus dem 9. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn die Gesundheitsversorgung frei wäre?

Befragt man Ärztinnen oder Patientinnen, zu welchem Zweck neue Medikamente entwickelt werden, scheint die Antwort klar: Medikamente sollen Krankheiten heilen und Menschen gesund machen. Auch die Antwort der Industrie auf diese Frage wird ähnlich ausfallen. Jedoch muss diese Antwort um die ehrliche Aussage ergänzt werden, dass Pharmaunternehmen mit ihren Produkten in erster Linie Profite erwirtschaften wollen und auch müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Pharmaunternehmen stehen somit vor der Herausforderung, ihr unternehmerisches Profitinteresse mit dem Interesse der Gesellschaft nach neuen, wirksamen und bezahlbaren Medikamenten in Einklang zu bringen. Dabei verlaufen die Interessen teils gegenläufig, denn nicht immer sind jene Medikamente, die die Menschheit aus gesundheitlicher Sicht am dringendsten benötigen würde, für die Industrie am profitabelsten. So kommt es vor, dass Medikamente, die wir eigentlich dringend benötigen, von der Industrie nicht hergestellt werden.

Der Status quo und seine Schwächen

Bevor ein Medikament als Tablette, Creme oder Spritze zu uns gelangt, hat es einen langen Weg hinter sich. Pharmazeutische Forschung ist dabei meist zeitaufwendig und kostenintensiv. Die Entwicklung eines einzelnen Medikaments dauert im Schnitt ca. 13,5 Jahre, wobei nur etwa einer von zehn Wirkstoffen letztendlich auch als Arzneimittel zugelassen wird. Die durchschnittlichen Kosten für die Entwicklung eines Medikaments liegen laut Aussagen der Industrie zwischen 1 und 1,6 Mrd. US Dollar. Diese Angaben sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, da hier oft auch Ausgaben für Marketing sowie Opportunitätskosten (also entgangene Gewinne, die das Unternehmen nicht gemacht hat, weil es Kapital für Forschung gebunden hatte und dieses z.B. nicht anlegen konnte) eingerechnet sind. Die Kosten, die Unternehmen tatsächlich für Forschung und Entwicklung ausgeben, insbesondere die Kosten von klinischen Studien, werden meist nicht preisgegeben und sind damit nur schwer überprüfbar. Den Angaben der Industrie stehen zudem die Entwicklungskosten kleinerer not-for-Profit Forschungsinitiativen und Produktentwicklungspartnerschaften, wie der Drugs for Neglected Diseases Initiative (DNDi) entgegen. Diese entwickelte beispielsweise Fexinidazol, ein Medikament zur Bekämpfung der Schlafkrankheit, für 55 Mio. US-Dollar – einen Bruchteil der üblicherweise behaupteten Summe.

Um Unternehmen die Forschungsinvestitionen schmackhaft zu machen, versucht der Staat Anreize zu schaffen. Im aktuellen Modell greift er hierfür auf Patente zurück. Ein solches sichert dem Patenthalter für mindestens 20 Jahre das alleinige Recht auf Herstellung und Vertrieb der Erfindung zu und gewährt ihm damit ein faktisches Monopol. Dieses Monopol wird durch internationale Abkommen (z.B. TRIPS) auch in anderen Ländern geschützt, sodass der vom Hersteller verlangte Preis nicht durch Generika-Hersteller aus anderen Ländern unterboten werden kann. Ein Medikament rentiert sich demnach besonders, wenn das Unternehmen innerhalb der Patentlaufzeit möglichst hohe Umsätze damit erzielt.

Hohe Kosten durch Patente

Neue Wirkstoffe zu patentieren soll somit helfen, die Kosten für Forschung und Entwicklung über den Markt zu decken. Eine unvermeidbare Nebenwirkung dieser Praxis sind jedoch monopolistische Märkte mit Preisen, die höher sind als in ausgeglichenen Wettbewerbsmärkten. Denn das patentbasierte Anreizsystem erlaubt es den Pharmaunternehmen, teils astronomische Preise zu verlangen. Oft mit tödlichen Folgen, denn durch die hohen Preise der patentgeschützten Therapien werden diese aus der Reichweite von Patient*innen in Low-Income-Countries gerückt.

Aktuell geschieht dies zum Beispiel im Fall von Sofosbuvir, einem Wirkstoff zur Behandlung von Hepatitis C, für den der Hersteller Gilead nach der Markteinführung 84.000 Dollar für eine Therapie verlangte. Für ein Land wie die Mongolei, mit der weltweit höchsten Hepatitis C-Rate, bedeutet dies, dass mehr als zwanzigfache eines durchschnittlichen Jahreseinkommens. Auch wenn der Preis in vielen Ländern mittlerweile gesunken ist, liegt er für viele Patient*innen noch zu hoch.

Die hohen Kosten patentgeschützter Medikamente sind jedoch nicht nur in Low-Income-Countries problematisch, sondern werden zunehmend auch für die gut finanzierten Gesundheitssysteme der Industriestaaten zur Herausforderung. Die Ausgaben der deutschen gesetzlichen Krankenkassen für Arzneimittel sind laut Angaben des GKV-Spitzenverbandes seit 2014 um durchschnittlich 1,3 Mrd. Euro pro Jahr gestiegen und haben sich seit 2000 mehr als verdoppelt. Wesentliche Kostentreiber sind dabei patentgeschützte Arzneimittel. Ein extremes Beispiel, das kürzlich für Diskussionen sorgte, ist Zolgensma, eine Gentherapie des Pharmakonzerns Novartis für Kinder mit Spinaler Muskelatrophie. Diese wurde Anfang 2019 in den USA zugelassen und kam zum Preis von 2 Millionen Dollar pro Anwendung auf den Markt.

Mangelnde Innovationen

Zu den hohen Preisen gesellt sich ein weiteres entscheidendes Problem des patentbasierten Anreizmodells. Unsere pharmazeutische Forschungslandschaft hat in wichtigen Bereichen erhebliche Innovationsdefizite zu verzeichnen. Das liegt daran, dass Unternehmen dazu angehalten sind, Forschungskosten über Umsätze auszugleichen. Gleichzeitig stehen sie unter dem Druck für Aktionäre profitabel zu erscheinen, deren kurzfristiges Interesse nach Wertsteigerung mit dem längerfristigen gesellschaftlichen Interesse nach medizinischen Innovationen in Konflikt geraten kann. Um ihr Risiko zu minimieren und möglichst profitabel zu wirtschaften, investieren Unternehmen deshalb verstärkt in bereits etablierte Bereiche sowie in Forschung für Arzneimittel, die hohe Profite versprechen – sprich: Arzneimittel für Krankheiten, die vorwiegend vermögende Bevölkerungen betreffen und über einen langen Zeitraum hinweg regelmäßig eingenommen werden müssen. Beliebt sind unter anderem chronische Krankheiten und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Die übermäßige Konzentration auf diese Bereiche hat zur Folge, dass es sich bei vielen der neu zugelassenen Medikamente nicht um innovative Durchbrüche handelt, sondern um relativ geringfügige Modifikationen bestehender Präparate ohne eigenen therapeutischen Mehrwert. Diese werden “Me-too”-drugs genannt, weil sie dem Originalpräparat bis auf geringfügige Molekülvariationen ähneln, aber ebenfalls eigenen Patentschutz genießen. So gibt es aktuell mehr als 15 verschiedene Beta-Blocker, sieben Statine zur Senkung des Cholesterinspiegels und über 30 Antidiabetika. Studien, die die klinische Bedeutung neuer Medikamente in den letzten Jahrzehnten untersuchten, verzeichnen durchweg einen negativen Trend. So bemängelt auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG), dass über die Hälfte, der seit 2011 in Deutschland auf den Markt gekommenen Arzneimittel keinen erkennbaren Zusatznutzen in der frühen Nutzenbewertung vorweisen konnten.

Während an einigen Krankheiten also verhältnismäßig viel geforscht wird, ist die Forschungspipeline in vielen wichtigen Bereichen ausgetrocknet. Ein gravierendes Beispiel sind die sogenannten “vernachlässigten Krankheiten”, wie beispielsweise Lepra, Tollwut oder Dengue Fieber, die weltweit über eine Milliarde Menschen betreffen – vor allem in Ländern des Globalen Südens. Trotz der enorm hohen Patient*innenzahl – immerhin fast ein Siebtel der Weltbevölkerung – entfällt nur ein Bruchteil der pharmazeutischen Forschung weltweit auf diese systematisch vernachlässigten Krankheiten. Im Zeitraum von 2000 bis 2011 waren es lediglich ein Prozent der neu zugelassenen Wirkstoffe. Dies liegt daran, dass die Betroffenen meist nicht über ausreichend Kaufkraft verfügen und somit keine profitable Zielgruppe für Pharmaunternehmen darstellen.

Diese “Forschungslücke” betrifft aber nicht nur Low-Income-Countries, denn Phänomene wie Antibiotikaresistenzen werden unabhängig vom Einkommensniveau zunehmend zu einer Gefahr, der wir nur gewachsen sind, wenn wir neue, wirksame Antibiotika entwickeln. Obwohl die Ausbreitung resistenter Keime eine der größten globalen Bedrohungen darstellt, ziehen sich immer mehr Pharmaunternehmen aus diesem Bereich zurück. Denn die Forschung an Antibiotika ist aufwendig und wenig rentabel, da ein neuer Wirkstoff möglichst sparsam eingesetzt werden sollte, um weitere Resistenzbildungen zu vermeiden. Das macht es für die Industrie wenig attraktiv: Während sich 2016 noch etwa 100 Pharmaunternehmen öffentlichkeitswirksam zu mehr Forschung an Antibiotika verpflichtet hatten, ist über die Hälfte dieser Unternehmen mittlerweile komplett aus dem Bereich ausgestiegen.

Marktversagen durch falsche Anreize?

Eine wichtige Funktion von Forschungsanreizen ist es, die Forschungsschwerpunkte der Unternehmen gemäß den gesellschaftlichen Bedürfnissen zu lenken. Unser aktuelles, patentbasiertes System erfüllt diese Funktion nicht. Im Gegenteil werden vor allem Anreize für profitorientierte, statt für bedarfsorientierte Forschung geschaffen, mit der Folge, dass wir ein Überangebot an “Me-too”-Präparaten mit klinisch zweifelhaftem Zusatznutzen haben und es gleichzeitig für dringende medizinische Bedarfe kein passendes Angebot gibt. Vereinfacht gesagt, liegt hier ein klassisches Marktversagen vor. Hinzu kommt ein politisches Versagen, denn obwohl das Problem bekannt ist, scheint eine systematische Lösung weit entfernt.

Dass Unternehmen im Rahmen der Strukturen und Anreize, die sie vorfinden versuchen, ihren Nutzen zu optimieren und möglichst hohe Profite zu erwirtschaften, kann ihnen nicht vorgeworfen werden. Wenn das Resultat dessen aber unseren medizinischen Bedarf nicht mehr deckt, müssen wir uns als eine Gesellschaft, in der wir die Kosten für medizinische Versorgung und Arzneimittel öffentlich finanzieren, wieder die eingangs erwähnte Frage stellen: Zu welchem Zweck sollen neue Medikamente entwickelt werden? Der Implizite Vertrag zwischen Unternehmen und Gesellschaft lautet hierbei: “Ihr liefert uns die benötigten medizinischen Innovationen und wir geben euch über die Krankenkassen die Garantie, dass euer Produkt (sofern zugelassen) gekauft wird.”

Dieser implizite Vertrag kann durch das patentbasierte Anreizmodell in vielen Bereichen nicht erfüllt werden. Derzeit versuchen politische Entscheidungsträger*innen noch durch immer höhere Schutzniveaus für Patente oder die Absenkung von Zulassungshürden stärkere Anreize für Innovationen zu schaffen. Dieser Ansatz zeigt jedoch nicht die gewünschte Wirkung und wirkt teils sogar kontraproduktiv.

Zu diesem Schluss gelangte auch Daniel Vasella, ehemals CEO von Novartis, einem der größten Pharmaunternehmen der Welt. In einem Interview mit der Financial Times gestand er, dass wir für nachhaltige medizinische Innovationen vom gegenwärtigen Forschungsmodell Abstand nehmen müssen und sagte: “Sie können nicht erwarten, dass eine gewinnorientierte Organisation hier im großen Maßstab tätig wird. Wenn Sie ein System aufbauen wollen, bei dem Unternehmen systematisch in diesen [vernachlässigten] Bereich investieren, brauchen Sie ein anderes System.” Ein solches alternatives System muss bei den Forschungsanreizen ansetzen, denn eine grundlegende Lösung des Problems wird uns nur dann gelingen, wenn wir die Art und Weise ändern, wie wir biomedizinische Forschung und Entwicklung finanzieren.

Ein alternativer Ansatz

Ein alternatives Modell muss gewährleisten, dass hohe Forschungskosten nicht in hohen Preisen resultieren. Das Zauberwort hierbei lautet: De-Linkage – also die Entkopplung der Forschungskosten vom Produktpreis. De-Linkage-Modelle beruht dabei auf zwei getrennten Wettbewerbsmärkten für Vertrieb einerseits und für Forschung und Entwicklung andererseits.

Im Forschungs- und Entwicklungsmarkt werden Unternehmen durch ausgeschriebene Forschungsgelder für innovative Ergebnisse umfangreich kompensiert. Auf fertige Wirkstoffverbindungen würden hierbei entweder keine Patente erteilt werden oder die Patente für weitere Forschung oder Vermarktung öffentlich bereitgestellt werden. Wie bereits jetzt schon, im Falle abgelaufener Patente, würde dadurch ein wettbewerbsfähiger Herstellungs- und Vertriebsmarkt mit niedrigen Generikapreisen geschaffen werden.

Die naheliegende Frage lautet: Wie soll ein solches System finanziert werden? Kritiker*innen betonen oft, dass staatliche Forschung als träge gilt und der Staat im Vergleich zur Privatwirtschaft nicht zu großen Innovationssprüngen im Stande sei. Bei De-Linkage-Modellen geht es jedoch mitnichten um “Staatsforschung”. Vielmehr wird ein Teil des Geldes, das wir aktuell im Rahmen der Krankenkassen-Erstattungsbeträge ohnehin zahlen, an früherer Stelle ausgegeben, um effizientere medizinische Forschung zu ermöglichen. Die Forschenden – und nach wie vor gut vergüteten – Akteure bleiben dabei die Unternehmen.

Oft heißt es zudem, der Staat habe nicht die finanziellen Möglichkeiten, die private Investoren bieten. Analysen zu weltweiten Arzneimittelausgaben zeigen, dass die Aufwendungen zwar variieren, aber sowohl in Industrieländern wie auch in Low-Income-Countries etwa ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen. Im Falle Deutschlands beispielsweise lagen die Ausgaben für Arzneimittel nach Angaben des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) 2018 bei etwa 38,68 Mrd. Euro, bei einem BIP von 3,38 Billionen Euro. Es wäre denkbar diesen Betrag als Grundlage für eine feste Summe zu nehmen, die für Forschung und Entwicklung bereitgestellt wird. Die Forschungsausgaben der deutschen Pharmahersteller liegen nach Angaben des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (der Spitzenverband der Branche) bei etwa 6,2 Mrd. Euro pro Jahr.

Gezielte Forschungsförderung

Die aufgebrachten Kosten für die Forschungsanreize könnten durch die erzielten Senkungen der Arzneimittelpreise langfristig mehr als ausgeglichen werden, was insgesamt erhebliche Einsparungen erzielen würde. Die eigentliche Herausforderung bei der Schaffung eines effektiven Forschungs- und Entwicklungsmarktes für Arzneimittel besteht darin, tragfähige und zielgerichtete Anreizmodelle zu finden, die gleichzeitig gewährleisten, dass Arzneimittel bei der Markteinführung bezahlbar sind. Hierfür kann auf die sogenannten “drei-P-Mechanismen” zurückgegriffen werden: Push, Pull und Pool.

Push und Pull-Mechanismen beschreiben dabei jeweils unterschiedliche Varianten von Anreizsetzung. Während Push-Mechanismen Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten im Voraus bezahlen und damit einen Forschungsanstoß leisten, setzen Pull-Mechanismen Investitionsanreize, indem sie für bestimmte Entwicklungen profitable Preise in Aussicht stellen.

Ein einfacher Push-Mechanismus könnte in Form eines Fonds zur Finanzierung von Arzneimittelforschung erfolgen, der für Unternehmen bereitgestellt wird, die neue Produkte entwickeln und auf den Markt bringen wollen. Bereits jetzt investiert der Staat im umfangreichen Maße in die Arzneimittelforschung. Sei es durch umfangreiche Förderprogramme z.B. für klinische Studien oder im Rahmen der medizinischen Grundlagenforschung, die zum überwiegenden Teil an Universitäten und öffentlichen Forschungseinrichtungen stattfindet. Die universitäre und öffentliche Grundlagenforschung bildet dabei schon heute eine wichtige Basis für die kommerzielle Forschung in Pharmaunternehmen, die einen Großteil ihrer Wirkstoffpatente aus der öffentlichen Grundlagenforschung beziehen. Eine Ausweitung direkter Finanzierungsmechanismen bedarf somit keiner umfangreichen neuen Strukturen. Regierungen können bereits bestehende Strukturen im akademischen Bereich nutzen oder gezielt diejenigen Abteilungen in Unternehmen fördern, die sich mit der Entwicklung wichtiger Innovationen beschäftigen. Eine ähnliche Form der gezielten Finanzierung von Arzneimittelentwicklung findet in Deutschland bereits seit einiger Zeit statt. Im Rahmen der Förderung von Produktentwicklungspartnerschaften werden diese für die Erforschung von Behandlungen für vernachlässigte Krankheiten oder Malaria und Tuberkulose gezielt finanziert.

Möglichkeiten der Kooperation

Pull-Mechanismen werden von Wirtschaftswissenschaftler*innen auch als Preismodelle bezeichnet. In einer einfachen Ausgestaltung könnte ein Teil des veranschlagten Forschungsbudgets dafür genutzt werden, für bestimmte, dringend benötigte, Arzneimittel Preise auszuschreiben. Unternehmen können dann entweder alleine oder im Verbund mit anderen das Arzneimittel entwickeln und dafür den Preis erhalten. Mit Belohnungssystemen könnten gezielt Anreize gesetzt werden, indem für innovative Produkte höhere Prämien vorgesehen werden, während für “Me-too”-Produkte, lediglich kleinere Auszahlungen möglich sind. Für neu entdeckte Wirkstoffklassen oder besonders innovative Therapien, die Behandlungslücken schließen, könnten zusätzliche Prämien gewährt werden.

Durch den Pool-Mechanismus wird schließlich sichergestellt, dass die Forschungsergebnisse auch verfügbar sind. Sofern bei De-Linkage-Modellen ein Forschungsergebnis patentiert wird, wird es in einem gemeinsamen Patentpool bereitgestellt, der sowohl für Generikahersteller zugänglich ist, um die Medikamente kostengünstig herstellen zu können, als auch für Unternehmen und Einrichtungen, die auf Grundlage der Patente weitere Forschung betreiben wollen.

De-Linkage kann somit beide Probleme des patentbasierten Modells lösen. Es entschädigt die Unternehmen für deren Forschungsauslagen separat, sodass diese ihre Investitionen nicht mehr über hohe Medikamentenpreise ausgleichen müssen. Medikamente können auf dem von den Forschungskosten entkoppelten Herstellungs- und Vertriebsmarkt von Generikaherstellern im freien Wettbewerb zu niedrigeren Marktpreisen angeboten werden. Gleichzeitig ermöglicht De-Linkage eine gezieltere Anreizsetzung. Arzneimittelentwicklungen, die dringend benötigt sind, können mit Prämien versehen werden, damit Unternehmen dort forschen, wo der tatsächliche Gesundheitsbedarf am größten ist. Marginale Verbesserungen von bereits umfassend erforschten Therapien durch “Me-too”-Drugs sowie Erfindungen mit fragwürdigem Zusatznutzen würden reduziert werden.

Ein weiterer Vorteil des De-Linkage-Systems ist sein kooperativer Ansatz. Während das Patentsystem stark auf Konkurrenz setzt und Unternehmen dazu anhält, Wettbewerber von der Nutzung eines Wirkstoffs auszuschließen, können durch De-Linkage-Preise an verschiedene Akteure ausgeschüttet werden und somit mehrere Unternehmen gemeinsam an der Entwicklung eines Wirkstoffs beteiligt sein. Zudem kann der gemeinsame Patentpool als Katalysator für Forschungs- und Entwicklungskooperationen dienen und somit die Expertise verschiedener Akteure genutzt werden.

Wenn wir den gesundheitlichen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte gewachsen sein wollen, müssen wir darüber sprechen, wie wir die Kontrolle über die Kosten für Arzneimittel zurückerlangen und medizinische Innovationen dort fördern, wo sie dringend benötigt sind. Mit De-Linkage-Ansätzen können wir dafür sorgen, dass die nötigen Ressourcen in die Bereiche mit dem größten Bedarf fließen und wir können dies gleichzeitig in einer Weise tun, die Patient*innen ungeachtet ihrer finanziellen Mittel gleichermaßen Zugang zu neuen Medikamenten gewährt.

Universities Allied for Essential Medicines (UAEM) ist eine weltweit tätige Initiative von Studierenden, die sich für einen gerechten und bezahlbaren Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten einsetzt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Rolle, die Universitäten und öffentliche Forschungseinrichtungen in der Arzneimittelforschung einnehmen. Damit verknüpft ist die Forderung nach Transparenz und einem sozialverantwortlichen Umgang mit geistigem Eigentum aus öffentlich finanzierter Forschung. (twitter: @UAEMGermany)


Autor*in

Paul Schnase studiert Politikwissenschaft und Jura an an der Universität Münster. Er engagiert sich seit vier Jahren bei Universitites Allied for Essential Medicines (UAEM) und beschäftigt sich dort vor allem mit IP-Recht [Intellectual Property, deutsch: Geistiges Eigentum] und Modellen für nachhaltige Pharmaforschung. (twitter: @paul_schnase)

Was wäre, wenn…

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Im 9. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Gesundheitsversorgung. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

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