Rund 350 Millionen Menschen aus der Europäischen Union (EU) können vom 6. bis 9. Juni ihre Stimmen abgeben, um ein neues EU-Parlament zu wählen. Die Wahrnehmung der EU ist längst nicht mehr nur positiv. Die Vorteile sind für viele nicht mehr greifbar und schwieriger zu vermitteln. Bei der Wahl droht ein Erstarken rechter Parteien, die das gemeinsame europäische Projekt in Frage stellen und den Rückbezug auf Nationalstaaten propagieren. In dem kurzen Interview schaut unsere Kollegin Barbare Chavleishvili aus ihrer georgischen Perspektive auf die EU und erklärt, was diese für die Menschen auf den aktuellen Demos in Georgien bedeutet.
Wie nimmst du die Stimmung zur EU vor der Wahl wahr?
Es ist ein wiederkehrendes Thema in den Medien, Umfragen und Statistiken: Viele Menschen in der EU erkennen nicht mehr die Bedeutung dieser Institution, sehen sie eher als Ursache für Probleme statt als Quelle von positiven Entwicklungen. Das europäische Projekt ist zu etwas Abstraktem geworden und scheint für viele EU-Bürger*innen seinen Glanz zu verlieren. Dabei wird vergessen, dass viele der Rechte und Freiheiten, die wir in Europa genießen, keineswegs selbstverständlich sind und erst durch die EU ermöglicht wurden. Um sich die Vorzüge der EU bewusst zu machen, lohnt es sich, auf Länder am Rand Europas zu blicken, in denen sich Menschen aktiv dafür einsetzen, Teil dieser Union zu werden.
Ich selbst komme aus Georgien, einem Land, das seit Jahren darum bemüht ist, Teil der europäischen Familie zu werden. Heute ist dieses Ziel das vorherrschende Thema, das jede*n einzelne*n Georgier*in beschäftigt. Seit Wochen füllen Bilder von Tausenden von Menschen, die georgische und EU-Flaggen schwenken, die Nachrichten. Sie stehen und kämpfen vereint in den Straßen für eine europäische Zukunft. “Heute schlägt das Herz Europas in Tiflis” liest man oft in Nachrichten.
Wogegen protestieren die Menschen in Georgien? Was ist die Gefahr?
Der Grund für die Demos ist das Gesetz zu “ausländischer Einflussnahme”, auch “russisches Gesetz” genannt, das die Regierung vorantreibt. Dieses Gesetz verlangt, dass sich Organisationen und Medien, die mindestens 20 Prozent ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhalten, als Organe registrieren, die “Interessen ausländischer Mächte verfolgen” (auch Agenten genannt). Das kann die Arbeit von NGOs beeinträchtigen, die sich für Minderheiten und marginalisierte Gruppen einsetzen. Daneben besteht die Gefahr, dass das Gesetz auch gegen einzelne Personen verwendet wird, indem sie gezwungen werden, Informationen über ihr Privatleben an den Staat weiterzugeben. Dieses Gesetz bedroht die gesamte europäische Zukunft Georgiens, einschließlich unseres Kandidatenstatus für die Mitgliedschaft. Für die georgische Jugend, die in einem freien und demokratischen Georgien aufgewachsen ist, ist die von diesem Gesetz geschaffene Realität unvorstellbar und absolut inakzeptabel. Deshalb protestieren sie und kämpfen für eine Zukunft, die eine offene und vielfältige Gesellschaft ermöglicht und bewahrt. Das Wort “kämpfen” ist hier keine Übertreibung, denn all jene, die an den Demonstrationen teilnehmen, setzen ihre Freiheit und sogar ihr Leben aufs Spiel: Nacht für Nacht werden Demonstrierende von der Polizei angegriffen, festgenommen und bedroht. Doch trotz dieser Gefahren strömen jeden Abend Zehntausende erneut auf die Straßen, um unsere freie, europäische Zukunft zu verteidigen.
Was bedeutet diese freie, europäische Zukunft für dich?
Mit einer freien, demokratischen und europäischen Zukunft meine ich eine vielfältige und offene Gesellschaft, freie Medien ohne Zensur, die Freiheit des Wortes, Meinungsvielfalt, Frieden, ökonomische Stabilität, die Weiterentwicklung der Forschung, die Förderung von Minderheiten und marginalisierten Gruppen, Zusammenarbeit mit anderen Europäischen Ländern, die Garantie der Antidiskriminierung, freie und faire Wahlen, klare Gewaltenteilung, Ausbildungsmöglichkeiten in verschiedenen Ländern und Freizügigkeit.
Es ist wichtig anzuerkennen, dass Europa noch nicht alle diese Aspekte vollständig garantiert. Es bedarf weiterer Anstrengungen, um das volle Potenzial der EU auszuschöpfen. Gleichzeitig müssen wir uns der Gefahr bewusst sein, dass ohne EU in Georgien eine Zukunft droht, in der Menschen daran gehindert werden könnten, an Wahlen teilzunehmen, frei ihre Meinung zu äußern, ihre Sexualität zu leben, die Regierung zu kritisieren und über die Zukunft ihres Landes mitzuentscheiden.
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