“Es gibt keine männliche Erbschuld, aber eine aktuelle Verantwortung”

Mar­kus Theu­nert war der ers­te staat­li­che Män­ner­be­auf­trag­te im deutsch­spra­chi­gen Raum. Im Gespräch erklärt er, wie ein Para­dig­men­wech­sel in der Geschlech­ter­po­li­tik gelingt. Ein Interview, geführt von Nils Pickert.
feminismus
Aus dem 2. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn Feminismus nicht mehr nötig wäre?

Die Aus­gangs­fra­ge für die­ses Inter­view lau­tet ​“Was wäre, wenn Femi­nis­mus nicht mehr nötig wäre”. Um sich die­ser Fra­ge zu nähern wür­de ich zunächst ger­ne von dir wis­sen, was Femi­nis­mus für dich bedeutet?

Gute Fra­ge. Maen​ner​.ch, der Ver­band für den ich tätig bin, ver­steht sich als Dach über pro­fe­mi­nis­ti­sche und eman­zi­pa­to­ri­sche Kräf­te und Bewe­gun­gen. Es gibt zwar Unter­schie­de zwi­schen einer pro­fe­mi­nis­ti­schen und einer eman­zi­pa­to­ri­schen Män­ner­ar­beit, aber bei­de tei­len die glei­chen Prä­mis­sen. Das klei­ne Ein­mal­eins des Femi­nis­mus so wie ich es ver­ste­he. Das, was allen Femi­nis­men gemein ist: Man wird nicht als Mann gebo­ren, man wird dazu gemacht. Gen­der ist immer ver­bun­den mit Macht und Herr­schaft. Geschlechts­neu­tra­les Han­deln gibt es nicht. Das reicht in der Pra­xis als Minimalde­fi­ni­ti­on. Für uns ist wich­tig, dass wir Män­nern eine Brü­cke in eine geschlech­ter­ge­rech­te Gesell­schaft bau­en kön­nen, ohne dass sie sich selbst als femi­nis­tisch bezeich­nen müs­sen. Das Han­deln ist für uns ent­schei­dend, nicht das Label. 

Bezeich­nest du dich selbst als Femi­nist oder ist das nur ein Label, das von außen an dich her­an­ge­tra­gen wird?

Mir ist das gar nicht so wich­tig. Wenn man davon aus­geht, dass mit Femi­nis­mus eine bestimm­te Erfah­rung ver­knüpft ist, zum Bei­spiel als Frau weni­ger gehört und gese­hen zu wer­den, dann ist es eh unmög­lich als Mann Femi­nist zu sein. Dann bleibt nur die pro­fe­mi­nis­ti­sche Rol­le. Aber inso­fern Femi­nis­mus bestimm­te Din­ge ein­for­dert, weil Geschlecht mit Macht ver­bun­den und sozi­al kon­stru­iert ist, bin ich wohl Femi­nist. Mir ist der Pro­zess wich­ti­ger, die Bereit­schaft, mich als Mann in Fra­ge zu stel­len. Die Ver­un­si­che­rung dar­über zulas­sen, nicht zu wis­sen, ob ich das, was ich noch als genu­in männ­lich erle­be, nicht doch los­las­sen sollte.

Inwie­weit ist Femi­nis­mus heu­te nötig?

Sehr. Für mich hat sich die Ant­wort auf die­se Fra­ge in den letz­ten 5 Jah­ren ver­än­dert. Nicht inhalt­lich. Aber ich mer­ke, dass ich ein mitt­ler­wei­le ein Bedürf­nis habe, völ­lig klar zu sein was die Bünd­nis­fra­ge angeht. Pro­gres­si­ve Män­ner sind Bünd­nis­part­ner für die femi­nis­ti­sche Bewe­gung, ohne Wenn und Aber. Das hät­te ich vor 5 Jah­ren so noch nicht for­mu­liert. Für mich hat das schon so etwas von Zusam­men­rü­cken ange­sichts eines erstar­ken­den ​„äuße­ren Fein­des“ Femi­nis­mus ist für mich als Stra­te­gie unver­zicht­bar. Eigen­stän­di­ge män­ner­po­li­ti­sche Bei­trä­ge als Tak­tik eben­so. Gera­de im zwei­ten Punkt wür­den mir natür­lich nicht alle Femi­nis­tin­nen zustimmen.

Gibt es eine Art Femi­nis­mus, die du ablehnst?

Ich habe mich am staat­li­chen Gleich­stel­lungs­fe­mi­nis­mus ziem­lich abge­ar­bei­tet und mei­ne Erfah­run­gen damit als Män­ner­be­auf­trag­ter von Zürich in mei­nem Buch Co-Femi­nis­mus dar­ge­legt. Ich hal­te den Gleich­stel­lungs­fe­mi­nis­mus staat­li­cher Prä­gung für ein grund­sätz­lich gefähr­li­ches Unter­fan­gen, weil er nicht Eman­zi­pa­ti­on för­dert son­dern Imi­ta­ti­on. Also die Anglei­chung von Frau­en an männ­li­che Erwerbs­bio­gra­fi­en und Lebens­ent­wür­fe. Mit dem Effekt, dass am Ende die best­aus­ge­bil­dets­ten Frau­en den best­aus­ge­bil­dets­ten Män­nern gleich­ge­stellt sind, aber das mit sozia­ler Gerech­tig­keit und Chan­cen­gleich­heit nichts zu tun hat.

Also eine Art Femi­nis­mus, der sich nicht um Haus­frau­en küm­mert und nicht im Blick hat, dass Care-Tätig­kei­ten grund­sätz­lich auf­ge­wer­tet wer­den müssen?

Und noch mehr. Mein Haupt­vor­wurf ist der, dass die Quan­ti­fi­zie­rung von Gerech­tig­keit nicht hilf­reich ist, weil Gerech­tig­keit mehr ist als die glei­che Ver­tei­lung von Macht und Geld. Die­ser Quan­ti­fi­zie­rungs­an­satz von Gleich­stel­lungs­fe­mi­nis­mus ist inter­sek­tio­nal rela­tiv blind. Bei­spiel­wei­se sagt man da, wir wol­len 50 Pro­zent Frau­en im Top­ma­nage­ment. Gute Idee, das fin­de ich auch. Nur ist damit gar nichts erreicht, wenn du jene Frau­en ins Top­ma­nage­ment beför­derst, die bereit sind, die Spiel­re­geln zu akzep­tie­ren und den Ein­tritts­preis. Näm­lich sich wie ein Mann zu ver­hal­ten. Das Patri­ar­chat gibt es also, aber es hat sich trans­for­miert. Es ist nicht mehr die Herr­schaft der Män­ner son­dern des männ­li­chen Prin­zips, Selbst- und Fremd­aus­beu­tung zur Nor­ma­li­tät zu erklä­ren. Selbst- und Fremd­aus­beu­tung dabei immer zusam­men­ge­dacht. Die­se Män­ner, die sich aus­beu­te­risch ver­hal­ten, tun das auch sich selbst gegen­über. Momen­tan haben wir die Situa­ti­on, dass immer mehr Frau­en das Prin­zip der Fremd- und Selbst­aus­beu­tung über­neh­men. Klar, es macht ja auch Spaß, sich mit Rück­sichts­lo­sig­keit die­se Kon­sum­räu­me zu eröff­nen. Ich wür­de auf indi­vi­du­el­ler Ebe­ne auch nicht sagen ​„Du, jun­ge Frau, darfst dich nicht so ver­hal­ten wie die­se Män­ner da“. Aber auf einer kol­lek­ti­ven Ebe­ne maße ich mir an, nicht bei der Rol­le des pro­fe­mi­nis­ti­schen Ally ste­hen­zu­blei­ben, son­dern zu sagen ​„Wir haben als Män­ner inti­mes Know­how wie Patri­ar­chat funk­tio­niert und wir wol­len die Fal­len, die wir da sehen, auch zur Spra­che brin­gen“. Manch­mal kommt es mir vor, als bezie­he staat­li­cher Gleich­stel­lungs­fe­mi­nis­mus eine Art Schwei­ge­geld. Die nach wie vor männ­lich gepräg­te Poli­tik leis­tet sich die­ses Fei­gen­blatt und gibt ein biss­chen Geld für einen unmög­li­chen Auf­trag: Erreicht Gleich­stel­lung ohne am Sys­tem etwas zu ändern. Mit Gerech­tig­keit hat das nicht viel zu tun. Da kann ich auch die Män­ner­recht­ler ein biss­chen ver­ste­hen: Die Quo­te für Müll­män­ner hat bis­lang noch nie­mand gefordert… 

Wo wir gera­de bei Män­ner­recht­lern sind: Wel­che Grün­de iden­ti­fi­zierst du dafür, femi­nis­ti­sche und eman­zi­pa­to­ri­sche Bemü­hun­gen abzulehnen? 

Bedro­hung! Da ist ganz viel Angst, weil Männ­lich­keit so fra­gil ist. Selbst ein Wer­be­spot von Gil­let­te, der ja eigent­lich recht harm­los ist, wirkt auf die­se Männ­lich­keit bedroh­lich. Wenn du dei­ne Iden­ti­tät dar­auf auf­baust, dass Mann­sein natur- oder gott­ge­ge­ben ist, dann ist das natür­lich eine extre­me Bedro­hung, wenn dir jemand dar­in wider­spricht. Hin­ter die Erkennt­nis ​„Aha, ich wer­de zum Mann gemacht oder mache mich selbst zum Mann“ kann Mann nicht mehr zurück­tre­ten. Die­se Form von geschlech­ter­po­li­ti­scher Nai­vi­tät wol­len vie­le ein­fach nicht auf­ge­ben. Da kom­men dann die übli­chen Abwehr­stra­te­gi­en wie ​„Es geht doch nicht um Män­ner son­dern um Men­schen“ und ​„Mann muss doch Män­ner mal Män­ner sein las­sen“, weil die­se Män­ner kei­ne ande­ren Per­spek­ti­ven sehen. Dafür habe ich wie­der­um Ver­ständ­nis, weil es zumin­dest kei­ne ein­fa­chen Per­spek­ti­ven gibt. Was ist denn das Ange­bot? Außer dass du dich schmerz­haft dar­an abar­bei­test, wie unter die­sen patri­ar­cha­len Rah­men­be­din­gun­gen Mann­sein erfreu­lich gestal­test? Schwie­rig. Es ist eben auch eine sehr res­sour­cen­in­ten­si­ve, pri­vi­le­gier­te Situa­ti­on, die Mann dazu befä­higt, jen­seits tra­di­tio­nel­ler Pfa­de ein gelin­gen­des, moder­ne­res Mann­sein zu ent­wi­ckeln. Und dann gibt es Wider­stand. Aber es gibt auch vie­le, die Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit befür­wor­ten. Die Situa­ti­on ist ergeb­nis­of­fen. Die ​„angry white man“ pau­schal abzu­wer­ten als Reak­tio­nä­re: Das ist jeden­falls nicht hilf­reich. Ihre Ver­lustangst ist real und gehört ernst genommen. 

Stellst du dich hin­ter die For­de­rung, dass femi­nis­ti­sche und eman­zi­pa­to­ri­sche Bemü­hun­gen mehr Anstren­gun­gen unter­neh­men müs­sen, um Män­ner abzuholen?

Grund­sätz­lich schon. Man muss ein­fach zuerst prü­fen, ob die­se For­de­rung nicht bloss geschickt ver­pack­ter Wider­stand ist, um die gan­ze Sache aus­sit­zen zu kön­nen. Dann geht es dar­um zu fra­gen: Wie kön­nen wir Män­ner zu eigen­mo­ti­vier­ten Akteu­ren in die­sen Fra­gen machen? Wie kön­nen wir ihre Sehn­sucht nach gerech­ten Geschlech­ter­ver­hält­nis­sen wecken? Dafür braucht es eine Hal­tung, die an Män­ner glaubt, Ver­trau­en hat. Das geht über die Ally-Rol­le hin­aus. Dafür braucht es pro­gres­si­ve Män­ner­ar­beit und –poli­tik.

Wie­der­um: Man muss Män­ner und ihren Wider­stand auch ernst neh­men. Denn effek­tiv wird Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit viel zu sehr auf Frau­en­för­de­rung ver­engt – gera­de auch von den (männ­li­chen) poli­ti­schen Auf­trag­ge­bern. Man bleibt in die­ser Ebe­ne von Erwerbs­ar­beit, Macht und Geld hän­gen und blen­det die gan­ze Ebe­ne von unbe­zahl­ter Arbeit, Arbeits­auf­tei­lung und Defi­ni­ti­ons­macht im häus­li­chen, emo­tio­na­len, sozia­len und auch sexu­el­len Bereich aus – zumin­dest von staat­li­cher Sei­te. Da haben die Män­ner allen Grund, miss­trau­isch zu sein. Ihre Anlie­gen gel­ten als nicht för­de­rungs­wür­dig. Des­halb braucht es auch eine gewis­se Anwalt­schaft­lich­keit. Män­ner müs­sen Ver­trau­en gewin­nen, dass sie nicht nur Instru­men­te sind für eine Ver­än­de­rung, die irgend­wem sonst dient, son­dern dass die Ver­än­de­rung für sie einen Wert an sich hat. Das heißt, dass sie eben nicht eine Art Erb­schuld abtra­gen müs­sen, son­dern ihre heu­ti­ge Ver­ant­wor­tung übernehmen.

Wenn wir Femi­nis­mus durch­ge­spielt hät­ten, wenn er nicht mehr not­wen­dig wäre: Wie sähe die Gesell­schaft dann aus?

Ich habe da eine Uto­pie und eine Dys­to­pie. Wenn ich mir vor­stel­le, dass in den gege­be­nen Macht­ver­hält­nis­se und der Spiel­re­geln ein­fach nur mehr Frau­en in Macht­po­si­ti­on kom­men, bleibt wei­ter­hin das bestehen, was ich Nar­ziss­o­kra­tie nen­ne. Wenn wir am Sys­tem der Selbst- und Fremd­aus­beu­tung nichts ändern und die­se nega­ti­ve Selek­ti­on aus­bau­en, durch die vor allem nar­ziss­ti­sche Per­sön­lich­kei­ten in Macht­po­si­tio­nen über­le­ben, dann hät­ten wir am Ende ein­fach eine Koali­ti­on von nar­ziss­ti­schen Män­nern und Frau­en, die unse­re Geschi­cke bestim­men. Das fin­de ich eine hoch­gra­dig beängs­ti­gen­de Vor­stel­lung. Die Uto­pie wäre, wenn es gelin­gen wür­de, das patri­ar­cha­le Prin­zip in ein nach­hal­ti­ges Prin­zip zu trans­for­mie­ren. Also ein Para­dig­men­wech­sel auf ver­schie­de­nen Ebe­nen, bei dem alle pro­gres­si­ven Kräf­te ein­ge­bun­den sind. Das wür­de ger­ne erle­ben. Auf Män­ner bezo­gen hie­ße das, sich vom Leis­tungs­dik­tat zu befrei­en, nicht immer Leis­tung per­for­men zu müs­sen. Die Uto­pie wäre die Abkehr von die­ser ein­sei­ti­gen Leis­tungs­ori­en­tie­rung. Leis­tung gäbe es natür­lich immer noch, aber der tol­le Mann wäre dann genau­so wie die tol­le Frau nicht mehr ein/​e Superperformer/​in, son­dern die, die Leis­tung mit Nach­hal­tig­keit und Care-Tätig­keit verbinden.

Abschlie­ßend eine per­sön­li­che Fra­ge: Wie viel arbei­test du mit Frau­en und wie viel mit Män­nern? Ich spre­che oft vor und mit Frau­en, die mehr­heit­lich nicken und mir dar­in zustim­men, dass es für Män­ner an der Zeit ist, sich von alten Rol­len­bil­dern zu eman­zi­pie­ren. Ich errei­che aber nur sel­ten die Män­ner, die sich zurück­leh­nen und sagen ​„Nee, nicht mit mir!“. Wie sind da dei­ne Erfahrungen?

Durch­wach­sen. Bei mir ist das zwar in etwa aus­ge­gli­chen, aber auch bei den Män­nern kom­men natür­lich eher die pro­gres­si­ven zu uns. Also die mit der Bereit­schaft, sich zu ver­un­si­chern und Geschlecht zu gestal­ten. Die ande­ren erreicht man schwer. Wenn ich wüss­te wie das geht, wür­de ich es dir ver­ra­ten, aber dafür habe ich lei­der kein Erfolgs­re­zept. Sicher ist nur: Appel­lie­ren allein reicht nicht. 


Interview

Mar­kus Theu­nert ist Gene­ral­se­kre­tär von männer.ch, dem Dach­ver­band der Schwei­zer Män­ner- und Väter­or­ga­ni­sa­tio­nen. Zuvor hat­te er die Män­ner­zei­tung gegrün­det, war Mit­in­itia­tor des Schwei­zer Väter­tags und von 2007 bis 2012 Mit­glied der Eid­ge­nös­si­schen Kom­mis­si­on für Frauenfragen. 

Nils Pickert schreibt als Jour­na­list vor allem über Kin­der, Erzie­hungs­fra­gen und Gleich­be­rech­ti­gung. Für die femi­nis­ti­sche NGO Pink­stinks, die sich gegen Sexis­mus enga­giert, arbei­tet er als Chef­re­dak­teur und kon­zi­piert dar­über hin­aus Kam­pa­gnen und Bildungsmaterialien. [Bild: Benne Ochs]

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Im 2. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Feminismus. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

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