Konsens sprechen lernen

Dass Nein Nein heißt, soll­te Ver­hal­tens­grund­la­ge sein. Doch eman­zi­pa­to­ri­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on ver­langt mehr: die Suche nach dem gemein­sa­men Vielfachen. Ein Beitrag von Mithu Sanyal.
reden frauen konsens
Aus dem 2. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn Feminismus nicht mehr nötig wäre?

Seit Beginn der #metoo Debat­te sit­ze ich gefühlt durch­ge­hend auf Podi­en und dis­ku­tie­re über Sex und sexu­el­le Gren­zen und wie wir die­se ein­hal­ten. Vor kur­zem hob ein jun­ger Mensch aus dem Publi­kum die Hand und frag­te: ​„Was kann man denn über­haupt noch machen?“ 
Das ist nicht das ers­te Mal, dass die­se Fra­ge bei Ver­an­stal­tun­gen gestellt wird, häu­fig auch in der Vari­an­te: ​„Was kann man denn über­haupt noch sagen?“ (Sel­te­ner ​„Wie kann man denn über­haupt noch flir­ten?“ Aber auch das ist schon vor­ge­kom­men) Und es ist auch nicht das ers­te Mal, dass blitz­schnell die Ant­wort kommt: ​„Alles ist erlaubt, solan­ge es nicht sexis­tisch oder ras­sis­tisch ist.“

Nun ist das eine gute Selbst­ver­pflich­tung – ver­su­che, kein Arsch­loch zu sein! – aber als Ver­hal­tens­richt­li­nie nicht ganz so nütz­lich. Zumin­dest in mei­ner Bub­ble ken­ne ich nie­man­den, der von sich sagen wür­de: Ich bin stolz dar­auf, dass ich so ras­sis­tisch und/​oder sexis­tisch bin. 
Und trotz­dem sind wir es immer wie­der. Die Auf­for­de­rung ​„Hör auf es falsch zu machen“ reicht also nicht aus. Was wir brau­chen ist mehr.

Was wäre, wenn wir alle flie­ßend Kon­sens sprächen?

Kon­sens ist das, was alle wol­len, von dem aber kei­ner so recht weiß, was er nun genau ist. Des­halb müs­sen wir die­se Fra­ge durch­aus ernst neh­men: Wie kön­nen wir Kon­sens lernen?

Wenn wir Kon­sens sagen, mei­nen wir in der Regel damit, dass wir einer Mei­nung sein wol­len. Und das ist super, wenn wir einer Mei­nung sind. Sobald es einen (Interessens)Konflikt gibt, hilft es uns aber nicht wei­ter. In einem Satz: Wir wol­len Kon­sens haben, aber ihn nicht her­stel­len.

Damit nie­mand denkt, ich hät­te den Kon­sens mit Löf­feln geges­sen, möch­te ich an die­ser Stel­le klar­stel­len, dass das meis­te was folgt, auf der Arbeit von Joris Kern (www​.kern​for​schen​.de) beruht. Kern unter­schei­det zwi­schen einer Kom­pro­miss­kul­tur — also der, in der wir alle groß gewor­den sind – und Kon­sens­kul­tur. Kom­pro­miss­kul­tur heißt, dass bei einem Kon­flikt alle Sei­ten etwas auf­ge­ben und sich in der Mit­te tref­fen. Also, wenn mein Sohn Geld von mir möch­te, um sich Oran­gen­saft zu kau­fen, und ich will, dass er für sei­ne Mathe­ar­beit lernt, wäre der Kom­pro­miss, dass er eine hal­be Fla­sche Saft kauft und die Häf­te sei­ner Auf­ga­ben lernt. Ist irgend­je­mand glück­li­cher? Das hat­te ich auch nicht erwartet.

Das Bei­spiel ist nur halb so absurd, wie es sich anhört, denn bei Kom­pro­mis­sen sind in der Regel alle unglück­lich — nur halt nicht all­zu unglück­lich. Man trifft sich auf dem kleins­ten gemein­sa­men Nen­ner und beißt die Zäh­ne zusammen.

Kon­sens­kul­tur dage­gen sucht nach dem größ­ten gemein­sa­men Viel­fa­chen. Sie basiert, so Kern, auf der Über­zeu­gung, dass ​„ver­schie­de­ne Bedürf­nis­se oder Wün­sche nicht per se in Kon­kur­renz zuein­an­der, son­dern Teil eines noch zu gestal­ten­den gemein­sa­men grö­ße­ren Bil­des“ sind. Kein Pro­blem bei Oran­gen­saft und Mathe, aber wie sieht das bei kom­ple­xe­ren Bedürf­nis­kon­stel­la­tio­nen aus?

Sagen, was man will

Auch dafür ist es not­wen­dig, über­haupt erst ein­mal zu wis­sen, was alle Sei­ten eigent­lich wol­len. Und das setzt vor­aus, dass alle das sagen. Und vor allem erst ein­mal wis­sen! Im wirk­li­chen Leben – ver­sus der idea­len Welt die­ses Arti­kels – wis­sen wir aber häu­fig kei­nes­wegs, was wir wol­len. Ganz im Gegen­teil wird uns das von früh auf abtrai­niert, nach dem Mot­to: Stell dich nicht so an, du bist so kompliziert …

Nach die­sem Modell ist nett, wer über sich selbst hin­weg­geht. Ich hat­te eine sehr net­te Mut­ter. Eine sehr, sehr net­te Mut­ter. Und ich kann sagen, dass es nicht ein­fach ist, mit Men­schen zusam­men­zu­le­ben, die stän­dig Opfer für dich bringen.

Im Gegen­zug gel­ten Men­schen, die sich dafür ein­set­zen, was sie wol­len, als irgend­wie ​„schlech­ter“. Und wenn es dabei bleibt, dass sie halt ihren Wil­len durch­set­zen, ist das natür­lich kei­ne Kon­sens­kul­tur. Aller­dings ist zu sagen, wo man steht und was man will, die abso­lut not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung, um über­haupt zu einem Kon­sens kom­men zu kön­nen. ​„In der Kon­sens­fin­dung sind die ursprüng­li­chen Wün­sche oder Posi­tio­nen kei­ne Begren­zung, son­dern ein Start­punkt“, führt Kern aus. ​„Man zer­legt die Wün­sche und Bedürf­nis­se in immer genaue­re Bau­stei­ne, um dann aus dem ent­stan­de­nen gro­ßen Puz­zle eine Lösung zusam­men­zu­bau­en. Wich­ti­ge Bedürf­nis­se nicht zu äußern, macht es ande­ren schwer bis unmög­lich, die Bedürf­nis­se aller bei der Erar­bei­tung einer Lösung mitzudenken.“

Die Spiel­ar­ten der Neins 

Dazu muss dann der nächs­te Schritt gemacht wer­den und die Bedür­nis­se der ande­ren genau­so wich­tig genom­men wer­den wie die eige­nen. Genau­so. Aber eben nicht mehr. Oder weni­ger. Kon­sens bedeu­tet näm­lich auch, sich davon frei zu machen, ande­ren Men­schen ihre Bedürf­nis­se befrie­di­gen zu müs­sen. Und zwar SO WIE SIE SIND. Denn das Ergeb­nis eines Kon­sens­pro­zes­ses ist häu­fig über­ra­schend und kei­nes­wegs das, was die eine Sei­te getan hät­te, wenn sie die Gedan­ken (sprich Bedürf­nis­se) der ande­ren Sei­te gele­sen hätte.

Des­halb bin ich so ent­setzt über vie­le Kon­sens­se­mi­na­re, vor allem an Schu­len, bei denen Mäd­chen bei­gebracht wird, Nein zu sagen, und Jun­gen, das Nein zu akzep­tie­ren — und das war’s! Die­se Semi­na­re setz­ten nicht da an, dass sich Men­schen – und das bedeu­tet in die­sem Fall Mäd­chen – über ihre eige­nen Bedürf­nis­se klar wer­den sol­len. Statt­des­sen ver­mit­teln sie ein sexu­el­les Sze­na­rio, in dem Jun­gen den sexu­el­len Laden schmei­ßen und Mäd­chen ein Veto­recht haben, was alle Sei­ten klei­ner macht, inklu­si­ve der Sexualität.

Aber ist Nein denn nicht wich­tig? Aber hallo! 

Ich fin­de schon lan­ge, dass wir eine Nein-Alpha­be­ti­sie­rungs­kam­pa­gne brau­chen. Wenn ich das auf Panels sage, wird es immer ganz still im Raum, weil alle Angst haben, der nächs­te Satz wäre, dass ​„Nein“ in Wirk­lich­keit doch ​„ja“ heißt oder ​„viel­leicht“ oder ​„über­re­de mich“. Des­halb gebe ich es hier­mit schrift­lich: Natür­lich gibt es ein Nein, bei dem alles sofort stop­pen soll­te. Joris Kern nennt das das Not­fall-Nein. Es ist das Nein, das wir erst äußern, wenn wir bereits mit dem Rücken an der Wand ste­hen. Und für vie­le Men­schen ist das das ein­zi­ge Nein, das sie haben. Weil wir – Stich­wort: Alpha­be­ti­sie­rungs­kam­pa­gne — kei­ne ande­ren ler­nen. Des­halb ist Nein auch so bedroh­lich für uns, weil wir dann nicht wei­ter wis­sen, außer sofort alles ste­hen und lie­gen zu las­sen und die Flucht zu ergreifen.

Nein spre­chen lernen

Dabei ist Nein erst ein­mal eine Infor­ma­ti­on. Und zwar eine wich­ti­ge Infor­ma­ti­on: Nicht so. 

Wie gesagt, bei einem Not­fall-Nein gibt es danach kei­ne Dis­kus­sio­nen. Die­ses Nein ist das Safe-Word unter den Kon­sens­wor­ten. Doch es ist kein Zufall, dass die meis­ten Safe-Wör­ter eben nicht Nein sind, son­dern Piz­za oder Rum­pel­stilz­chen, damit sie nicht mit all den ande­ren Neins auf dem Weg zum Kon­sens ver­wech­selt wer­den. Bei die­sen Neins – eben­so wie bei vie­len Jas – fängt das Gespräch erst an. Gar nicht? Oder so nicht? War­um nicht? Oder auch: Wie dann?

Neben­bei kön­nen wir auch nur, wenn wir sel­ber ja und nein und ich brau­che sagen kön­nen, in die Kon­flik­te von ande­ren kon­struk­tiv ein­grei­fen und nicht ein­fach nur panisch schrei­en: Du hast Recht ver­sus du bist falsch. Son­dern statt­des­sen fra­gen: Was wollt ihr? Was braucht ihr? Schließ­lich geht es in Kon­flik­ten häu­fig nicht um die Inhal­te, son­dern um die im Ver­lauf ent­stan­de­nen Ver­let­zun­gen, wes­halb wir umso här­ter gegen ande­re Men­schen vorgehen. 

Über Bedürf­nis­se, Wün­sche, Phan­ta­si­en reden: Nichts ein­fa­cher als das.

Als ich vor vie­len Jah­ren ein­mal mit einem dama­li­gen Lieb­ha­ber Sex initi­ie­ren woll­te, stieß er mei­ne Hand mit einem schrof­fen ​„Lass das“ zurück. Ich war ver­blüfft, weil ich bis dahin davon aus­ge­gan­gen war, dass von mir lieb­kost zu wer­den, ein Geschenk sei. Ein Geschenk, das man viel­leicht nicht immer woll­te, aber nichts­des­to­trotz ein Geschenk. Also sag­te ich: ​„Von mir lieb­kost zu wer­den, ist ein Geschenk. Ein Geschenk, das du viel­leicht gera­de nicht willst, aber nichts­des­to­trotz ein Geschenk. War­um sagst du nicht ein­fach: Nein, danke?“
Und er ant­wor­te­te: ​„Ich habe gelernt, dass Nein Nein heißt.“

Neh­men wir uns ernst!

Müs­sen wir also immer ​„Nein dan­ke“ sagen? Kei­nes­wegs. Aber es wäre erstre­bens­wert, wenn wir es könn­ten. Weil – und das ist das Erstre­bens­wer­tes­te dar­an – das bedeu­tet, dass wir uns wohl und sicher in unse­rem Nein füh­len und es unse­rem Gegen­über des­halb nicht um die Ohren klat­schen müs­sen. Denn ein Nein ist ein Geschenk, ein Zei­chen, dass wir uns gegen­sei­tig ernst nehmen. 

Doch auch ein ​„Ich möchte/​brauche/​will …“ ist ein Geschenk, weil wir uns ver­letz­lich machen, indem wir offen über unse­re Bedürf­nis­se spre­chen. Schließ­lich kön­nen wir nur dann zurück­ge­wie­sen wer­den. Wes­halb sich vie­le Men­schen lie­ber hin­ter ​„objek­ti­ven“ Grün­den ver­ste­cken, war­um ihr Bedürf­nis rich­tig ist und Leu­te, die ande­rer Mei­nung sind, halt irgend­wie das fal­sche Bewusst­sein haben. Sogar Men­schen, die nicht dog­ma­tisch dar­auf behar­ren, dass das, was sie gut fin­den, auch gut ist, tun dies. Das geht auf den Phi­lo­so­phen Jür­gen Haber­mas zurück und sein deli­be­ra­ti­ves Modell der Aus­ein­an­der­set­zung, nach dem ein (poli­ti­scher) Kon­flikt ein ratio­na­ler Aus­tausch sei, bei dem schließ­lich das bes­te Argu­ment siegt. Bloß bedeu­tet das in der Pra­xis, dass sich die Über­stimm­ten auch noch schä­men müs­sen, weil sie offen­sicht­lich die fal­schen Argu­men­te hatten.

Noch eine Anek­do­te zum Schluss: Wäh­rend ich die­sen Text schrieb, hat­te ich eine Aus­ein­an­der­set­zung (also einen Streit) mit mei­nem Liebs­ten. Ich sage jetzt nicht, wor­um es ging, nur, dass ich mir dach­te: Pri­ma, eine Gele­gen­heit Kon­sens zu üben. Und bat ihn, mir zu erklä­ren, was er woll­te, und mir danach zuzu­hö­ren, was ich woll­te – was kein Pro­blem war. Viel schwie­ri­ger war, nicht sofort eine Lösung anzu­bie­ten; Schließ­lich brau­chen wir für eine ech­te Lösung erst alle Informationen. 

Es war ver­blüf­fend, wie schnell wir zu einem Ergeb­nis kamen, und noch ver­blüf­fen­der, dass er danach irgend­wann ner­vös wur­de. ​„Aber was muss ich denn jetzt dafür leis­ten?“ frag­te er schließ­lich unru­hig, da er gelernt hat­te, dass man für einen Kom­pro­miss immer etwas bezah­len muss. 

Dabei war für mich in die­sem Moment – eben­so wie für die meis­ten von uns — allei­ne in mei­nen Bedürf­nis­sen wahr­ge­nom­men zu wer­den, schon umwer­fend. Joris Kern erklärt, dass das sogar hei­lend sein kann. Weil es so sel­ten ist. 

Lasst uns dafür sor­gen, dass es häu­fi­ger wird!

Kon­sens als Kern des guten Lebens

Wäre das schon eine Welt, in der der Femi­nis­mus nicht mehr not­wen­dig ist? Kei­ne Ahnung. Aber es wäre ein guter Schritt dahin. Doch dann sind die Femi­nis­men für mich sowie­so nur ein Ana­ly­se­instru­ment, das wir dann/​jetzt halt noch auf ande­re Bezie­hun­gen anwen­den kön­nen, zum Bei­spiel auf unser Ver­hält­nis zu ande­ren Spe­zi­en und Lebens­for­men. Wie kön­nen wir mit der Welt um uns her­um genau­so respekt­voll inter­agie­ren wie wir uns das mit­ein­an­der wün­schen? Aber viel­leicht ist das ja auch eine Fra­ge von Kon­sens. Erst vor kur­zem wur­de den Flüs­sen in Vic­to­ria, Aus­tra­li­en, dem Whan­ga­nui River in New Zea­land sowie dem Gan­ges und dem Yamu­na in Indi­en Men­schen­rech­te zuge­spro­chen, damit gegen Leu­te und Unter­neh­men, die sie ver­schmut­zen, genau­so vor­ge­gan­gen wer­den kann, als wür­den sie einem Men­schen Scha­den zufügen. 

Wie auch immer wir es nen­nen, wir brau­chen es, um wei­ter dar­über nach­zu­den­ken, wie wir mit­ein­an­der leben wol­len, ja wie wir leben wollen.


Autor*in

Dr. Mit­hu M. San­y­al ist Kul­tur­wis­sen­schaft­le­rin und Jour­na­lis­tin. Sie schreibt über die The­men Sex, Gen­der, Macht und Ras­sis­mus, u.a. in ihrer taz-Kolum­ne ​„Mit­hulo­gie“. Zudem ist sie Autorin meh­re­rer Bücher. Zuletzt erschien von ihr ​„Ver­ge­wal­ti­gung. Aspek­te eines Ver­bre­chens“ (Nau­ti­lus).

Was wäre, wenn…

… Feminismus nicht mehr nötig wäre?

Im 2. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Feminismus. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.

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