Aus dem 10. Teil der was wäre wenn-Reihe:
Was wäre, wenn Demokratie für alle gelten würde?
Manchmal ist es für den Blick in eine wünschenswerte Zukunft hilfreich, zuerst in die Vergangenheit zu sehen – um dadurch die eigene Gegenwart zu verstehen. Das gilt auch für die Demokratie.
Unsere gegenwärtigen Probleme und künftigen Herausforderungen verstehen wir wohl nur, wenn wir uns anschauen, für wen die Demokratie in ihrer “Wiege”, im antiken Athen, nicht galt: für Frauen, Unter-30-Jährige, Sklaven, Zugezogene – das heißt für 90 Prozent der Bevölkerung. Zur Demokratie berechtigte Bürger waren in Athen also lediglich die übrigen 10 Prozent. Die alten weißen Männer.
Wie ist es heute? Wählen dürfen bei uns – bis auf die Unter-16/18-Jährigen und Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft – in der Regel alle. Gewählt werden am Ende aber doch immer noch meist die gleichen. In den Parlamenten und Regierungen, aber auch in den übrigen gesellschaftlichen Machtzentren: Universitätsleitungen, Stiftungsräten, Konzernvorständen, Kulturintendanzen, sind alte, weiße, wohlhabende Männer noch immer überrepräsentiert.
Gibt es dennoch etwas, das wir uns von den alten Athenern abschauen können? Offenbar nicht die Exklusivität und den Partikularismus ihrer geschlossenen demokratischen Gesellschaft. Sehr wohl aber das Prinzip, mit dem in diesem erlesenen Kreis die Macht verteilt wurde, und das Athen bis heute als Urbild der Demokratie gelten lässt: Die politischen Ämter wurden damals nämlich nicht durch Wahlen besetzt, sondern per Los. Denn nur das Los war imstande, eine möglichst gleichberechtigte “Herrschaft aller über alle” zu gewährleisten. Nur wenn es jeden treffen kann – und mit der Zeit auch jeden treffen wird –, somit also jeder Einzelne sein Recht wahrnehmen darf, wie auch seine Pflicht erfüllen muss, über die gemeinsamen Belange mitzubestimmen, kann man wirklich davon sprechen, was das Wort Demokratie verheißt: dass das Volk sich selbst regiert.
Die Mythen der Demokratie
So sahen es jedenfalls die Athener. Aristoteles etwa schrieb: “So gilt es, will ich sagen, für demokratisch, dass die Besetzung der Ämter durch das Los geschieht, und für oligarchisch, dass sie durch Wahl erfolgt.” So sahen es aber auch, als die ersten modernen Demokratien entstanden, noch einige politische Theoretiker. Montesquieu etwa, geboren im Jahr der britischen Glorious Revolution 1689, schrieb wenige Jahrzehnte vor der Amerikanischen und Französischen Revolution beinah dasselbe: “Wahl durch Los entspricht der Natur der Demokratie, Wahl durch Abstimmung der Natur der Aristokratie.” Demnach bestünde also eines der großen Missverständnisse unserer modernen Demokratien darin, sie überhaupt Demokratien zu nennen. Denn die Repräsentation des Volks in den Parlamenten geschieht seit der Gründung des britischen Unterhauses nicht durch Los, sondern durch Abstimmung, die für uns gleichbedeutend mit Wahl geworden ist.
Wie aber konnte es zu dieser Verwirrung kommen? Die französischen Revolutionäre und amerikanischen Gründungsväter, fast alle reiche Großgrundbesitzer, hatten durchaus Bedenken, ob eine echt demokratische Herrschaft aller über alle wirklich stabil bleiben konnte, oder ob nicht etwa eine vermeintliche „Pöbelherrschaft“ ihre eigenen Privilegien gefährden würde. So beließen sie es lieber bei einer Art Demokratie light. Der belgische Historiker David Van Reybrouck formuliert es konsequenterweise so, dass die Amerikanische und die Französische Revolution die Aristokratie nicht etwa durch eine Demokratie ersetzten, sondern lediglich eine erbliche Aristokratie mit einer gewählten Aristokratie vertauschten.
In der Tat lässt sich feststellen, dass unsere angeblich repräsentative parlamentarische Demokratie in Wirklichkeit gar nicht so repräsentativ ist: Der Bundestag ist nämlich nicht etwa voll von Pflegerinnen, Friseuren und Facharbeiterinnen, sondern von Juristen, Beamten und Akademikern. Sind diese Berufsgruppen besser geeignet, unsere Anliegen zu repräsentieren? Wohl kaum.
Die Renaissance des Losverfahrens
Studien haben gezeigt, dass die Entscheidungen des Deutschen Bundestages seit seinem Bestehen überwiegend den wohlhabenderen Deutschen zugute gekommen sind, also zumeist der sozialen Schicht derjenigen, die selbst im Bundestag sitzen, und nicht denjenigen, für die sie eigentlich dort sitzen sollten, nämlich der Gesamtheit der Bevölkerung (und übrigens auch diejenigen, die sie nicht gewählt haben). Unsere repräsentative Demokratie ist also nicht nur nicht wirklich repräsentativ, sie ist auch nicht wirklich eine Demokratie im Sinne einer Herrschaft von allen für alle, sondern sie ist eher die Herrschaft weniger für wenige.
Zum Glück erlebt ein zentrales Element der alten Demokratie gerade eine weltweite Renaissance: das Losverfahren. Mit dazu beigetragen hat der erwähnte David Van Reybrouck, dessen Buch “Gegen Wahlen” (2016) das Thema in Deutschland ins Gespräch brachte. Als das Buch 2013 in Belgien erschien, war in Irland gerade ein großes Modellprojekt gestartet, die Constitutional Convention, bestehend aus 66 ausgelosten Bürger*innen und 33 Politiker*innen, die an 10 Wochenenden, verteilt über mehr als ein Jahr, Vorschläge zu verschiedenen Verfassungsänderungen erarbeiten sollten. Unter anderem stand ein im überwiegend katholischen Irland äußerst kontroverses Thema wie die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe auf dem Programm. Doch wer nun denken mochte, dass das einfache Volk hier gewiss zum konservativen Urteil neigen würde, hatte die Rechnung ohne das gemacht, was man wohl die transformative Kraft einer solchen Bürger*innenversammlung nennen kann.
Da war zum Beispiel Finbarr O‘Brien. Der ehemalige LKW-Fahrer, der inzwischen Briefe austrägt und kurz vor der Rente steht, war als Kind mehrmals von einem Mann missbraucht worden und hielt seitdem alle Schwulen für Vergewaltiger – nicht zuletzt auch deswegen, weil er nie wieder mit Schwulen zu tun hatte. Bis sich im irischen Bürger*innenkonvent der junge Chris neben ihn setzte, ein homosexueller Mann mit lackierten Nägeln und Make-up. Finbarr überwand sich, schüttelte Chris die Hand und redete mit ihm über die Homo-Ehe – dazu war er schließlich hergekommen. Die beiden freundeten sich an. Auf der Bühne hörten sie Betroffene und Experten mit verschiedensten Ansichten zum Thema, von Kindern zweier schwuler Väter bis hin zum katholischen Priester.
Vorbild Irland
Am Ende stimmte Finbarr gemeinsam mit fast 80 Prozent der anderen Teilnehmer*innen, von denen einige ebenso ihre Meinung verändert hatten, für die Einführung der Homo-Ehe. Die irische Regierung veranlasste hierauf ein Referendum und empfahl der Bevölkerung, ebenfalls für die Homo-Ehe abzustimmen. 62 Prozent folgten der Empfehlung und die Verfassung wurde geändert. In Irland finden nun regelmäßig solche Citizens‘ Assemblies, geloste Bürger*innenversammlungen im Auftrag der Regierung, statt, längst auch ohne die Beteiligung von Berufspolitikern. 2016 ging es unter anderem um eine Abschaffung des Abtreibungsverbots und um Maßnahmen gegen den Klimawandel, Ende Januar dieses Jahres begann die nächste Citizens‘ Assembly, dieses Mal zum Thema Gleichheit der Geschlechter.
Doch nicht nur Irland setzt auf Los. Bereits 2010 berieten ausgeloste Bürger*innen in Island über eine neue Verfassung, ihr Vorschlag wurde in einem Referendum von zwei Dritteln der Bevölkerung angenommen – nur das Parlament, das immerhin den Prozess gestartet hatte, weigert sich bislang, die neue Verfassung anzunehmen. Und in Deutschland fand 2019 der erste bundesweit geloste Bürger*innenrat statt, hier allerdings nicht im Auftrag der Regierung, sondern initiiert von der Schöpflin Stiftung und dem Verein Mehr Demokratie, die damit dem Vorhaben der Bundesregierung zuvorkamen, zu diesem Thema eine Expertenkommission einzusetzen. Aber wer wären bessere Experten für Bürgerbeteiligung als eben die Bürgerinnen und Bürger selbst? Immerhin hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble die Schirmherrschaft für den Bürgerrat übernommen und im Herbst die Empfehlung für das Parlament entgegengenommen, geloste Bürgerräte gesetzlich zu verankern.
Die Beispiele zeigen, dass Wahl- und Losverfahren sich nicht ausschließen müssen, sondern vielmehr ergänzen können. Viele gewählte Parlamente und Regierungen erkennen, dass geloste Bürger*innengremien nicht ihre Existenz gefährden, sondern umgekehrt ihren Entscheidungen neue Legitimität und Akzeptanz verleihen können. Gerade bei kontroversen Themen ist die Politik gut beraten, die Bürger*innen sinnvoll miteinzubeziehen. Welches Ergebnis hätte wohl das Brexit-Referendum gehabt, wäre es nicht durch zwei hoch polarisierte politische Kampagnen vorbereitet worden, sondern durch einen gelosten Bürger*innenrat, der eine gemeinschaftliche Lösung angestrebt hätte?
Bürger*innen zutrauen, Politik vertrauen
Geloste Bürger*innengremien haben vor allem zwei große Vorteile gegenüber den gewählten Parlamenten der sogenannten repräsentativen Demokratie. Zum einen sind sie eben tatsächlich repräsentativ, sie bilden die Bevölkerung nach ihrer tatsächlichen Zusammensetzung ab. Denn es wird – aus Daten der Melderegister – “qualifiziert“ gelost, das heißt, die Zufallsauswahl wird nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Herkunft und Bildungsgrad gefiltert, wie es den Verhältnissen in der Gesamtbevölkerung entspricht. Die Teilnehmer*innen bekommen dann selbstverständlich Anfahrt, Kost und Logis sowie eine Aufwandsentschädigung bezahlt. Niemand soll aus finanziellen Gründen nicht teilnehmen. So kommt eine repräsentative „Mini-Öffentlichkeit“ zusammen und nicht nur ein Club von Juristen, dessen Mitglieder sich zum Teil seit Jahrzehnten kennen, und in dem der oftmals vorgefertigte Meinungsaustausch zumeist allenfalls rituellen Charakter besitzt. Im Bürger*innenrat kommt ein Land – oder auch eine Stadt oder Kommune – in Miniaturform tatsächlich mit sich selbst ins Gespräch – und im besten Fall auch aufeinander zu –, abseits vom ritualisierten Gerangel der Parteipolitik, bei dem es zu selten darum geht, aus irgendeiner Einsicht oder aus Gesprächen heraus die eigene Meinung zu überdenken. Genau das aber vermag in einer Zeit der gesellschaftlichen Polarisierung, neues Vertrauen in die politischen Prozesse zu erzeugen.
Ein zweiter Vorteil solcher Bürger*innenparlamente ist die Ausrichtung auf Begegnung, Kommunikation und Verständigung. Denn rührt nicht ein Großteil der besagten Polarisierung schlicht daher, dass diejenigen, deren Ansichten sich scheinbar immerzu unversöhnlich bekämpfen müssen, einander überhaupt nicht mehr wirklich begegnen? Natürlich wäre es naiv, davon auszugehen, dass sich jedes Problem so einfach löst, wie im Fall des irischen Finnbar, der seine Homophobie im Dialog loswurde. Und natürlich brauchen manche Menschen besonderen Schutz vor den Vorurteilen und Diskriminierungen, die ihnen in einer Versammlung entgegentreten können. Damit sich alle Bürger*innen öffnen können, braucht es also Regeln.
Moderierte Schutzräume und Fachwissen
Die moderierten Diskussionen einer Bürger*innenversammlung könen einen privat-öffentlichen Schutzraum bilden, in dem hinter den gegensätzlichen Ansichten die Personen wieder sichtbar werden. Sach- und Beziehungsebene können wieder differenziert zueinander finden, Personen und ihre Ansichten gesondert miteinander in Austausch treten. Die Moderation sorgt außerdem dafür, dass alle gleichermaßen zu Wort kommen, nicht etwa nur die rhetorisch Versiertesten das Gespräch an sich reißen. Die Vorträge von Expert*innen sorgen für einen Ausgleich der unterschiedlichen Wissensstände, die Berichte von Betroffenen überbrücken die Kluft zwischen unterschiedlichen Lebenswelten.
So entsteht im besten Fall eine kommunikative Bürger*innenexpertise, die Menschen unterschiedlichster Herkünfte und Hintergründe dazu befähigen soll, was die ursprüngliche Bedeutung von Demokratie verspricht: die Selbstregierung des Volkes. Natürlich ist das in globalisierten modernen Massengesellschaften komplexer als in einem kleinen antiken Stadtstaat. Deswegen wird es wohl auch weiterhin sinnvoll und notwendig sein, ein gewähltes Parlament und eine Regierung aus Berufspolitiker*innen sowie einen professionellen Verwaltungsapparat zu haben. Und doch würde unsere Demokratie ein großes Stück weiter zu sich kommen, wenn in einer zweiten Kammer des Parlaments nicht nur Volks-„Vertreter“ säßen, sondern das Volk selbst, das dadurch als der eigentliche Souverän der Demokratie nicht nur re-präsentiert wird, sondern sich selbst präsentiert, seine Souveränität verwirklicht und seine Fähigkeit zur Selbstregierung unter Beweis stellt.
Korrektiv für die Berufspolitiker*innen
Das muss nicht unbedingt teurer werden, der Deutsche Bundestag soll in seiner jetzigen Form ohnehin verkleinert werden. Aber auch eventuelle Mehrkosten sollte uns die Rettung und Weiterentwicklung der Demokratie schon wert sein. Beispiele wie das aus Irland zeigen, dass eine solche Gruppe aus zufällig zusammengelosten Bürgern zukunftsfähigere und menschenfreundlichere Entscheidungen treffen, als irgendjemand es vorher für möglich gehalten hätte – und womöglich auch als ein gewähltes, professionelles Parlament sie treffen würde. Der Bürger*innenrat von Mehr Demokratie e.V. soll im laufenden Jahr über Maßnahmen gegen den Klimawandel beraten, und man kann sich schwer vorstellen, dass die Bürger*innen sich mit einem “Klimaschutzpaket” wie dem der Bundesregierung zufrieden geben werden, das selbst konservative Wirtschaftsinstitute nicht für ausreichend gehalten haben.
Es ist an der Zeit, einer echten, erwachsenen Demokratie endlich eine umfassende Gegenwart – und nur dadurch auch eine Zukunft – zu geben. Geloste Bürger*innenräte sind dazu keineswegs das einzige Instrument. Aber sie zielen ins Zentrum der gegenwärtigen Krise unserer Demokratien. Weltweit erkennen bereits viele Institutionen der parlamentarischen Demokratie, dass sie selbst womöglich nur dann überleben werden, wenn sie sich ein Korrektiv schaffen, das sowohl die Repräsentativität der Demokratie garantiert als auch die Selbstverständigung und Selbstregierung der Bürger – sozusagen die Demokratie der Demokratie – ermöglicht. Die Demokratie ist heute so unvollendet wie vermutlich unvollendbar. Eben deswegen müssen wir sie ständig weiter entwickeln. Nur eine Demokratisierung der Demokratie kann auch ihre Zukunft sein.
Autor*in
Tom Wohlfarth ist Journalist, Politik- und Kulturwissenschaftler. Er schreibt u.a. für Zeit Online, taz, der Freitag und auf tom-wohlfarth.de über politische Theorie, Kultur und Gesellschaft. 2015 erschien sein Buch Genie in der Kunst des Lebens. 2014 war er Mitgründer des gemeinnützigen Thinktanks denkzentrum|demokratie.
Was wäre, wenn…
… Demokratie für alle gelten würde?
Im 10. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Demokratie. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alternativen für die Gesellschaft sichtbar zu machen und potenzielle Lösungen ins Zentrum zu rücken.
Jedes Thema wird mit einer was wäre wenn-Frage eröffnet und anschließend in Essays, Interviews und in einem begleitenden Podcast diskutiert. Zum Wesenskern unseres Magazins gehört die Pluralität der Stimmen und Perspektiven. Die Inhalte werden deshalb, neben journalistischen Beiträgen, vor allem von Expert*innen aus Wissenschaften, Praxis und Zivilgesellschaft verfasst.
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