“Über unseren Körper hinausdenken”

Sie ist eine der Vor­den­ke­rin­nen des Xenofe­mi­nis­mus. War­um Ent­frem­dung nicht schlecht sein muss und Natur längst nicht immer gut ist, erklärt die Phi­lo­so­phin Helen Hester. Das Interview führte Lukas Hermsmeier.
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Aus dem 2. Teil der was wäre wenn-Reihe:

Was wäre, wenn Feminismus nicht mehr nötig wäre?

Unse­re Wirk­lich­keit ist eine zuneh­mend schwin­del­erre­gen­de. Abs­trak­ti­on, Vir­tua­li­tät und Kom­ple­xi­tät sind untrenn­bar in unse­re täg­li­chen Leben ver­wi­ckelt, was einen Femi­nis­mus erfor­dert, der an die­se Rea­li­tä­ten ange­passt ist; ein Femi­nis­mus von nie da gewe­se­ner Geris­sen­heit, Dimen­si­on und Visi­on. Mit die­sen Wor­ten beginnt das Xenofe­mi­nis­ti­sche Mani­fest, 2015 von einem Kol­lek­tiv namens ​„Labo­ria Cubo­niks ver­öf­fent­licht. Die von den Autorin­nen geplan­te Anony­mi­tät hielt nicht lang, dafür kre­ierte das Mani­fest zu viel Inter­es­se. Eine der sechs Frau­en ist die bri­ti­sche Pro­fes­so­rin Helen Hes­ter, die im ver­gan­ge­nen Jahr das Buch ​„Xenofe­mi­nism (Poli­ty Press) auf den Markt brach­te, in dem sie ihre im Mani­fest skiz­zier­ten Gedan­ken aus­führt und wei­ter­ent­wi­ckelt. Im Inter­view spricht sie über die Her­aus­for­de­run­gen einer xenofe­mi­nist­schen Zukunft. 

Lan­ge Zeit herrsch­te das Sili­con-Val­ley-Ver­spre­chen, dass tech­no­lo­gi­scher Fort­schritt zwangs­läu­fig mehr Demo­kra­tie und Gerech­tig­keit bringt. Ich wür­de sagen, dass in den letz­ten Jah­ren eine Dekon­struk­ti­on die­ses Dog­mas statt­ge­fun­den hat. Eine Rea­li­sie­rung dar­über, dass das Inter­net genau­so anti-demo­kra­tisch funk­tio­nie­ren kann, dass Tech-Avant­gar­de und auto­ri­tä­re Poli­tik bis­wei­len wun­der­bar mit­ein­an­der har­mo­nie­ren, sie­he Peter Thiel und Donald Trump. Und dass digi­ta­le Hilfs­ge­rä­te wie Ale­xa von Ama­zon nicht nur hilf­reich sind, son­dern auch mas­si­ve Über­wa­chung bedeu­ten. Genau in die­sem Moment sagen Sie: Lasst uns Tech­no­lo­gie für die femi­nis­ti­sche Sache nut­zen! Kann man Xenofe­mi­nis­mus also als Weck­ruf gegen einen gewis­sen Tech-Kul­tur­pes­si­mis­mus verstehen? 

Helen Hes­ter: Ja, das kann man. Tech­no­lo­gie als Gan­zes wur­de in der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit wie ein meta­phy­si­sches Pro­blem behan­delt. Es gab diver­se und auch berech­tig­te Kri­tik an den Aus­wüch­sen, aber kaum Ver­su­che, Tech­no­lo­gi­en für den eman­zi­pa­to­ri­schen Zweck umzu­nut­zen. Unser Ein­wand begann mit der Erkennt­nis, dass es bereits eine Men­ge wich­ti­ger tech­nofe­mi­nis­ti­scher Schrif­ten gibt, in denen Tech­no­lo­gie als poten­zi­el­les Werk­zeug betrach­tet wird, zum Bei­spiel von Shul­as­mith Fire­stone, Sadie Plant und Don­na Hara­way. Ein wei­te­rer Aus­gangs­punkt war, dass Tech­no­lo­gie immer ein Spek­trum bedeu­tet: Einer­seits sind da die gro­ßen Sys­te­me, Über­wa­chungs­ap­pa­ra­te, künst­li­che Intel­li­genz, Tech­no­lo­gi­en, die vie­len Angst machen. Aber Tech­no­lo­gie meint eben auch Haus­halts­ge­rä­te, All­tags­tech­nik. Ich fin­de ins­be­son­de­re sol­che Do-it-yours­elf-Tech­nik inter­es­sant, des­halb habe ich in mei­nem Buch auch den Del-Em als Bei­spiel genannt. 

Der Del-Em ist ein Gerät, das in den 70er Jah­ren ent­wi­ckelt wur­de. Es ermög­licht Schwan­ge­ren, Abtrei­bun­gen selbst durch­zu­füh­ren, indem sie ihre Gebär­müt­ter durch Absau­gen ent­lee­ren. In Län­dern, in denen Schwan­ger­schafts­ab­brü­che ille­gal waren oder immer noch sind, kann das die ein­zi­ge Chan­ce auf eine Abtrei­bung sein. 

Und genau dar­in liegt das xenofe­mi­nis­ti­sche Poten­zi­al. Der Del-Em tauch­te zu einer Zeit auf, als die Leu­te nicht mal schnell auf Goog­le oder in Sub-Red­dits alle nöti­gen Infor­ma­tio­nen sam­meln konn­ten. Die Leu­te, die damals zur femi­nis­ti­schen Gesund­heits­be­we­gung gehör­ten, muss­ten so tun, als wären sie Medi­zin­stu­den­tin­nen, um in bestimm­te Biblio­the­ken zu gelan­gen. Es war ein Ver­such, die Gesund­heit der Frau­en in die Hän­de der Frau­en zu geben, wie einer der Slo­gans zu die­ser Zeit hieß. Gera­de, weil der Zugang zu Abtrei­bun­gen in den USA so begrenzt war und immer noch ist, ist der Zugang zu Wis­sen umso wich­ti­ger. Der Del-Em bedeu­te­te Auto­no­mie, eine eman­zi­pa­to­ri­sche Beschlag­nah­mung von Technologie.

Soli­da­ri­tät braucht Abstraktion

Spre­chen wir über den Begriff Xenofe­mi­nis­mus. Xeno, aus dem Grie­chi­schen, heißt fremd. Da wer­den min­des­tens die Lin­ken hell­hö­rig, die den Begriff Ent­frem­dung mit Karl Marx asso­zi­ie­ren. Marx beschrieb, wie sich die Arbeiter*innen im Kapi­ta­lis­mus erst von der Arbeit und dann von sich selbst ent­frem­den. Pas­sen Marx’ Kri­tik und xenofe­mi­nis­ti­sche Zie­le zusammen?

Nach Marx ver­lie­ren die Arbei­ter Kon­trol­le über den Arbeits­pro­zess, und zwar durch tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen und ver­än­der­te Arbeits­or­ga­ni­sa­ti­on. Ange­sichts die­ser Denk­tra­di­ti­on ver­ste­he ich natür­lich, dass es Ver­wir­rung und Wider­stre­ben gibt, tech­no­lo­gi­sche Ent­frem­dung zu begrü­ßen. Aber ich glau­be, dass es wich­tig ist, zu ver­ste­hen, dass Ent­frem­dung ein viel­schich­ti­ges Kon­zept ist. Um die­se unter­schied­li­chen Bedeu­tun­gen geht es im xenofe­mi­nis­ti­schen Mani­fest. Wir sind von Tech­no­lo­gie umge­ben, Smart­pho­nes, Ver­hü­tungs­tech­ni­ken, sons­ti­ge Gerä­te, deren Funk­ti­ons­wei­ses wir oft nicht genau ver­ste­hen. Und die­se tech­no­lo­gi­sche Ent­frem­dung muss kei­ne Nie­der­la­ge bedeu­ten, sie kann ein Start­punkt sein. Man kann zum Bei­spiel ler­nen zu coden. Wobei das Zeit kos­tet. Und Zeit ist eine ungleich ver­teil­te Res­sour­ce. Ein wei­te­rer Zugang zu dem The­ma ist die Ent­frem­dung von der Hyper­lo­ka­li­tät unse­rer eige­nen Sin­ne. Allei­ne durch eine gewis­se Ent­frem­dung sind wir ja in der Lage, über unse­ren eige­nen Kör­per hin­aus zu den­ken. Wir Men­schen sind fähig zur Abs­trak­ti­on. Und die­se Abs­trak­ti­on wie­der­um ist ent­schei­dend für kol­lek­ti­ve Poli­tik, für alle Ver­su­che, Soli­da­ri­tät aufzubauen. 

Sie erwähn­ten eben die tech­nofe­mi­nis­ti­schen Vor­den­ke­rin­nen. Shul­a­mith Fire­stone sprach schon in den 70er Jah­ren von künst­li­chen Gebär­müt­tern, Frau­en soll­ten so von der ​„Tyran­nei der Fort­pflan­zung“ befreit wer­den. Die Idee ver­fol­gen Sie aber in Ihrem Buch nicht. 

Es ist sicher­lich ein sehr inter­es­san­tes Werk­zeug, um den Zusam­men­hang von bio­lo­gi­scher Repro­duk­ti­on, kul­tu­rel­ler Repro­duk­ti­on und Geschlech­ter­de­pres­si­on zu durch­den­ken. Und unter den rich­ti­gen Bedin­gun­gen könn­ten künst­li­che Gebär­müt­ter eine Befrei­ung bedeu­ten. Ich glau­be aller­dings, dass wir von die­sen Bedin­gun­gen der­zeit so weit ent­fernt sind, dass es nicht hilf­reich ist, über Ekto­ge­ne­se nach­zu­den­ken. Man lan­det bei dem Gedan­ken dar­an ja sofort bei einer Horrorshow. 

In Ihrem Buch zitie­ren Sie eine Rei­he xenofe­mi­nis­ti­scher Ansät­ze. Gyne­Punk zum Bei­spiel, ein Kol­lek­tiv, das gynä­ko­lo­gi­sche Gerä­te über 3D-Dru­cker her­stellt. Wie sieht es mit Pfle­ge-Robo­tern aus? 

Bei Pfle­ge-Robo­tern denkt man ja sofort an so men­schen­ähn­li­che Maschi­nen, die dei­nem Groß­va­ter Gesell­schaft leis­ten. Ich glau­be aber, dass die bedeut­sa­me­ren Ent­wick­lun­gen weni­ger foto­gen sein wer­den. Admi­nis­tra­ti­ve Tech­no­lo­gi­en zum Bei­spiel, die den Pfle­ge­kräf­ten Arbeit abneh­men und es ihnen ermög­li­chen, sich ihren Pati­en­ten zu wid­men. Pfle­ge­kräf­te haben oft kei­ne Zeit, sich wirk­lich zu küm­mern, weil sie von Effi­zi­enz und Pro­duk­ti­vi­tät getrie­ben werden. 

„Tech­no­lo­gie ist nie­mals neutral“

„Wir müs­sen sowohl Inge­nieu­re als auch Hacker sein“, schrei­ben Sie. Und zitie­ren die Akti­vis­tin Emi Koya­ma, die sagt, dass Kör­per zu einem Schlacht­feld gewor­den sei­en. Es klingt, als wäre es ein schma­ler Grat zwi­schen Bedro­hung und Befreiung. 

Nie­mand will, dass kul­tu­rel­le Schlach­ten über dem eige­nen Kör­per aus­ge­tra­gen wer­den. Ent­schei­dend ist und bleibt die Auto­no­mie des Indi­vi­du­ums. Ins­be­son­de­re Kon­trol­le über den Repro­duk­ti­ons­pro­zess. Und die­se Auto­no­mie ist, aus xenofe­mi­nis­ti­scher Per­spek­ti­ve, von gemein­schaft­li­cher Poli­tik abhän­gig. Es geht dar­um, die ideo­lo­gi­schen Infra­struk­tu­ren abzu­bau­en, die Selbst­be­stim­mung erschwe­ren. Wer expe­ri­men­tie­ren möch­te, soll es dür­fen. Wir sug­ge­rie­ren nicht, dass jetzt jeder trans wer­den soll. Das Recht, ein Kind in Sicher­heit zu bekom­men ist so wich­tig wie das Recht, kein Kind zu bekom­men, nicht den gesell­schaft­li­chen Druck zu ver­spü­ren, sich fort­zu­pflan­zen. Wir wol­len kei­ne neu­en Nor­men schaf­fen. Wie sicher sind die Umstän­de, in denen man ein Kind bekommt? Wie wahr­schein­lich ist es, dass dein Kind Opfer von Poli­zei­ge­walt wird oder im Gefäng­nis lan­det? Gibt es sta­bi­le Wohn­ver­hält­nis­se? All die­se Fra­gen gehö­ren zum Xenofeminismus. 

Sie erwäh­nen in Ihrem Buch meh­re­re Fal­len, in die der Xenofe­mi­nis­mus nicht tre­ten dür­fe. Eine Gefahr ist die, dass nur Men­schen mit viel Geld Zugang zu bestimm­ter Tech­no­lo­gie haben, Xenofe­mi­nis­mus also ein eli­tä­res Pro­jekt wird. Wie kann das ver­hin­dert werden? 

Ent­schei­dend ist, wie immer im Kapi­ta­lis­mus, dass man sich auf Eigen­tums­fra­gen kon­zen­triert. Wer besitzt die Tech­no­lo­gi­en? Wie kann es gelin­gen, dass Com­mu­nities über die Infra­struk­tu­ren bestim­men, damit dabei öffent­li­cher Luxus und nicht Pri­vat­pro­fit ent­steht? Es ist wesent­lich, in Kol­lek­ti­ven zu den­ken. Und fest­zu­stel­len, dass Tech­no­lo­gie nie­mals neu­tral ist. Tech­no­lo­gi­en ent­ste­hen nicht ein­fach so. Sie haben zuge­dach­ten Nut­zen. Aber, und die­se Idee zieht sich durch mein gan­zes Buch, es gibt auch immer ein Poten­ti­al der Umnut­zung. Anstatt etwas direkt zu ver­wer­fen, weil es Pro­ble­me in sich trägt, schau­en wir lie­ber, wie wir es zu neu­em Zweck umnut­zen können.

Die Bedürf­nis­se der Lebenden

Wesent­lich für den Xenofe­mi­nis­mus ist das Kon­zept des Anti-Natu­ra­lis­mus. Sie schrei­ben, dass ​„nichts so hei­lig ist, dass es nicht tech­nisch umge­stal­tet und ver­än­dert wer­den könnte.“

Die gesell­schaft­li­chen Vor­stel­lun­gen davon, was ​„Natur“ und ​„natür­lich“ ist, sind oft limi­tiert. Ein sehr offen­sicht­li­ches Bei­spiel ist das The­ma Gen­der. Vie­le Leu­te bestehen dar­auf, dass es nur zwei Geschlech­ter gibt und emp­feh­len den Kri­ti­kern die­ses star­ren Kon­zepts dann, Bio­lo­gie­un­ter­richt zu neh­men. Aber es sind ja gera­de vie­le Bio­lo­gin­nen und Bio­lo­gen, die auf das mas­si­ve Gen­der­spek­trum hin­wei­sen. Dazu kommt, dass nur weil etwas ​„natür­lich“ ist, es weder unver­än­der­bar noch essen­ti­ell gut ist. Sonst hät­ten wir ja auch nicht Imp­fun­gen oder Anäs­the­ti­ka erfunden. 

Wenn es um die Ret­tung der Natur geht, wird gesell­schaft­lich oft das Bild des Kin­des bemüht. Eine Par­odie davon fin­det man in der Zei­chen­trick­se­rie Simp­sons, dort gibt es eine Figur namens Helen Love­joy, die Frau des Pas­tors, eine hoch­mo­ra­li­sche und kon­ser­va­ti­ve Frau, die berühmt dafür ist, zu rufen: ​„Kann denn nicht wenigs­tens einer an die Kin­der den­ken?“ Die­se Idee, dass das Kind Zen­trum unse­rer Zukunft ist, wird in Ihrem Buch kritisiert. 

Weil die­se Idee zu einer Kul­tur bei­trägt, in der die Bedürf­nis­se tat­säch­lich exis­tie­ren­der Men­schen den Bedürf­nis­sen Nicht­ge­bo­re­ner unter­ge­ord­net wer­den. Wenn von ​„den Kin­dern“ gere­det wird, sind aller­meist ​„unse­re Kin­der“ gemeint. Der Wahr­schein­lich­keit nach also Ver­tre­ter bür­ger­li­cher, wei­ßer, hete­ro­nor­ma­ti­ver Struk­tu­ren und Inter­es­sen. Kin­der wer­den zu Trä­gern einer Zukunft, die sich von der Gegen­wart kaum unter­schei­det. Die­ser Ansatz ist exklu­die­rend, kon­tra­pro­duk­tiv und steht einer Xeno-Zukunft feind­lich gegenüber. 


Autor*in

Helen Hes­ter ist Pro­fes­so­rin für Medi­en- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­ty of West Lon­don. Sie ist Mit­glied des inter­na­tio­na­len femi­nis­ti­schen Kol­lek­tivs ​„Labo­ria Cubo­niks“. Ihr Buch ​„Xenofe­mi­nism“ soll noch in die­sem Jahr ins Deut­sche über­setzt wer­den (Mer­ve Verlag). 

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… Feminismus nicht mehr nötig wäre?

Im 2. Teil unserer was wäre wenn-Reihe sprechen wir über Feminismus. was wäre wenn ist das Online-Magazin der Initiative Offene Gesellschaft für konkrete Utopien. Unser Ziel ist es, Alter­na­ti­ven für die Gesellschaft sicht­bar zu machen und poten­zi­el­le Lösun­gen ins Zen­trum zu rücken.

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