“Neuverteilung in der Stadt ist ein Muss!”
Johanna Schelle, Reallabor Radbahn, Interview vom 9.5.2022
Zuerst einmal, was ist ein Reallabor? Und wie seid ihr entstanden?
Ein Reallabor ist eine Methode, wie man die innovative Stadt in einem temporären Zeitraum auf die Straßen bringen kann. Das Reallabor Radbahn gibt es seit 2019, aber man muss immer zurück auf 2014/2015 blicken, denn damals entstand die Idee der Radbahn aus einem Treffen von befreundeten Architekten, Human-Geografen und Stadtplanern. Sie trafen sich regelmäßig und einmal regnete es und der Treffpunkt war Kreuzberg. Einer von ihnen kam sehr nass zu dem Meeting und meinte, ‘es wäre so cool, wenn wir einfach unter dem Viadukt der U1 fahren könnten.’ Denn dann wäre er beim Treffen trocken angekommen.
(Sicherlich war er nicht der Erste mit dieser Idee, aber aus diesem Zusammenschluss von Freund*innen formierte sich der Verein paper planes e.V., dessen Zweck es ist, Potenziale im Stadtraum zu erforschen und der die Radbahn-Idee organisiert vorantrieb.)
Das heißt: Fahrrad fahren, wo jetzt Autos geparkt sind?
Das Idee war nie, die Radbahn nur 100% von Fahrradfahrenden nutzen zu lassen. Stadtraum soll neu gedacht werden, das ist die oberste Prämisse. Wir sprechen deshalb von einem „Fahrradpark“, weil in einem Park auch verschiedene Nutzer*innen unterschiedlichen Aktivitäten nachgehen und sich Begegnungsräume öffnen. Und mit dem Reallabor kommt jetzt tatsächlich die Radbahn auf die Straße. Erstmal als eine kleinere Strecke zwischen Görlitzer Bahnhof und Kottbusser Tor. Hier kann spielerisch erfahren werden, wie ein solcher Fahrradpark aussehen kann.
Für die Radbahn müssen andere Nutzflächen weichen. Wie rechtfertigt ihr, dass für euere Radbahn Platz gemacht werden muss?
Berlin ist ein interessantes Beispiel, es ist eine sehr große Stadt. Etwas 40% der Verkehrsfläche gehört dem fahrenden Verkehr, 20% gehört dem parkenden Verkehr, nur ca. 3% gehört dem Fahrradverkehr. Insgesamt 60% sind für Autos – und in Berlin hat nicht einmal jeder zweite Haushalt ein Auto. Das halten wir für falsch. Auch auf Landesebene wird dank des Berliner Mobilitätsgesetz in Zukunft mehr passieren, damit mehr Flächen für den Fuß- und Radverkehr freigegeben werden.
Dazu kommt, dass der Anteil von Fahrradfahrenden ständig steigt. Das ist ein Trend, die sich noch weiter entwickeln wird, wenn man dafür die entsprechende Infrastruktur schafft.
Warum ist es wichtig, dass wir Nutzfläche ständig neu denken?
Diese Neuverteilung der Stadt ist ein Muss. Man hat während der Pandemie gesehen: alle Leute wollen raus, aber der Platz im Stadtraum ist begrenzt. Das ist irgendwie konträr zu der früheren zivilen Ordnung, wo man sich viel öfter draußen traf.
Seit der Übernahme des Autoverkehrs in der 1960er-Jahren hat sich das komplett verändert. Die zu Fuß Gehenden und Radfahrenden werden vom Großteil der Fläche ferngehalten. Ich finde, wo sich das gut zeigt, sind Spielplätze. Früher haben Kinder auf den Straßen gespielt und heute werden sie eingezäunt. Spielplätze sind ziemlich traurig für Kinder, aufgrund der eingeengten stadträumlichen Zone, wo man sich noch frei bewegen darf. Es wäre schön, wenn man die Stadt wieder ein bisschen öffnen könnte.
Wer ist in die Lage, Raum für den Radbahn zu schaffen? Wem gehören die Flächen und wer sollte darüber entscheiden?
Ganz konkret sind wir unter dem Hochbahnviadukt tätig. Dort gehören die Flächen dem Bezirk (Friedrichshain-Kreuzberg). Es gibt dann auch noch die BVG, der die Bahnhöfe gehören oder den Denkmalschutz, der sagt wir dürfen nicht an die Stahlkonstruktion, was viele Gestaltungsmöglichkeiten ausgrenzt.
Das sind viele Stakeholder, mit vielen verschiedenen Perspektiven. Deshalb wollen wir ganz vehement die Bevölkerung, die Bürgerinnen und Bürger, die in den angrenzenden Kiezen der Radbahn wohnen, an dem Prozess beteiligen. Ich glaube sehr viel könnte passieren mit öffentlichem Druck.
Deswegen wäre es ein großer Gewinn, wenn man erstmal die Anwohner*innen davon überzeugen kann, dass die Radbahn nicht nur ein Radweg ist. Wir möchten Leute dazu bringen, ein bisschen anders über den Raum vor ihrer Tür nachzudenken. Da sind wir auch bei dem Stichwort ‚Platz machen‘; Menschen dazu zu sensibilisieren, dass sie mündige Bürger*innen sind und mehr Mitspracherecht haben.
Wir brauchen eine Art bürgerliche Lobbyarbeit. Aber auch eine Lobbyarbeit über Parteigrenzen hinweg. Wir sind nämlich davon überzeugt, dass jeder etwas von der Radbahn hat.
Am 18. Juni findet der sechste Tag der Offenen Gesellschaft statt. Unter dem Motto ‚Platz machen!‘ diskutieren wir in ganz Deutschland über Willkommenskultur und Barrierefreiheit, über faire Chancen für alle und gerechte Mitsprache. Auch mitmachen? Meldet euch an auf www.tdog22.de!