Literarische Planspiele zwischen Hubots und Facebook-Revolutionen

Sci­ence-Fic­tion spe­ku­liert nicht nur über tech­no­lo­gi­sche Fort­schrit­te, son­dern reflek­tiert auch gegen­wär­ti­ge Ver­hält­nis­se. Aktu­el­le Wer­ke zei­gen, wel­che Fra­gen und Visio­nen uns heu­te beschäftigen. Ein Beitrag von Simon Sahner.
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Aus dem 8. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn Technologie uns die Arbeit abnähme?

Im ver­reg­ne­ten Novem­ber des Jah­res 2019 erhebt sich in einer ame­ri­ka­ni­schen Mil­lio­nen­me­tro­po­le etwas aus dem düs­te­ren Moloch der Stra­ßen­schluch­ten, das einem flie­gen­den Auto ähnelt. Der Fah­rer die­ses Flug­ge­räts ist Rick Deckard, ein Pri­vat­de­tek­tiv, des­sen Auf­trag es ist, sechs soge­nann­te Repli­kan­ten auf­zu­spü­ren – künst­li­che Men­schen, die zu Arbeits­zwe­cken ent­wi­ckelt wur­den, aber mitt­ler­wei­le eine Bedro­hung für die Mensch­heit sind. 

Wir erken­nen heu­te sofort, dass es sich bei die­sem Sze­na­rio nicht um unse­re gegen­wär­ti­ge Rea­li­tät han­delt, son­dern um die Welt im Jahr 2019, wie sie uns der Film ​“Bla­de Run­ner”im Jahr 1982 prä­sen­tier­te. Ein sol­ches Bei­spiel zeigt, dass die Zukunfts­bil­der, die künst­le­ri­sche Wer­ke zeich­nen, oft nicht Rea­li­tät wer­den. Das Inter­es­se an sol­chen Visio­nen ist jedoch unge­bro­chen, denn sie ver­mit­teln uns nicht nur eine Idee davon, wie unse­re Zukunft aus­se­hen könn­te, son­dern sind auch immer ein Blick auf unse­re Gegenwart. 

Dicho­to­mie zwi­schen Kon­trol­le und Kontrollverlust

Eine ent­schei­den­de Rol­le in die­sen futu­ris­ti­schen Geschich­ten spielt der tech­ni­sche Fort­schritt. Meist zeigt sich vor allem an ihm die Dif­fe­renz zwi­schen der Gegen­wart, in der die Erzäh­lung geschrie­ben wird, und der ima­gi­nier­ten Zukunft, in der ihre Hand­lung ange­sie­delt ist. Dabei fällt auf, dass sich vie­le zukunfts­ori­en­tier­te Roma­ne, Fil­me und Seri­en der letz­ten Jahr­zehn­te mit der Fra­ge aus­ein­an­der­set­zen, wie ins­be­son­de­re künst­li­che Intel­li­genz (KI) unse­re Lebens­welt ver­än­dern wird. Wie bei ​“Bla­de Run­ner”fällt die Ant­wort oft in Form einer dys­to­pi­schen Hor­ror­vi­si­on vol­ler Cha­os und Gewalt aus, in der uns die KI oder gar gleich huma­noi­de Robo­ter nach dem Leben trach­ten. Im Kern geht es daher auch immer um uns, die ech­ten Men­schen und was uns als sol­che ausmacht.

Ver­mut­lich ist das der Grund, wes­halb der tech­ni­sche Fort­schritt in die­sen Fik­tio­nen oft auf die Dicho­to­mie zwi­schen Kon­trol­le und Kon­troll­ver­lust redu­ziert wird. Für gewöhn­lich wird aus einer Erleich­te­rung oder Beschleu­ni­gung des All­tags schließ­lich eine Bedro­hung. Die Werk­zeu­ge, die dazu gedacht waren, das Leben der Men­schen zu ver­bes­sern, neh­men über­hand und sind nicht mehr steu­er­bar. All­tag heißt dabei für die meis­ten Men­schen in west­li­chen Kapi­ta­lis­mus­ge­sell­schaf­ten Lohn­ar­beit, bei der Tech­nik auf Pro­duk­ti­ons- und Orga­ni­sa­ti­ons­pro­zes­se Ein­fluss nimmt. Die­se kön­nen von der anspruchs­vol­len Pro­duk­ti­on von Waren mit­hil­fe selb­stän­dig arbei­ten­der Com­pu­ter bis hin zu künst­li­chen Intel­li­gen­zen, die in der Ver­bre­chens­be­kämp­fung ein­ge­setzt wer­den, reichen. 

KI-Sys­te­me als idea­le Partner*innen

Eine sol­che KI in Form von Hubots, dem Men­schen zum Ver­wech­seln ähn­li­chen Robo­tern, beschreibt Emma Bras­lavs­ky in ihrem Roman ​“Die Nacht war bleich, die Lich­ter blink­ten”, der die­sen Herbst im Suhr­kamp Ver­lag erschie­nen ist und im Ber­lin der nahen Zukunft spielt. Hubots fin­den dar­in Anwen­dung in allen Berei­chen des All­tags, von der Arbeits­welt bis in den intims­ten pri­va­ten Bereich. Der­art weit­rei­chen­de Ein­sät­ze neu­er Tech­no­lo­gi­en ber­gen meist Fol­gen, die nicht vor­her­ge­se­hen wer­den, so auch hier: Seit Men­schen sich Hubots kau­fen kön­nen, die als idea­le Partner*innen auf ihre sexu­el­len und emo­tio­na­len Bedürf­nis­se zuge­schnit­te­nen sind, ist die Selbst­mord­ra­te rapi­de ange­stie­gen. Jene, die in die­ser Welt immer noch ein­sam sind, ent­we­der weil sie aus finan­zi­el­len Grün­den kei­nen Hubot besit­zen oder kei­ne Part­ner­schaft mit einem Men­schen füh­ren, ver­lie­ren völ­lig den Halt. Um dem Sozi­al­amt Bestat­tungs­kos­ten zu erspa­ren, soll Rober­ta Hin­ter­blie­be­ne der Selbst­mord­op­fer aus­fin­dig machen. Auch Rober­ta ist ein Hubot, doch sie besitzt erwei­ter­te Fähig­kei­ten und ver­fügt über eige­ne Entscheidungskraft. 

Die Angst des Men­schen, ver­drängt zu werden

Der Roman wirft etli­che Fra­gen auf, die den Bereich der Ver­än­de­rung der Arbeits­welt durch Tech­nik berüh­ren, belässt es jedoch meist bei vor­her­seh­ba­ren Sze­na­ri­en. Die Fra­ge, ob der Ein­satz (ein­ge­schränkt) selbst­den­ken­der Maschi­nen zum Ver­lust von Arbeits­plät­zen führt und wie unse­re Arbeits­welt und unser Pri­vat­le­ben dadurch ver­än­dert wür­den, hat die Autorin durch­aus im Blick. Das wird bei­spiels­wei­se deut­lich, als Rober­ta an ihrem Arbeits­platz ein­ge­führt wird. Sie ist das ers­te Pro­dukt der Fir­ma ​“Intel­la­bour GmbH, eines Star­tups, das den umkämpf­ten Arbeits­markt mit KI-Arbeits­kräf­ten flu­ten woll­te.” Was hier als Pro­blem ange­deu­tet wird, rückt im Ver­lauf der Hand­lung aber schnell in den Hin­ter­grund. Als ein Mit­ar­bei­ter von Rober­ta ange­sichts der Ankün­di­gung, dass pro Dezer­nat drei KI-Ermitt­ler ein­ge­setzt wer­den sol­len, aus­ruft ​“Dafür wer­den dann drei von uns gefeu­ert!”, wird die Dring­lich­keit die­ser Debat­te noch ein­mal zum Teil der Erzäh­lung. Doch der Roman ver­folgt das The­ma nicht wei­ter, was bleibt ist die lapi­da­re Ant­wort des Poli­zei­di­rek­tors, dass man auf die­se Wei­se die Arbeit bes­ser ver­tei­len kön­ne. Wie die­se Ver­tei­lung aus­se­hen könn­te, bleibt im Unkla­ren. Auch dass Hubots in der Roman­fik­ti­on eben nicht nur als ana­ly­ti­sche Hoch­leis­tungs­ma­schi­nen ein­ge­setzt wer­den, son­dern auch als Restaurantmitarbeiter*innen und in ande­ren Dienst­leis­tungs­be­ru­fen und damit Arbeits­plät­ze für weni­ger gut aus­ge­bil­de­te Men­schen ein­neh­men, wird kaum the­ma­ti­siert. Wel­che Tätig­kei­ten blei­ben für die­se Men­schen? Wie bestrei­ten sie ihren Lebens­un­ter­halt? Man erfährt es nicht.

Die Angst des Men­schen, von Maschi­nen vom Arbeits­markt ver­drängt zu wer­den, führt uns letzt­lich zu einer anthro­po­lo­gi­schen Grund­fra­ge im Umgang mit der KI, die über das The­ma Arbeit hin­aus­geht, und schließ­lich zu ethi­schen Grund­la­gen unse­res Zusam­men­le­bens führt.

Neue Robo­ter­rech­te im alten Patriarchat

Rober­ta wird als Frau gele­sen, was sie einer ver­stärk­ten Gefahr sexu­el­ler Beläs­ti­gung aus­setzt. Dar­auf weist der Poli­zei­di­rek­tor hin, wenn er klar­stellt, Rober­ta sei kei­ne ​“Sex­pup­pe und auch kei­ne Haus­halts­hil­fe: ​‘Sie hat das Recht auf kör­per­li­che Unver­sehrt­heit wie wir alle.’ ” Von Bedeu­tung ist hier zwei­er­lei: War­um wür­den wir einem Hubot das glei­che Recht auf kör­per­li­che Unver­sehrt­heit zuspre­chen wie dem Men­schen und war­um wur­de Rober­ta äußer­lich über­haupt als Frau kon­zi­piert? Letz­te­res wird durch Dees­ka­la­ti­on begrün­det und wirft dadurch gleich­zei­tig Fra­gen der Gen­der­wahr­neh­mung auf: ​“Was glaubst du, was hier los wäre, wenn ich mit einem Ter­mi­na­tor auf­ge­kreuzt wäre”, ant­wor­tet der Poli­zei­di­rek­tor auf Rober­tas Fra­ge, war­um sie als Frau kon­zi­piert wur­de, nach­dem sie fest­ge­stellt hat, dass außer ihr fast nur Män­ner in der Dienst­stel­le arbeiten.

Die Fra­ge nach den Rech­ten ver­weist auf unser Selbst­ver­ständ­nis als Men­schen. Wie ver­än­dert es sich, wenn intel­li­gen­te Maschi­nen nicht nur schnel­ler und krea­ti­ver den­ken als wir, son­dern auch unse­re emo­tio­na­len und sexu­el­len Bedürf­nis­se befrie­di­gen? Soll­te es irgend­wann tat­säch­lich Hubots oder ähn­li­che Robo­ter geben, müs­sen wir uns fra­gen, wel­chen Grad der Mensch­lich­keit wir ihnen zuspre­chen und wel­che ethi­schen und recht­li­chen Impli­ka­tio­nen sich dar­aus erge­ben. Nahe­lie­gend wäre es im Roman etwa gewe­sen, anhand der Hubots zu zei­gen, inwie­weit sexu­el­le Bezie­hun­gen zu Robo­tern auf Lie­bes­be­zie­hun­gen, die Repro­duk­ti­on oder die Gen­der­ge­rech­tig­keit ein­wir­ken. All dies wird nur ange­deu­tet, zum Bei­spiel in einer wei­te­ren Sze­ne des Romans, in der Rober­ta in einer Bar von einem Mann vehe­ment sexu­ell beläs­tigt wird. Ent­schei­dend ist, dass dem Mann bewusst ist, dass er einen Robo­ter vor sich hat, der in sei­nen Augen nicht über die glei­chen Rech­te ver­fügt: ​“Du brauchst nicht viel mehr über mich zu wis­sen, außer wie du mich glück­lich machst. Das wisst ihr Din­ger doch, dafür haben wir euch doch gemacht.” Was sagt es über den Men­schen aus, dass er Robo­ter, die ihm ähn­lich sehen und zu denen er ähn­li­che Emo­tio­nen aus­bil­det wie zu ande­ren Men­schen, aus­beu­tet, sexu­ell beläs­tigt und ihnen Gewalt antut? 

Klas­si­sche Kri­mi­ge­schich­te im digi­ta­len Gewand

Dar­an zeigt sich, dass Bras­lavs­ky sich durch­aus über die­se Kon­flik­te im Kla­ren ist, aber sie ver­säumt, den ent­schei­den­den Schritt wei­ter­zu­ge­hen, um hier eine wirk­lich pro­fun­de Zukunfts­vi­si­on zu ent­wer­fen, anhand derer wir an uns selbst die Fra­ge stel­len kön­nen, wer wir als Men­schen sind und sein wol­len. Es ist nicht in Abre­de zu stel­len, dass die im Roman ange­ris­se­nen Ethik­fra­gen zum Ver­hält­nis von Mensch und Maschi­ne rele­vant sind, aber sie wer­den in die­ser Form seit Jahr­zehn­ten ins­be­son­de­re von Fil­men und Seri­en immer wie­der auf­ge­grif­fen. Schon die Unsi­cher­heit des Prot­ago­nis­ten in ​“Bla­de Run­ner”dar­über, wer Mensch und wer Repli­kant ist, greift die Ersetz­bar­keits­fra­ge auf. Es mag nicht die Auf­ga­be jeder KI-Sto­ry sein, ethi­sche Grund­fra­gen zu dis­ku­tie­ren, aber der als klas­si­sche Kri­mi­ge­schich­te erzähl­te Roman kon­zen­triert sich zu sehr auf den Fall, den Rober­ta zu lösen hat, und über­geht dabei wich­ti­ge The­men, die sich im Hand­lungs­ver­lauf meist nur kurz zei­gen. Je wei­ter Fik­ti­on in die Zukunft denkt, des­to grö­ßer ist oft die Ver­su­chung, sich in fas­zi­nier­ten Beschrei­bun­gen tech­ni­scher Mög­lich­kei­ten zu verlieren.

Lite­ra­tur als Imaginationsraum

Wie reiz- und anspruchs­voll ein Blick in eine sehr nahe Zukunft sein kann, zeigt Sina Kama­la Kauf­manns Band ​“Hel­le Mate­rie: Nah­phan­tas­ti­sche Erzäh­lun­gen”, der im Früh­jahr beim jüngst auf der Frank­fur­ter Buch­mes­se mit dem Deut­schen Ver­lags­preis aus­ge­zeich­ne­ten unab­hän­gi­gen Ber­li­ner Ver­lag mikro­text erschie­nen ist. In ihren Pro­sa­tex­ten denkt Kauf­mann aktu­el­le Ent­wick­lun­gen weni­ge Schrit­te in die Zukunft und hebt sie so im Ima­gi­na­ti­ons­raum der Fik­ti­on auf die nächs­te Ebene. 

Kauf­manns Erzäh­lung Pro­duk­ti­vi­tät, die sich mit einer Selbst­hil­fe­grup­pe für Men­schen beschäf­tigt, die in einer effi­zi­enz­fi­xier­ten Arbeits­welt unter hem­men­der Pro­kras­ti­na­ti­on lei­den, behan­delt eine tech­ni­sche Ent­wick­lung, die schon jetzt in Ansät­zen zu beob­ach­ten ist. In unse­rer Gegen­wart hat die schwe­di­sche Fir­ma TUI Nor­dic vor kur­zem ihren Mitarbeiter*innen auf frei­wil­li­ger Basis einen Chip ein­pflan­zen las­sen. Das mit NFC-Tech­nik aus­ge­stat­te­te Hand­im­plan­tat öff­net Türen und schal­tet Gerä­te frei. In Kauf­manns Erzäh­lung leis­tet ein Chip im Kör­per nicht mehr nur den ein­fachs­ten Aus­tausch von Daten. Hier über­prüft ein Implan­tat, das der Grup­pen­teil­neh­me­rin Mary ein­ge­setzt wur­de, che­mi­sche Pro­zes­se im Gehirn und passt sie an. An beson­de­ren Tagen gibt es soge­nann­te ​“Mood Gifts”, etwa zum Geburts­tag: ​“Neuro­pep­tid, das Geschenk der Zukunft.” Was bei TUI Nor­dic noch ver­gleichs­wei­se mini­mals­te Tech­nik ist, hat hier bereits Sphä­ren erreicht, in denen uns bereits bekann­te Selb­st­op­ti­mie­rungs­apps inva­siv in den Kör­per ein­grei­fen. Mary stellt fest, dass sie kei­ner­lei Krea­ti­vi­tät und eige­ne Ide­en mehr habe, seit ihr Kör­per per­fek­tio­niert wur­de. Über­ra­schen­der­wei­se stellt das für sie einen Erfolg dar, da sie nun end­lich effek­tiv sein kön­ne, wäh­rend sie frü­her von Ide­en abge­lenkt wor­den wäre ​“wie Tin­ni­tus­pa­ti­en­ten” von einem Piep­sen. Anhand unter­schied­li­cher Sicht­wei­sen in der Gesprächs­grup­pe auf das The­ma der Selb­st­op­ti­mie­rung zeigt die Erzäh­lung, wie wir eines tech­ni­sier­ten Kapi­ta­lis­mus Herr wer­den wol­len, indem wir ver­su­chen, die Anfor­de­run­gen der Beschleu­ni­gung und Kom­ple­xi­tät mit Hil­fe von Tech­nik wie­der abzufangen.

Digi­ta­le Lin­de­rung eines beschä­dig­ten Arbeitssystems

Denn da, wo der All­tag im kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tem Selbst­sor­ge nicht mehr gestat­tet und kei­ne Ent­las­tung bie­tet, bedie­nen wir uns digi­ta­ler Hilfs­mit­tel, um uns in einem über­hitz­ten Sys­tem wie­der Genuss und Nähe zu ver­schaf­fen. So gese­hen ver­spricht die Digi­ta­li­sie­rung auf eine per­fi­de Art eine Lin­de­rung des von ihr über­haupt erst geschaf­fe­nen, beschä­dig­ten Arbeits­sys­tems. Die Anfor­de­run­gen einer kapi­ta­lis­ti­schen Leis­tungs­ge­sell­schaft, die durch digi­ta­le Ver­net­zung noch beschleu­nigt und for­ciert wird, wer­den durch Selbst­sor­ge und Selb­st­op­ti­mie­rung abge­fe­dert. Unter­stützt wer­den die­se Self­ca­re-Pro­zes­se durch die Digi­ta­li­sie­rung, die ent­spre­chen­de Ange­bo­te wie­der­um mone­ta­ri­siert – ein drei­schrit­ti­ger Teufelskreis. 

Wie im Kapi­ta­lis­mus Fort­schritt direkt in einen Gewinn­ma­xi­mie­rungs­kreis­lauf ein­be­zo­gen wird, zeigt Kauf­manns viel­leicht gegen­wär­tigs­te Erzäh­lung ​“Eine Klei­der­ge­schich­te”. Wäh­rend in der Rea­li­tät Gre­ta Thun­berg vor etwa einem Jahr eine welt­wei­te Jugend­be­we­gung zum Schutz des Kli­mas aus­lös­te, ent­schei­den sich hier drei Jugend­li­che, jeden Mon­tag den Kon­sum zu ver­wei­gern und nichts zu kau­fen. Bald schlie­ßen sich ande­re an, wei­ße Klei­dung wird zum Mar­ken­zei­chen der Befürworter*innen und die Bewe­gung nimmt bin­nen weni­ger Mona­te ähn­li­che Aus­ma­ße an wie Fri­days For Future. Kauf­mann, die sich selbst als Akti­vis­tin bei Extinc­tion Rebel­li­on für den Kli­ma­schutz ein­setzt, beschreibt die Ent­wick­lung die­ser fik­ti­ven Bewe­gung bis hin zu dem Punkt, an dem der Kapi­ta­lis­mus sich die Revo­lu­ti­on ein­ver­leibt. Gro­ße Mar­ken ver­kau­fen wei­ße Klei­dung, bis schließ­lich ein Unter­neh­men auf den Gedan­ken kommt, den Kauf von Klei­dung mit Ver­ein­ba­run­gen zur Selbst- oder Gesell­schafts­op­ti­mie­rung zu ver­bin­den. Auf einem Eti­kett steht etwa: ​“Dunk­le Oran­gen-Gar­de, Min­dest­tra­ge­dau­er 14 Mona­te. Der Käu­fer ver­pflich­tet sich für die­sen Zeit­raum, dem Anbau sowie der Pro­duk­ti­ons- und Lie­fer­ket­te von Blut­oran­gen regel­mä­ßig sei­ne Auf­merk­sam­keit zu wid­men.” Ange­sichts eines Sys­tems, das jeden Wider­stand in kapi­ta­lis­ti­sche Markt­lo­gi­ken ein­bet­tet, könn­te man den berühm­ten Satz umwan­deln in: the revo­lu­ti­on will be monetized. 

Blick in die nahe Zukunft

Inter­es­sant ist, dass in ​“Hel­le Mate­rie” kei­ne huma­noi­den Maschi­nen auf­tau­chen und dass Kauf­manns Erzäh­lun­gen gera­de des­we­gen teil­wei­se so bedrü­ckend wir­ken. Die Vor­stel­lung von men­schen­ähn­li­chen Robo­tern mag uns reiz­voll und gleich­zei­tig unheim­lich erschei­nen, doch ver­stö­ren­der ist oft die Visi­on einer Zukunft, die uns nur weni­ge Jah­re ent­fernt vor­kommt. Denn ob die Sze­na­ri­en, die Kauf­mann ent­wirft, in der Form Rea­li­tät wer­den, ist zunächst irrele­vant. Ent­schei­dend ist, dass sie uns näher und denk­ba­rer erschei­nen als die Hubots in Bras­lavs­kys Roman. Der Erzähl­band bie­tet ein über­zeu­gen­des Bei­spiel, wie Lite­ra­tur rea­lis­ti­sche Plan­spie­le ent­wer­fen und durch­ex­er­zie­ren kann. Er kon­fron­tiert uns so mit Sze­na­ri­en, die uns viel­leicht noch nicht mög­lich erschei­nen, aber denk­bar sind, oder vor denen es uns graut. 

Schö­ne alte Welt

Lite­ra­tur kann uns aber auch zei­gen, was mög­lich gewe­sen wäre und uns damit wach hal­ten für die Tat­sa­che, dass wir mehr Ent­schei­dungs­kraft über die Tech­no­lo­gi­en der Zukunft haben, als wir manch­mal den­ken. In einer ihrer Erzäh­lun­gen geht Kauf­mann ins Jahr 2006 zurück und lässt uns Zeug*innen eines fik­ti­ven Dia­logs zwi­schen Bill Gates und Mark Zucker­berg wer­den. Es tref­fen nicht nur zwei Genera­tio­nen der Tech­welt auf­ein­an­der, son­dern es ist ein Auf­ein­an­der­pral­len von diver­gie­ren­den Welt­sich­ten. Wäh­rend der jun­ge Zucker­berg kei­ne Gren­ze sehen will, ver­sucht der älte­re Gates ihn zu über­zeu­gen, dass tech­ni­sche Inno­va­ti­on eben nicht zwin­gend eine posi­ti­ve Ent­wick­lung bedeu­tet. Zucker­berg beharrt dar­auf, dass Face­book aus­schließ­lich Gutes brin­gen und die Mensch­heit im bes­ten Sin­ne ver­net­zen wird. Die Rea­li­tät sieht, wie wir wis­sen, anders aus. Letz­tes Jahr muss­te Mark Zucker­berg sich vor dem US-Kon­gress für einen Daten­skan­dal sei­nes Unter­neh­mens recht­fer­ti­gen, der Schät­zun­gen nach bis zu 87 Mil­lio­nen Men­schen betref­fen könn­te. Erst kürz­lich befrag­te ihn der Kon­gress erneut, dies­mal zum zwei­fel­haf­ten Umgang mit Falsch­in­for­ma­tio­nen in dem sozia­len Netzwerk. 

In dem fik­ti­ven Dia­log ent­steht hin­ge­gen eine alter­na­ti­ve Ver­gan­gen­heit, in der Face­book nicht an die Bör­se geht und sich nicht gegen jeg­li­che mora­li­schen Ver­pflich­tun­gen immun zeigt, son­dern zur ​“ers­ten welt­ver­ge­sell­schaf­te­ten Unter­neh­mung” und schließ­lich als Netz­werk Teil der Ver­ein­ten Natio­nen wird. Dies ermög­licht eine demo­kra­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on der Welt­be­völ­ke­rung, schafft Sicht­bar­keit für Miss­stän­de und ver­än­dert das Weltwirtschaftssystem. 

Denk­an­stö­ße für die Gegenwart

So abwe­gig die­ses Sze­na­rio einer pro­gres­si­ven Face­book-Revo­lu­ti­on rück­bli­ckend auch erschei­nen mag, offen­bart es doch zwei für den Zusam­men­hang von tech­ni­schem Fort­schritt und Arbeits­welt ent­schei­den­de Punk­te: In einem pro­fit­ori­en­tier­ten Kapi­ta­lis­mus wer­den neue Tech­no­lo­gi­en in den meis­ten Fäl­len erst ein­mal der Gewinn­ma­xi­mie­rung die­nen. Aber Erzäh­lun­gen wie die von Kauf­mann bewah­ren den Gedan­ken dar­an, was mit der digi­ta­len Ver­net­zung Posi­ti­ves mög­lich ist. Dar­über­hin­aus zeigt die­se fik­ti­ve Ver­gan­gen­heit, dass bei einer Anpas­sung des Arbeits­mark­tes an die digi­ta­len Neue­run­gen über die Gren­zen des eige­nen Lan­des hin­aus­ge­schaut wer­den muss. Ein der­art glo­ba­li­sier­ter und digi­tal ver­netz­ter Kapi­ta­lis­mus kann nicht inner­halb staat­li­cher Gren­zen kon­trol­liert wer­den und ver­langt ein eben­so ver­netz­tes und glo­ba­li­sier­tes Sys­tem von sozia­len Siche­run­gen und demo­kra­ti­schen Partizipationsmöglichkeiten. 

Lite­ra­tur kann Pro­ble­me die­ser Trag­wei­te selbst­ver­ständ­lich nicht lösen, aber sie kann wie in Sina Kama­la Kauf­manns ​“Hel­le Mate­rie” erleb­ba­re Sze­na­ri­en ent­wer­fen, die in ihrer Umset­zung (manch­mal lei­der, manch­mal hof­fent­lich) Fik­ti­on blei­ben, die uns aber immer wich­ti­ge Denk­an­stö­ße geben können.


Autor*in

Simon Sah­ner ist Dok­to­rand der ger­ma­nis­ti­schen Lite­ra­tur­wis­sen­schaft und Autor feuil­le­to­nis­ti­scher Tex­te bei 54books und ande­ren Online-Publi­ka­tio­nen. Der Fokus sei­nes Schrei­bens und For­schens liegt auf Gegen­warts­li­te­ra­tur, Digi­ta­li­sie­rung, Geschlech­ter­fra­gen und der Lite­ra­tur des 20. Jahrhunderts

Was wäre, wenn…

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Im 8. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Technologie. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

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