Die menschliche Hand

Verständige Maschinen, unlimitierte Freizeit, spielerische Gesellschaft. Ist das vorstellbar? Eine Erzählung aus der post-kapitalistischen und feministischen Zukunft, von der wir heute schon lernen können. Ein Text von Christiane Frohmann.
technologie hand roboter
Aus dem 8. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn Technologie uns die Arbeit abnähme?

Ihre rechte, ausgestreckte Hand reichte nach dem Griff des antiken Unterschranks im spätkapitalistischen Stil, in dem sich die Snacks für die Katze befanden. Zuvor war sie durch wiederholtes Kopfnicken des Tieres in Richtung der Küche über dessen Interesse informiert worden. Die unmissverständliche Geste hatte genügt, um sie in Bewegung zu setzen, als wäre sie ferngesteuert. Sie war auf dem Sofa von der Liege- in die Sitzposition gewechselt, aufgestanden, hatte dabei ihre Phantastic-Sleep-Sensoren abgenommen und auf der Lehne abgelegt, war sieben Schritte geradeaus und einen nach links gegangen und hatte sich dann vornübergebeugt.

Nun fasste ihre linke Hand ins Innere des Schranks und zog die portionsweise verpackten Trockenfleischstangen heraus. Sie richtete sich auf und riss unter Einsatz beider Hände ein Segment auf, Auge in Auge mit der Katze, welche in eine Art Erwartungsstarre verfallen war. Sie drückte die Stange nach oben und hielt sie der Katze hin, etwa zwanzig Zentimeter über deren Kopf: “Sticky!” Die Katze stellte sich auf die Hinterbeine und zog mit den Zähnen den Snack heraus.

Das Care-Spiel

Bei diesem täglichen Ritual ließen sich beide Lebewesen abwechselnd vom jeweils anderen wie eine Drohne einsetzen: Die Person wurde zum Schrank navigiert, den die Katze mit ihren Tierpfoten nicht öffnen konnte, und die Katze wurde dazu bewegt, ein Kunststück zu machen, das die Person unterhielt. Diese lockere Kooperation, bei der sie sich ohne Zwang und Qual gegenseitig mehr Lebensqualität verschafften, wies auf ein progressiveres Arbeitsverhältnis hin, als es noch im frühen 21. Jahrhundert die meisten Menschen bei ihrer Lohnarbeit erlebt hatten. Bei ihrem hybriden Snack-Game stellte sich darüber hinaus ein Gefühl der Bindung und Zugehörigkeit ein – was gab es Schöneres, als in einer Welt, in der man sich von Technik alle Arbeit abnehmen lassen konnte und niemand mehr Sklave oder Assistentin anderer sein musste, Arbeit freiwillig als Liebesdienst zu verrichten?

Je nach Laune geriet ihr Care-Spiel aus dem Fluss. Entweder tat die Person so, als nähme sie die zunehmend missmutigen Kopfbewegungen der Katze nicht wahr oder die Katze blieb, wenn ihr der Snack hingehalten wurde, faul auf allen vier Pfoten stehen, einfach, weil sie es konnte, sie war schließlich kein willenloses Zirkustier.

Trotzdem wollten beide, obwohl es das Ritual effizienter gemacht hätte und die Technik bereits jahrzehntelang zur Verfügung stand, keinen robotischen Ersatz für ihr Gegenüber. Sie verzichteten ja auch nicht ohne Grund auf die Nutzung der Interspezies-Übersetzungs-App. Ein einziger Abend vor vielen Jahren, an dem sie bei Cola und Katzenmilch ihre Erinnerungen, Werte und Befindlichkeiten abgeglichen hatten, war genug gewesen, um ihnen begreiflich zu machen, dass sie auch ohne App immer hervorragend miteinander kommuniziert hatten.

Mit der Hand über das Fell der schnurrenden Katze streichend erinnerte sie sich an Paro, den Sattelrobbenbaby-Roboter. Paro spielte eine bedeutende Rolle in den “Lebens-Geschichten” – den instantanen, sich in Echtzeit aktualisierenden Chroniken der Menschheit. Er war 2001, im selben Jahr wie ihre Urgroßmutter, auf die Welt gekommen. Die Ururgroßmutter arbeitete damals in einer Pflegeeinrichtung, in der Paro eingesetzt wurde. In der Anschaffung kostete “der soziale Roboter” ungefähr den gleichen Betrag Geld, den ihre Ururgroßmutter als examinierte Fachkraft in drei Monaten verdiente. Er war also nach spätkapitalistischen Maßstäben günstig, denn in Sozialberufen verdiente man so schlecht, dass man selbst bei durchgehender Beschäftigung bis zur Rente in Armut lebte und starb. Insbesondere, wenn man wie ihre Ururgroßmutter allein für ein Kind zu sorgen hatte. Heute konnte sich niemand mehr eine Gesellschaft vorstellen, die ausgerechnet Care-Tätigkeiten so wenig wertschätzte oder Eltern der sicheren Überforderung aussetzte.

Die freiwillige Sorge füreinander

Erst als Rentnerin fand ihre Ururgroßmutter die Zeit, ihre komplexen Beobachtungen und Erfahrungen als alleinerziehende Mutter und Altenpflegerin in der frühen Digitalisierung zu analysieren und niederzuschreiben, um daraus ein neues Konzept namens “Kommunikations-Pflege” abzuleiten. Darin legte sie zukünftigen Generationen nahe, künstliche Intelligenz nur für Tätigkeiten einzusetzen, die Menschen als quälend oder für soziale Beziehungen schädigend betrachteten. Für die Menschen selbst forderte sie die gesamtgesellschaftliche Konzentration auf ein bislang nicht oder nur sehr eingeschränkt als Arbeit geltendes Gebiet: die freiwillige Sorge füreinander. Es war Paro gewesen, besser gesagt, die Beobachtung von Menschen, die mit Paro Umgang hatten, der ihre Ururgroßmutter dazu gebracht hatte, bestimmte Phänomene anders zu sehen und anders einzuordnen.

Der Babyrobben-Roboter wurde vor allem bei der Pflege dementer Menschen eingesetzt, die ihn streicheln und mit ihm kuscheln durften, was sie entspannte und beruhigte. Ihre Ururgroßmutter bemerkte, dass Paro wie ihr Menschenbaby zuhause fast schmerzhaft niedlich war, aber das galt auch für manche Stofftiere. Was Paro besonders machte, war, dass er empfindlich auf Berührungen und Namen reagierte. Er bewegte dann Kopf, Augen und Schwanz und machte Töne. Damals wurden in der tiergestützten Therapie noch keine vordergründig niedlichen Tiere eingesetzt, es ging eher um ein diffuses, wohltuendes Verstehen, dass man, weil man mit einem anderen Lebewesen Blicke und Berührungen austauschte, selbst lebendig war.

Mit Paro und den Demenzkranken hatte man nun den Sonderfall, dass Personen, die möglicherweise gar nicht mehr wussten, was Menschsein bedeutet – im Spätkapitalismus, diese kritische Anmerkung muss gestattet sein, wussten dies auch sehr viele Menschen ohne Demenz nicht zwingend – auf ein Robotertier mit Kindchenschema trafen. Durch den Anblick von Paro und die Interaktion mit ihm wurden sie dazu gebracht, sich wie Menschen mit einem sinnvollen Leben zu fühlen. Sie glaubten, so hatte es zumindest den Anschein, Care-Arbeit für ein sehr schutzbedürftiges Lebewesen zu leisten. Das machte sie glücklich.

Die bei der Markteinführung von Paro zu beobachtende Unbehaglichkeit des Pflegepersonals legte sich bald, weil kein Zweifel darüber bestehen konnte, dass die Lebensqualität der dementen Personen sich verbesserte. Man täuschte sie ja auch nicht wirklich, niemand setzte ihnen lebensechte Roboter mit den Gesichtszügen naher Verwandter gegenüber. Die Robbe, die im Gegensatz zu den echten Angehörigen mit einem unerschütterlichen Gleichmut ausgestattet war, wurde schlicht mit den Worten “Das ist Paro” vorgestellt. Was die einzelnen Personen in Paro sahen, bestimmten deren eigene Gehirne.

Das Schöne am menschlichen Miteinander

Man könnte meinen, dass ihre Ururgroßmutter daraufhin zu dem Schluss gekommen wäre, alle Menschen bräuchten, um psychisch ausgeglichener und insgesamt leistungsstärker zu werden, täuschend echte Roboter für verschiedene Nähe- und Kommunikationskontexte: Kuschelroboter, Spielroboter, Unterrichtsroboter, Gesprächsroboter, Therapieroboter, Sexroboter. Das Gegenteil war der Fall, in ihr entstand die feste Überzeugung, dass die Arbeitsverhältnisse sich kategorial ändern mussten, damit Menschen nicht länger wie minderwertige Roboter wirkten. Man musste weg von einer Arbeitswelt, die als so quälend empfunden wurde, dass es schier das Menschsein aus einem raussaugte. Arbeit sollte so verstanden und organisiert werden, dass man sich auf das Schöne am Mensch- und Lebendigsein konzentrieren konnten, das Miteinander- und Füreinanderdasein, das freiwillige Tätigsein und Schaffen. Arbeit würde einen auch weiterhin erschöpfen, aber nicht schon beim bloßen Gedanken an sie.

Zwar wurden auch damals Pflegetätigkeiten ausnahmslos als sinnvoll bezeichnet, aber dies schlug sich nicht in den Arbeitsbedingungen nieder, wodurch es Menschen in diesen Berufen schwerfiel, dem Anspruch des menschlichen Pflegens gerecht zu werden. Sie waren professionell ausgebildet und dadurch weniger anfällig als die Angehörigen von Patientinnen, durch die Belastung verbal oder physisch gewalttätig zu werden, aber sie hatten viel zu wenig Zeit für eine mehr als über das Nötigste hinausgehende Fürsorge.

Hier setzten die Überlegungen ihrer Ururgroßmutter an: Was wäre, wenn man, sobald die Technologie ausgereift war, Roboter in jenen Bereichen der Pflege einsetzte, die Menschen unangenehm waren. Eine Pflegekraft, die einer anderen Person nicht mehr in potenziell peinlichen Situationen assistieren müsste, könnte unbelasteter und auf Augenhöhe mit ihr sprechen. Patientinnen würden sich autonom mit einem Knopfdruck oder Blinzeln der Augen die benötigte automatisierte Hilfe holen können, was die Vorstellung von Hilfsbedürftigkeit und damit den Status von Alten, Kranken und Menschen mit Behinderungen radikal verändern würde. Als die Kommunikations-Pflege einige Jahre später in Modellversuchen umgesetzt wurde, zeigte sich ein wunderschöner Nebeneffekt: Eine helfende Hand wurde zunehmend gern angeboten und gern akzeptiert, nachdem Menschen weder gezwungen waren zu helfen noch Hilfe anzunehmen.

Ihre Ururgroßmutter hatte sich außerdem vehement gegen eine philosophische Erhebung der künstlichen Intelligenz zum besseren Menschen gewandt und dafür plädiert, stattdessen die menschliche Hand ins Zentrum allen Denkens zu stellen. Damit machte sie sich auch ein wenig über die Metapher der “unsichtbaren Hand” lustig, die damals seit über 250 Jahren durch Wirtschaftstheorien geisterte, als würde es sich bei ihr um einen festen Begriff handeln, obwohl sie ursprünglich gar nicht von Adam Smith, sondern aus einem religiösen Kontext stammte und auch bei Smith verschiedene Bedeutungen annahm. In ihrer wenig bis nichtssagenden Allgegenwärtigkeit, fand ihre Ururgroßmutter, ähnelte die “unsichtbare Hand” zeitgenössischen buzzwordswie “Digitalisierung” und “Künstliche Intelligenz”, die ebenfalls einen diffusen Raum zwischen Ökonomie, Gesellschaftspolitik, Religion und Magie eröffneten. Ihre Ururgroßmutter beschrieb dies treffend als “Begriffsfiktion”.

Globale Revolution

Das damalige Prestigedenken verhinderte, dass Verlage die Schriften zu ihren Lebzeiten veröffentlichten. Von sozialen Medien wurde man aber durch einen fehlenden akademischen Hintergrund nicht ausgeschlossen, das Blog und die Tweets ihrer Ururgroßmutter wurden von Millionen Menschen gelesen. Mehr und mehr Pflegeeinrichtungen mit privaten Trägern griffen die Überlegungen zur Kommunikations-Pflege auf, taten sich mit Entwicklerinnen und Ingenieurinnen zusammen, besorgten das nötige Geld über Crowdfundings und gewannen Aging-Aktivistinnen und Menschen mit Behinderungen als Botschafterinnen für die Bewegung.

Die im Pflegebereich begonnene Revolution wurde von ihrer Ururgroßmutter im ständigen Austausch mit vielen anderen Menschen – die Kommunikation fand in Chatgruppen statt – unter dem Namen “Lebens-Wende” auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausgedehnt. Eine globale Bewegung entstand, denn nach und nach erkannten Menschen aller Kulturen den kategorialen Fehler, die menschliche Tendenz, dominieren zu wollen, auf Maschinen zu projizieren und damit erst den Grund zur Sorge vor deren Übernahme geliefert zu haben. Wenn eine Maschine a priori nur eine von menschlicher Hand geschaffene künstliche Assistenz war, die man nutzen konnte oder auch nicht, warum sollte die Maschine den Aufstand planen oder den Menschen ersetzen wollen? Ohne die menschliche Hand gab es keine Maschinen, daran hatte die Menschheit sich nur erinnern müssen.

Maschinen machten jetzt per definitionem die unwichtige Arbeit, das heißt die Arbeit, die Menschen nicht machen wollten oder konnten. Die Maschinen selbst wurden als unwesentlich definiert – eine Denkfigur, die man dem Patriarchat in der Lesart Hannah Arendts entlehnte. Menschen als unwesentlich zu setzen, war diskriminierend gewesen, Maschinen als unwesentlich zu setzen, war vernünftig.

Das Vorbild bei der Konzeption künstlicher Intelligenz war die abgetrennte Hand aus der Addams Family, Thing T. Thing, in der deutschen Fassung “das eiskalte Händchen”. Thing war kein Ding, kein Haustier, kein Mensch, aber ein Freund. Mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten erledigte Thing einfache Tätigkeiten und holte etwa die Post rein. Thing machte plausibel, dass sich die Vorstellungen von Belebtem und Unbelebtem zwar sehr verändert hatten, aber die Maschinen trotzdem keine Supermenschen waren. Es ging zukünftig nicht mehr primär darum, die Berührung einer menschlichen Hand möglichst perfekt zu simulieren. Vielmehr sollte eine Gesellschaft, eine Welt, kreiert werden, in der Menschen andere Lebewesen berührten und in der Menschen und andere Lebewesen von Menschen und Robotern berührt wurden, auf eine Art und Weise, in Situationen und zu Zeitpunkten, die angenehm und nicht quälend waren. Menschen hatten das unverbrüchliche Recht, in jedem Augenblick neu zu entscheiden, wobei sie Hilfe haben wollten und wobei nicht. Wer unsicher war, eine bestimmte maschinelle Hilfe einzufordern, konnte sie in einer Tagtraumsimulation ausprobieren. Der Name der App war von Shirley Jackson inspiriert und lautete Phantastic Sleep. Die Anwendung erleichterte die Einschätzung, ob man sich mit dem realen Körper und Sein an die fragliche Situation heranwagen wollte.

Menschen mit robotischen Gliedmaßen wurden nicht mehr Cyborgs genannt und so unnötig dem Menschsein entfremdet. Sie waren Menschen und ein Mensch war ein Mensch war ein Mensch. Auch das 2012 als Kunst dargestellte Experiment, aus einer toten Katze einen Hubschrauber zu machen, erschien jetzt unethisch. Katzen waren Lebewesen und ein Lebewesen war ein Lebewesen war ein Lebewesen.

Zwangloser Sozialismus ohne Wettbewerb

Seit als gesichert galt, dass Maschinen den Menschen ein materiell sorgloses Leben ermöglichen würden, ohne sie im Schlaf zu ermorden, verloren die Menschen das Interesse am ökonomischen Wettbewerb. Sich miteinander zu messen, war nur noch im spielerischen, sportlichen oder kreativen Rahmen plausibel, man tat es, wenn man Lust dazu hatte und andere Lust hatten, mitzumachen. Das ließ den Kapitalismus fast beiläufig kollabieren, ohne dass dafür Manifeste geschrieben oder neue Menschen geformt werden mussten. Indem sich alle, so wie sie waren, auf das Menschsein und Menschlichsein konzentrieren konnten, emergierte ein zwangloser Sozialismus. Mehr zu haben als andere wurde zu einer unsinnigen Vorstellung, was sollte das noch bringen? Unter den nach alter Vorstellung Reichen, vor allem dem sogenannten 1 %, gab es trotzdem sehr unterschiedliche Reaktionen. Einige verstanden die philosophische Unausweichlichkeit der Lebens-Wende sofort und spendeten, solange Geld noch genutzt wurde, alles Kapital, um die Entwicklung der künstlichen Assistenzen zu beschleunigen. Andere hielten an ihrer Ignoranz fest, ließen sich Raumschiffe bauen, verließen beleidigt die Erde und kolonialisierten den Mars.

Als wenige Jahre später Maschinen wirklich sehr effizient übernahmen, was Menschen nicht tun wollten oder konnten, machten Menschen die Erfahrung, dass sich eine weitere unheimliche Angst als unbegründet erwiesen hatte. Die unlimitierte Freizeit, das heißt nicht von Lohnarbeit, sondern Muße bestimmte freie Zeit, verwandelte sie nicht in überfressene, überpflegte und überdrüssige Blobs, die sich zu Tode langweilten, weil ihnen die Werktätigkeit als Sinn des Lebens abging. Selbst katholisch sozialisierte Menschen – auch dieser kritische Hinweis sei bitte noch erlaubt – hatten ja vormals längst kulturell gelernt, die protestantische Werkmoral als das Kreuz des Kapitalismus anzunehmen und zu tragen.

Vielmehr konnten Menschen sich den ganzen Tag über sinnvoll mit Sachen beschäftigen, die im Kapitalismus nicht als Arbeit gegolten hatten: miteinander reden, diskutieren, streiten, träumen, Geschichten ausdenken, erzählen, erinnern, lachen, tanzen, singen, spielen … Nach dem Ende des Kapitalismus konnten sich die Menschen endlich wieder ertragen.

Die Maschinen leisteten gute Arbeit, die Menschen aber hatten die gute Arbeit, weil sie nichts leisten mussten, sondern schaffen konnten.

Was früher Lohnarbeit von Menschen gewesen war, war jetzt Maschinenarbeit oder Neigungstätigkeit von Menschen. Und was früher nur als Lippenbekenntnis bedeutend genannt wurde, die menschliche Kommunikation und tätige Sorge füreinander, machte jetzt ein Menschenleben und das Menschsein aus. Nicht nur junge Menschen lernten, sondern alle Menschen lernten nun permanent, lernten voneinander. Die Lebens-Geschichten bezeugten und ermöglichten dies. Leben war kein ganzheitliches Konzept, sondern ein bewegliches und offenes.

Futuresplaining

Der Gedanke an ihre Ururgroßmutter erfüllte sie mit Stolz, nicht so sehr, weil sie mit ihr verwandt war, sondern weil sie Teil einer Bewegung gewesen war, die jetzt Menschen so frei leben ließ, dass Verwandtschaft weder diskursiv abgewertet noch zur persönlichen Distinktion benutzt wurde. Sie schaute auf die Katze, die unter ihrer streichelnden Hand eingeschlafen war. Gleich würde ein Mitmensch zu Besuch kommen, um das Lernspiel fortzusetzen. Sie saßen dabei gemütlich auf dem Sofa und lernten nicht nur individuell und voneinander, sondern konnten ihre beim Spielen aufkommenden Überlegungen und Kommentare offen zugänglich machen und so die Lebens-Geschichten für alle erweitern. “Futuresplaining”, wie das sehr populäre Spiel hieß, ging so: eine mitspielende Person wählte eine fiktive oder reale Figur der Kulturgeschichte aus und stellte sich als diese vor. In der Art und Weise, wie sie die Figur präsentierte, lag eine Tendenz, diese einzuordnen. Die andere mitspielende Person wurde nun aufgefordert, auf die Figur zu reagieren, wie sie es in einem realen Gespräch tun würde. Sie hatten für heute vereinbart, immer abwechselnd zu re-enacten und zu erklären. Sie würde anfangen:

“Bonjour, ich bin Jean Floressas Des Esseintes, ich bin die Hauptfigur aus dem Roman Gegen den Strich von Joris-Karl Huysmans, veröffentlicht im Jahre 1884. Ich bin Ästhetizist und Menschenfeind, leide an existenzieller Langeweile und Überdruss-Ekel. Gerade habe ich mir einen dekadenten Garten anlegen lassen, in dem nur besonders abscheuliche Pflanzen stehen dürfen, aber mir ist schon wieder langweilig, ich fühle mich sehr erschöpft und krank.”

“Du meine Güte, Jean, was ist dein Problem? Du bist so handlungsarm wie dein Roman. Wenn dein Leben so öde ist, warum legst du den Garten nicht selbst an, statt den Gärtnern beim Arbeiten zuzusehen? Dann würdest du abends erschöpft und beseelt auf der Chaiselongue einschlafen, das kann ich dir ganz ohne medizinische Ausbildung verraten. Aber du bist ganz offensichtlich außerstande, Schaffen nicht als Konsumieren von Stilen zu denken, wie so ein cool boy des späten 20. Jahrhunderts. Dein Leiden – lupenreine male tears!”

Die bewusst maschinell klingend programmierte Stimme der künstlichen Spiel-Assistenz ertönte: “Vielen Dank für deine Erklärung aus der Zukunft, sie ist jetzt in den digitalisierten Lebens-Geschichten abrufbar. Es kann weitergehen.”

“Salut, ich bin Alain de Botton und habe 2009 ein hochgelobtes Buch über Arbeit in der globalisierten Welt geschrieben. Ich bin dafür um die ganze Welt gereist und tief in sonst unsichtbare Sphären der Arbeit eingetaucht.“

“Echt jetzt, Alain, so ein Buch wie deines konnte man nur im späten Kapitalismus schreiben, als man in professionellen Kontexten absurderweise manche Personen immer noch als Frauen etikettierte und sie dann genau deswegen weniger relevant fand. Wie wäre es sonst zu erklären, dass dir in deinem sonst wirklich elaborierten Buch zu Care-Arbeit nur Career Counselling einfällt …“

“Vielen Dank für deine Erklärung aus der Zukunft, sie ist jetzt in den digitalisierten Lebens-Geschichten abrufbar. Es kann weitergehen.”

“Hi, ich bin Audre Lorde und habe Sister Outsider geschrieben. Du kennst das Buch, es wird oft zitiert. Ich lege Wert darauf, dass man mich als Schwarze lesbische Mutter und Dichterin sieht und möchte wissen, ob die Menschen endlich verstanden haben, warum das so ist.”

“Du hast uns die Zukunft erklärt, Audre Lorde, wirklich erklärt, so dass immer mehr Menschen es fühlen konnten. Ohne The Master’s Tools Will Never Dismantle the Master’s House hätten wir nicht die Vorstellungskraft und den Drive entwickelt, das alte System kaputtzudenken. Es gäbe keine Kommunikations-Pflege, keine künstliche Assistenz, keine Lebens-Wende, keine Lebens-Geschichten. Es gäbe immer noch Kapitalismus, Patriarchat, Diskriminierung und entfremdete Arbeit. Oder es gäbe keine Menschheit mehr.”

“Vielen Dank für deine Erklärung aus der Zukunft, sie ist jetzt in den digitalisierten Lebens-Geschichten abrufbar. Es kann weitergehen.”

„Hello, ich bin Graf Dracula, verkörpert von Bela Lugosi im nach mir benannten Film von 1931. An einer Stelle sage ich sehr hintersinnig: ‘To die, to be really dead, that must be glorious! […] There are far worse things awaiting man than death‘. Wie ich lebst du ewig, aber nicht fiktional, sondern wirklich, wie findest du das?”

“Herr Dracula, Sie deuten da wohl an, dass ewiges Leben auf Erden schlimmer als der Tod sei. Bei näherem Hinsehen, so erscheint es mir, ist es aber nicht das Leben selbst, was Sie und andere melancholische Vampire langweilt. Was Ihnen fehlt sind gleichgesinnte Andere. Ihr Problem ist, dass Sie ein konsumeristisches Menschenbild haben. Sie gewinnen Menschen nur durch Täuschung oder Gewalt für sich, wobei diese Ihnen unter den Zähnen wegsterben. Die philosophische Frage, ob Leben per se an Qualität verliert, wenn man es nicht vom Tod her denkt, sondern auch mit ewigem Refill haben kann, lassen Sie unbeantwortet.”

„Vielen Dank für deine Erklärung aus der Zukunft, sie ist jetzt in den digitalisierten Lebens-Geschichten abrufbar. Es kann weitergehen.”

Beobachten, was man nicht wissen kann

Ihr Besuch streichelte gedankenverloren die langsam erwachende Katze und legte eine Spielpause ein. “Ist unser tolles neues ewiges Leben vielleicht zwar nicht langweilig, weil wir Gesellschaft haben, aber trotzdem irgendwie schrecklich?”

“Keine Ahnung, wir sind ja die Eternals, die Ersten, die es haben können, und wir werden es schon herausfinden, gemeinsam, so wie alles. Wir werden es beobachten, uns beobachten und darüber reden, wir werden uns dabei unterstützen, hinterfragen, streiten, versöhnen, bestärken. Und wenn ein Mensch nicht mehr leben will, wird auch das Ende wirklich freiwillig sein, zwanglos, so wie jetzt unser Leben. Man kann in unserer Gesellschaft Sex und Liebe kombinieren oder nicht, ein Kind in der Gebärmutter austragen oder nicht, Kinder bekommen oder nicht, in Familien leben oder nicht, Maschinenarbeit übernehmen oder nicht. Das sind alles keine Beliebigkeiten. Die freie Wahl zu haben, solange dies nicht auf Kosten anderer Menschen oder Tiere geht, bedeutet wirkliche menschliche Autonomie. Und wir wissen ja jetzt, dass wir, um gute Leben zu haben, im Gespräch und in Bewegung bleiben müssen.”

“Ja, da hast du wohl recht. Es ist ein Ausloten beim Kommunizieren. Ich kann zum Beispiel wegen der ökologischen Schäden nicht ständig reisen, aber habe die allen empfohlene Grand Tour auf der Schwelle zum Erwachsenenalter gemacht, um möglichst vielen Menschen, mit denen ich virtuell verbunden bin, einmal die Hand zu reichen. Dadurch, dass wir alle fast ständig miteinander kommunizieren, uns austauschen, gegenseitig auf uns einwirken, sind wir im Vergleich zu den Menschen von vor hundert Jahren wieder Generalistinnen. Es kommt uns merkwürdig vor, dass man damals zugunsten von Konsum darauf verzichtete, möglichst viel über die Welt zu wissen und zu verstehen. Ich selbst kann auch nicht jede Maschine im Detail verstehen, aber ich kann sie mir von den Menschen, die sie geschaffen haben oder anleiten, möglichst gut erklären lassen. Ich könnte nicht jede handwerkliche Arbeit verrichten, aber habe Freude daran, gewisse Sachen selbst bauen und die Konstruktion vieler anderer nachvollziehen zu können. Dass man nicht alles wissen kann, ist kein Grund, sich nicht möglichst viel erzählen zu lassen.”

Die Katze sprang vom Sofa und begann, Kopfbewegungen in Richtung Küche zu machen.

“Menschen geht es gut, seit man Geschichte als Geschichten versteht, wodurch alle Individuen ihren Selbst-Wert und ihre Bedeutung in der Gemeinschaft fühlen. Die Lebens-Geschichten verbinden über alle Sphären und Formate hinweg Menschen so eng und schöpferisch, dass unsere Leben fast literarisch anmuten. Wir leben den Traum des Aristoteles von schöpferischer Muße ohne Lohnarbeit, aber wir sind uns nicht zu fein, auch anderes als Philosophie und Musik Schaffen zu nennen, was vermutlich Marx freuen würde. Wir üben freiwillig Tätigkeiten aus und erzählen davon, wir sind die 27-bändige Encyclopédie, die darin porträtierten Menschen und zugleich Diderot und d’Alembert. Weil wir Muße haben und schöpfen dürfen, ohne zu müssen, weil wir einander gegenseitig Muse sind, will auch niemand mehr Gott spielen. Wir sind Menschen. Vielleicht ist ‘ewig’ ein zu statischer Begriff, vielleicht ist es fortwährendes Leben.”

Sie stand auf.


Autor*in

Christiane Frohmann ist Verlegerin, Autorin und Kulturphilosophin. Sie publiziert zu Ästhetik und Gesellschaft im digitalen Wandel.

Was wäre, wenn…

… Technologie uns die Arbeit abnähme?

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