Platz machen… für Barriere-Freiheit!

„So, das ist jetzt mein Raum und ihr hört mir zu.“ Laura Gehlhaar ist Autorin, Aktivistin und Coach. Sie schreibt über ihr Leben als Mensch im Rollstuhl und setzt sich für mehr Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Gesellschaft ein. Für den Tag der Offenen Gesellschaft haben wir sie zum Interview getroffen.

Foto: Marco Ruhlig

„So, das ist jetzt mein Raum und ihr hört mir zu.“

Interview vom 02.06.2022

Laura Gehlhaar, was bedeutet es für dich, Raum zu haben oder einzunehmen?

Aus der Perspektive einer behinderten Frau – also ich bin Rollstuhlfahrerin – habe ich nur sehr wenig Auswahl bzw. Möglichkeiten, Räume einzunehmen. Denn natürlich müssen diese Räume bestimmte Voraussetzungen haben, sodass ich sie erstens betreten kann, aber natürlich auch, dass ich sie mitgestalten kann. In der Behinderten-Aktivist*innenszene spricht man ganz oft davon: Räume müssen an behinderte Menschen abgegeben werden und behinderte Menschen müssen Räume besetzen, damit sie gehört werden.

Es ist spannend, dass du sagst: Räume müssen abgegeben werden. Aber viel spannender ist natürlich, dass Räume besetzt werden können.

Was ich daran frustrierend finde ist, wenn man davon spricht, dass Räume abgegeben werden an Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind. Weil dann bin ich in diesem Moment von privilegierten Menschen abhängig. Ich glaube aber, dass ich mich dazu selbst empowern kann, mich berechtigt zu fühlen, Räume selber einzunehmen. Das ist für behinderte Menschen gar nicht leicht. Also muss ich meinen eigenen, internalisierten Ableismus ablegen. Mit dem bin ich groß geworden: Ich soll immer leise sein, soll immer dankbar sein, soll demütig sein. Das muss ich ablegen, das muss ich verlernen. Und erst dann kann ich mich selbst ermächtigen, auch wirklich in Räume reinzupreschen und zu sagen: „So, das ist jetzt mein Raum und ihr hört mir zu“.

Du hast mal gesagt, dass es bei Barrierefreiheit nicht um Wohlfahrtsthemen geht. Sondern dass Inklusion ein Menschenrecht ist. Was meinst du damit?

In unserer, ich sage es mal „deutschen Gesellschaft“ ist Barrierefreiheit natürlich Schwarz auf Weiß in Gesetzen niedergeschrieben. Wir haben seit 2009 bzw. 2008 die UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland auch umgesetzt werden sollte. Dort steht klar drin, was zu tun ist, damit Behinderte Menschen in Deutschland von Diskriminierung nicht oder weniger betroffen sind. Aber die Umsetzung dieser Gesetze passiert gefühlt eher aus einer Lust und Laune heraus, mehr als dass es einem Recht folgt. So ist es heute immer noch möglich, dass Regelschulen, Gymnasien oder Oberschulen nicht barrierefrei sein müssen – sie müssen es einfach nicht. Ich frage mich, wo dann ein starkes Anti-Diskriminierungsgesetz zu finden ist, das mir als behinderter Schülerin den Rücken stärkt, sodass ich das Recht habe, auf ein Gymnasium zu gehen und dort Abitur zu machen. Ich verstehe es einfach nicht und ich kann das nicht wirklich greifen.

Das ist eine klare Ansage an Politiker*innen. Wer kann sonst noch Platz machen? Was denkst du, wie können einzelne Personen Barrierefreiheit einen Schritt voran bringen?

Ich glaube, dass Menschen erst verstehen müssen, warum sie auf einmal Platz machen sollten. Denn es ist natürlich leicht zu sagen „Hey, du musst mir jetzt Platz machen, weil ich muss auch gehört werden“. Dann kann die Person ja sagen: „Ja aber warum denn? Ich hatte immer schon Platz und ich möchte diesen Platz nicht aufgeben oder abgeben.“ Darum braucht man erst einmal Zugang zu Menschen, um ihnen zu zeigen, dass es eben noch andere Lebensrealitäten gibt, die aufgrund der Einnahme dieses Raumes Ausgrenzung erfahren. Ich glaube, dieser erste Schritt ist die allergrößte Hürde. Aber wir müssen uns jeden Tag und immer wieder neu daran erinnern, dass unsere Gesellschaft divers ist. Und das ist Arbeit! Und so lange diese Normvorstellungen nicht neu gedacht werden, werden sie unvollständig sein. Und das finde ich schon ziemlich doof, wenn man das so sagen kann.

Um diesen Raum zu ringen, muss vielleicht auch nicht so versöhnlich sein. Könnte es auch eher fordernd sein?

Das Traurige oder das Anstrengende ist ja, dass die Arbeit der Aufklärung an den Betroffenen selbst hängen bleibt. Und das ist finde ich kacke, solange man nicht eine fette Rechnung am Ende des Monats schreiben kann. Ich sage ganz einfach: Hey guck mal, ihr müsst euch zugänglich machen, weil es einfach das Gesetz fordert. Ihr müsst diese und jene Schritte gehen. Und dann habt ihr schon eine Menge Menschen angesprochen, denen Zugang zu eurem Unternehmen oder zu eurer Organisation bisher verwehrt bleibt. Es ist auch keine Raketenwissenschaft, sich barrierefrei aufzustellen. Das ist es schon lange nicht mehr.

Am 18. Juni 2022 fand der sechste Tag der Offenen Gesellschaft statt. Unter dem Motto ‚Platz machen!‘ diskutieren wir in ganz Deutschland über Willkommenskultur und Barrierefreiheit, über faire Chancen für alle und gerechte Mitsprache. Mehr Informationen auf www.tdog22.de!