Eine offene Gesellschaft ist kein Selbstläufer

Ulrich Lilie: Präsident der Diakonie Deutschland: “Für mich ist der Kampf um eine offene und gerechte Gesellschaft die zentrale gesellschaftliche Auseinandersetzung des 21. Jahrhunderts.”

Ein Beitrag von Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland

Am 18. Juni 2022 heißt es: „Platz machen! Für die offene Gesellschaft“. Bereits zum 6. Mal lädt die Initiative Offene Gesellschaft zu einem Aktionstag ein. Es geht dabei im Kern um nicht weniger als unsere Demokratie. Für mich ist der Kampf um eine offene und gerechte Gesellschaft die zentrale gesellschaftliche Auseinandersetzung des 21. Jahrhunderts. Was wir gerade in Europa erleben müssen ist sogar ein Krieg. Die Ukraine verteidigt sich mit Waffen gegen einen russischen Angriffskrieg, aber die Menschen in der Ukraine kämpfen auch für etwas: Sie verteidigen eine offene, eine demokratische Gesellschaft.

Die Tischgemeinschaft, in der christlichen Theologie ein zentrales Symbol für Versöhnung und Gemeinschaft, stellt kulturübergreifend so etwas wie einen Grundkonsens menschlichen Miteinanders dar.

Die offene Gesellschaft wird an vielen Orten auf der Welt verteidigt. In der Ukraine, Myanmar, Südkorea. Und selbst in Russland gehen mutige Menschen auf die Straße, um zu zeigen: Wir wollen ein anderes Miteinander. Da können wir uns hier in Deutschland entspannt zurücklehnen, oder? Immerhin leben wir ja seit 77 Jahren in einer der stabilsten Demokratien der Welt.


Die neuesten Zahlen von Reporter ohne Grenzen stimmen mich da allerdings nachdenklich: Die Lage der Pressefreiheit in Deutschland hat sich im Jahr 2021 in der Gesamtbewertung verschlechtert. In der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit belegen wir nur noch Rang 16 und setzen damit den im Vorjahr begonnenen Abwärtstrend weiter fort. Ein zentraler Grund: Die Ablehnung der Arbeit unabhängiger Medien durch Teile der Gesellschaft entlud sich 2021 noch häufiger in gewaltsamen Attacken – und das mehrheitlich im Kontext von Protest gegen die Corona-Maßnahmen. Während mit 65 Fällen die Aggressivität bereits im Jahr 2020 hoch war, verzeichnete die Organisation 2021 insgesamt 80 Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten. Die Mehrheit dieser Angriffe (52 Fälle) ereignete sich bei Demonstrationen im „Querdenken”-Milieu. In zwölf Fällen ging die Gewalt von Polizistinnen oder Polizisten aus, zum Beispiel mit Schlagstöcken oder mit dem Strahl eines Wasserwerfers, der gezielt auf als „Presse” gekennzeichnete Personen gerichtet wurde.


Wir sehen, nichts versteht sich von selbst – und auch unsere Demokratie ist verletzlich. Dass wir in einer freien Gesellschaft leben dürfen, ist ein historisches Glück, das wir nicht als Selbstläufer verstehen dürfen. Vor allem aber ist es das Ergebnis beharrlicher Zusammenarbeit der vielen Verschiedenen und Engagierten in unserer Gesellschaft: In Kirchen, Gewerkschaften, Vereinen, Parteien, zivilgesellschaftlichen Initiativen. Deshalb sind wir als Diakonie Gründungsmitglied des Vereins „Initiative Offene Gesellschaft“. Denn die ist eben keine Selbstverständlichkeit: Demokratie funktioniert nicht nach dem Prinzip: erreicht, Haken dran. Demokratie muss immer wieder entwickelt und neu erstritten werden. Andernfalls droht Aushöhlung durch Gleichgültigkeit. Toleranz, Liberalität, Solidarität müssen tagtäglich gelebt und ausgeübt werden – und ohne diese Kennzeichen einer offenen Gesellschaft kann es keine Demokratie geben, keinen Rechtsstaat, keine Freiheit.


Der Rechtsphilosoph und Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde brachte dies mit dem berühmten Diktum auf den Punkt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Es sind also die Bürgerinnen und Bürger selbst, wir alle also, die für ihre Freiheit eintreten und sie sich immer wieder nehmen müssen – der Staat kann sie nicht verordnen, sonst wäre es keine Freiheit mehr.

Aktionstag Tag der Offene Gesellschaft am 18. Juni

Am dritten Samstag im Juni lädt der Verein „Initiative Offene Gesellschaft“ mich und Sie ein, wieder Tische und Stühle raus zu stellen und sich für ein starkes Miteinander vor Ort zu engagieren. Unter dem Motto „Platz machen!“ sind Sie eingeladen diesen Gedanken Raum zu geben und mit Ihren Nachbarn ins Gespräch zu kommen über Willkommenskultur und Barrierefreiheit, über faire Chancen für alle und gerechte Mitsprache. Das mag den einen oder auch die andere zum Lächeln bringen. Wie kann ich die offene Gesellschaft mit einem nachbarschaftlichen Essen verteidigen?


Die Tischgemeinschaft, in der christlichen Theologie ein zentrales Symbol für Versöhnung und Gemeinschaft, stellt kulturübergreifend so etwas wie einen Grundkonsens menschlichen Miteinanders dar. Von der Tischgemeinschaft aus lässt sich eine offene und gerechte Gesellschaftsordnung entwerfen. Die offene Gesellschaft stößt Debatten zur Zukunft der freien Gesellschaften an, steht für Streitkultur und schafft neue Begegnungen und Verbindungen. Es geht nicht um rasche Ergebnisse, sondern um beharrlichen und lebendigen Streit und Austausch, der nicht abgebrochen wird oder in Aggressivität erstarrt, wenn es kontrovers wird. Und zu streiten gibt es wahrhaft genug in diesen Tagen. So wollen wir in Zeiten, in denen antidemokratische und menschenfeindliche Stimmen lauter werden, der großen schweigenden Mehrheit der Demokraten und Demokratinnen Raum geben. Bitte nehmen Sie sich den auch. Ich bin überzeugt: Christen und Christinnen sollten dabei vorkommen, genauso wie Muslime, Juden und andere Menschen mit demokratischem Weltbild. Nein, nicht nur vorkommen: Wir sollten mit unserem Welt- und Menschenbild nach draußen gehen, Tische decken und diese Räume anbieten.


Ich wünsche mir auch in Diakonie und Kirche mehr engagierte Menschen für unser freies, vielfältiges Land. Sind Sie dabei? Mehr Infos zum Aktionstag finden Sie auf der bei der Initiative Offene Gesellschaft .